Pflanzenrevolution. Stefano Mancuso

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Pflanzenrevolution - Stefano Mancuso


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noch groß passieren? Die Blättchen hatten sich wie vorhergesehen sofort geschlossen – und nun? Was wollte sein Professor bloß mit dem Versuch? Heute war offenbar nicht der richtige Tag für bahnbrechende Ergebnisse. Doch als der Student so dasaß, passierte plötzlich etwas Unerwartetes. Obwohl die Kutsche unvermindert und ohne Unterlass vibrierte, öffneten erst eine, dann zwei, dann fünf und schließlich alle Pflanzen ihre Blättchen. Was war denn jetzt los? Der unbekannte Student hatte eine geniale Eingebung und schrieb in sein Notizbuch: Die Pflänzchen haben sich an das Ruckeln gewöhnt.

      Der Versuch auf den Straßen von Paris war der Botanischen Gesellschaft immerhin eine Notiz wert, und Lamarck und Augustin-Pyramus de Candolle (1778–1841) einen kurzen Bericht in ihrem Werk Flore française. Doch wie viele andere geniale Entdeckungen gerieten auch diese Versuchsergebnisse bald in Vergessenheit. Dabei war Desfontaines’ Text ziemlich eindeutig und implizierte ganz klar ein Anpassungsverhalten, das ein Speichern von Informationen, also Gedächtnis voraussetzte. Denn wie hätten sich die Mimosen an das Rütteln der Kutsche gewöhnen können, wenn sie kein Erinnerungsvermögen besaßen? Allerdings fehlte für diese interessante Annahme lange jeder wissenschaftliche Beleg.

      Doch im Mai 2013 kam Monica Gagliano von der University of Western Australia in Perth für sechs Monate ans LINV (Laboratorio internazionale di neurobiologia vegetale), das von mir geleitete Internationale Institut für Pflanzenneurobiologie an der Universität Florenz. Die Meeresbiologin war vielseitig interessiert, an der Philosophie ebenso wie an der Evolutionsgeschichte der Pflanzen. Mit diesem Forschungsaufenthalt wollte sie vor allem ihre Botanikkenntnisse vertiefen, und ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem Verhalten der Pflanzen. Wir unterhielten uns natürlich ausgiebig über unsere Forschungsgebiete, und irgendwann entwickelten wir einige gemeinsame Versuche, die sich einerseits vor ihrer Universität rechtfertigen ließen und uns andererseits Antworten auf die brennendsten Fragen aus unseren Gesprächen geben sollten. Mir schien eine Frage von besonderer Bedeutung: Besitzen Pflanzen wirklich ein Gedächtnis? Obwohl man ihnen schon länger ein hervorragendes Erinnerungsvermögen zuschrieb, gab es dafür noch keinen wissenschaftlichen Beweis. Ich wollte das pflanzliche Gedächtnis endlich experimentell belegen. Nachdem wir uns also auf das Thema geeinigt hatten, blieb uns noch der schwierigste Teil der Aufgabe: Wie sollten wir beweisen, dass Pflanzen auf wiederholte Reize zunehmend besser reagieren, weil sie über eine spezielle Form von Gedächtnis verfügen?

      Als ich wenige Monate zuvor den japanischen LINVSitz in Kitakyūshū besucht hatte, hatte mir der Leiter, mein Freund und Kollege Tomonori Kawano, mit berechtigtem Stolz einige Bücher gezeigt, die die Pariser Sorbonne mit Tausenden anderen einstampfen lassen wollte. Es war ihm in zähen Verhandlungen gelungen, die Bücher zu retten und nach Japan zu bringen. Unter den zahlreichen Schätzen befand sich auch eine Originalausgabe der Flore française von Lamarck und de Candolle – und darin der Bericht über Desfontaines und wie er Mimosenpflänzchen durch Paris kutschieren ließ. Wir hatten uns beim Lesen köstlich amüsiert – Tomonori hatte Desfontaines’ Studenten als japanischen Musterschüler bezeichnet –, und nun fiel mir die Geschichte wieder ein. Ich erzählte Monica davon, und wir fragten uns, ob wir den Klassiker nicht einfach mit heutigen wissenschaftlichen Methoden wiederholen sollten. Und tatsächlich konnten wir schon wenige Tage später einen aktuellen Bericht über den «Versuch von Lamarck und Desfontaines», wie wir die Experimente spontan nannten, verschicken.

      Im Jahr 2013 konnte man sich nicht mehr einfach mit Pflanzen in eine Kutsche setzen, aber Lamarcks Reizwiederholung griffen wir gern auf. Wir wollten beweisen, dass Mimosenpflänzchen erstens einen Reiz nach einer gewissen Anzahl von Wiederholungen als ungefährlich einstufen und ihre Blättchen nicht mehr schließen, und dass sie zweitens, nach entsprechender Vorbereitung, zwischen bekanntem und unbekanntem Reiz unterscheiden können und demgemäß reagieren. Anders gesagt, wir wollten herausfinden, ob sich die Pflänzchen an bekannte, ungefährliche Reize erinnern und diese von neuen, potenziell gefährlichen Reizen unterscheiden können.

      Eine einfache, aber wirksame Anordnung für unseren Versuch «Lamarck und Desfontaines» war schnell gefunden. Wir ließen Mimosentöpfe in einer speziellen Versuchseinrichtung mehrfach zehn Zentimeter tief fallen. Der präzis quantifizierbare Sturz stellte also den Reiz dar. Unser Versuchsergebnis ließ keine Wünsche offen; Desfontaines’ Beobachtungen stimmten haargenau: Nach sieben oder acht Wiederholungen schlossen sich die Blättchen nicht mehr, und jede weitere Wiederholung wurde souverän ignoriert. Nun mussten wir allerdings noch herausfinden, ob es sich bloß um eine Ermüdungserscheinung handelte oder ob die Mimosen wirklich erkannt hatten, dass der Reiz ungefährlich war. Wir mussten sie also einem neuen Reiz aussetzen. Dazu stellten wir die Töpfe in einen Apparat, in dem sie horizontal geschüttelt wurden. Und siehe da: Bei diesem neuen, ebenfalls exakt quantifizierbaren Reiz schlossen sich die Blättchen sofort. Ein fantastisches Ergebnis. Mit dem Versuch «Lamarck und Desfontaines» hatten wir bewiesen, dass Pflanzen einen Reiz durch Lernen als ungefährlich einstufen und diesen von anderen, potenziell gefährlichen Reizen unterscheiden können. Und dafür mussten sie sich an Erlebtes erinnern.

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      Die Mimose kann lernen, dass ein Reiz, wie ein kurzer Fall im Topf, ungefährlich ist, und schließt ihre Blätter dann nicht mehr.

      Doch wie lange erinnerten sie sich daran? Um diese Frage zu beantworten, ließen wir mehrere Hundert Mimosen, die gelernt hatten, zwischen den beiden Reizen zu unterscheiden, eine Weile ungestört und überprüften anschließend in immer längeren Abständen, ob sie sich noch daran erinnerten. Das Ergebnis übertraf alle unsere Erwartungen: Sie erinnerten sich noch nach mehr als vierzig Tagen daran, also erheblich länger als viele Insekten und ungefähr genauso lange wie manche höheren Tiere.

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      Die DNA-Methylierung ist die häufigste epigenetische Modifikation.

      Bis heute bleibt es allerdings ein Rätsel, wie sich Lebewesen, die kein Gehirn besitzen, an etwas erinnern können. Zahlreiche Forschungsarbeiten, vor allem auf dem Gebiet des Stressgedächtnisses, deuten darauf hin, dass die Epigenetik einiges zu einer Erklärung beitragen könnte. Die Epigenetik beschäftigt sich mit vererbbaren Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz beruhen. Mit anderen Worten: Die Veränderungen betreffen die Genexpression, nicht aber die Gensequenz. Hierzu gehören etwa die Modifikation von Histonen – Proteinen zur DNA-Organisation – oder die Methylierung, bei der sich eine Methyl-CH3-Gruppe an eine stickstoffhaltige DNA-Base bindet.

      Schon vor einiger Zeit musste man verblüfft feststellen, dass die nicht codierende Zell-DNA, die man lange als «genetischen Müll» bezeichnet hatte, offenbar wichtige Aufgaben erfüllte. Wie man heute weiß, ist sie beispielsweise für die Produktion von RNA-Molekülen zuständig, die bei der Embryoentwicklung, den Gehirnfunktionen und anderen entscheidenden Punkten eine Schlüsselrolle spielen. Wie so oft in der Biologie, verdanken wir auch hier viele Forschungsfortschritte den Pflanzen – und in letzter Zeit vor allem den Anstrengungen, das Geheimnis des Pflanzengedächtnisses zu lüften. Um nur ein Beispiel zu nennen: Woher wissen Pflanzen überhaupt, wann genau sie blühen müssen? Dass sich Pflanzen seit Jahrtausenden erfolgreich vermehren und fortpflanzen können, liegt ja hauptsächlich daran, dass sich ihre Blüten genau im richtigen Moment öffnen. Nach Ende der Winterkälte warten viele Pflanzen eine bestimmte Anzahl an Tagen ab, ehe sie blühen. Sie müssen sich also daran erinnern, wie viel Zeit verstrichen ist.

      Dass es sich dabei um ein epigenetisches Gedächtnis handelt, bezweifelt niemand mehr, doch wie dieses tatsächlich funktioniert, war bis vor Kurzem noch ein Rätsel. Erst in der Septemberausgabe 2016 der Zeitschrift «Cell Reports» sollte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Karissa Sanbonmatsu am Los Alamos National Laboratory ihre Forschungsergebnisse zu einer bestimmten RNA-Sequenz veröffentlichen: Demnach beurteilt eine COOLAIR genannte Sequenz, wie viel Zeit seit der Winterkälte vergangen ist, und steuert so die Frühlingsblüte. Wenn das RNA-Stück inaktiv ist oder entfernt wird, blühen die Pflanzen nicht mehr. Doch uns geht es hier ja nicht um die komplexe Dynamik von COOLAIR – im Grunde der Repressor eines Repressors der Blüte. Uns interessiert hier vor allem, dass solche Mechanismen


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