Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
Читать онлайн книгу.Theorie ist in der ödipalen Situation als einem ersten »Höhepunkt« in den frühen Entwicklungsphasen des (männlichen) Kindes, wo es seine Mutter begehrt und seinen Vater als Gegner ansieht, verkörpert. Die Kastrationsdrohung zwingt das Kind jedoch, seine Einstellung aufzugeben; es verläßt den ödipalen Komplex, verdrängt ihn und »im normalsten Fall« zerstört ihn gar gründlich, um »als sein Erbe ein strenges Über-Ich« einzusetzen.40 Diese schicksalsträchtige Entwicklung hat zwei zentrale Aspekte: Einerseits stellt sich in ihr der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip dar; andererseits erwächst aus diesem Übergang selbst eine zusätzliche Schicht im System der menschlichen Psyche. Dieses System läßt sich sodann in folgender komprimierten Form beschreiben: Es besteht aus einem primitiven Es, aus dem sich das Ich abteilt. Jener Bereich im Es, »der mit den Normen des Ichs unvereinbar ist«, bildet den verdrängten Teil der Persönlichkeitsstruktur, wohingegen sich ein anderer Teil des Ichs zum gesonderten Über-Ich entwickelt41, dem die Funktion des Gewissens beigegeben ist, also die, welche »die Handlungen und Absichten des Ichs zu überwachen und zu beurteilen hat,« und somit »eine zensorische Tätigkeit ausübt«.42 Mit anderen Worten: Wenn sich das Über-Ich als Vertreter der moralischen Forderungen definieren läßt, so vertritt das Ich »Vernunft und Besonnenheit«, das Es hingegen »die ungezähmten Leidenschaften«.43
Es stellt sich also heraus, daß sich der Lebensraum der Gegensätze im Menschen selbst befindet: Ein animalischer, vorkultureller, gewissermaßen überzeitlicher Teil – jenes chaotische Es, das, vom Lustprinzip angetrieben, die permanente Befriedigung erstrebt – lebt und strömt in ihm; er wird jedoch unentwegt von einem leidvoll gequälten Ich aufgehalten, das widerum durch die objektive Realität der Außenwelt einerseits und durch einen grausam gestrengen Richter in der Gestalt des ihn mit scharfen Ge- und Verboten überschüttenden Über-Ichs andererseits in die Schranken gewiesen wird. Dem Ich wird also die vermittelnde Funktion zugeschrieben, »die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken«.44 Die gewaltige Anstrengung und die große Schwierigkeit, die sich mit der Erfüllung dieser Funktion verbinden, machen es klar, was Freud meint, wenn er vom »Unbehagen« des Menschen an der Kultur spricht, und was Marcuse dazu bewegt, die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip als »das große traumatische Ereignis« der sowohl phylogenetischen als auch ontogenetischen menschlichen Entwicklung anzusehen.45 Denn: Freud analogisiert die psychische Ambivalenz, welche die Grundlage für das Verbrechen am Urvater gebildet hatte, mit der, die das Kind in der Phase des ödipalen Konflikts beherrscht; und ähnlich wie die prähistorischen Söhne im Laufe der Zeit durch Verdrängung der Gewalttat einerseits und durch Idealisierung des Vaters bis hin zur seiner Erhöhung zum Gott andererseits reagierten, so verdrängt auch das Kind, nachdem es mit seiner eigenen realen Ohnmacht konfrontiert worden ist, das ödipale Ereignis in den Abgrund seines Unterbewußtseins und »sühnt« die seinem Vater gegenüber empfundene Aggression mit der Bildung jenes Über-Ichs, das dann zunehmend anschwillt, bis es sich zum kompromißlosen psychischen Hemm-Mechanismus ausbildet; die ursprünglich gegen den Vater gerichtete Aggression kehrt in einem Introjektionsprozeß zum Ich zurück, indem sich das sie nunmehr beherrschende Gewissen gegen das Ich richtet. In dieser Weise wird dem Vater ein machtvolles Monument im Über-Ich errichtet, genauso wie am Ende des Prozesses, der zur Schaffung der Religion geführt hatte, der Urvater zum Gott erhöht wurde.
Es sei betont, daß Freud die Existenz des Schuldbewußtseins keineswegs mit der realen Vollführung des Verbrechens gegen den Vater in Verbindung bringt:
»Es ist wirklich nicht entscheidend, ob man den Vater getötet oder sich der Tat enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen schuldig finden, denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb. Dieser Konflikt wird angefacht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird; solange diese Gemeinschaft nur die Form der Familie kennt, muß er sich im Ödipuskomplex äußern, das Gewissen einsetzen, das erste Schuldgefühl schaffen. Wenn eine Erweiterung dieser Gemeinschaft versucht wird, wird derselbe Konflikt in Formen, die von der Vergangenheit abhängig sind, fortgesetzt, verstärkt und hat eine weitere Steigerung des Schuldgefühls zur Folge.«46
Der psychischen Realität wird somit eine Macht zugesprochen, die in ihrem den Menschen antreibenden Einfluß nicht geringer zu schätzen ist als die der objektiven Realität; dennoch ist diese psychische Prädisposition nicht im Nichts entstanden: »Im Anfang war die Tat«, postuliert Freud in dem seine Schrift »Totem und Tabu« abschließenden Satz.47
Dies ist ein für unser Anliegen überaus bedeutsamer Punkt. Er impliziert, »daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z.B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann.«48 Es ist wohl kein Zufall, daß Freud zur Illustration dieser Erklärung die Analogie der Arbeit des Historikers heranzieht; denn es läßt sich behaupten, daß sich nicht nur in der individuellen Biographie, sondern auch in der kollektiven Geschichte das mental und kulturell Gewordene »erhält«. Das eindrucksvolle Beispiel einer solchen Konservierung haben wir mit der Beschreibung der in der phylogenetischen Theorie aufgeführten Entwicklung der religiösen Institution gegeben, in welcher sich die immer wiederkehrende Reproduktion eines mentalen Patterns, dessen Ursprung in jener verbrecherischen Tat aus weit zurückliegender, längst verdrängter Vergangenheit zu sehen ist, wie ein roter Faden durchzieht. Die Tatsache, daß unser kollektives Gedächtnis nur bestimmte Teile der Vergangenheit erinnert, besagt nicht, daß die unbewußten Teile sich nicht auf unser mentales Verhalten in der Gegenwart indirekt auswirken; ihre Verdrängung in die Sphäre des Unbewußten (wenn man will: des unbewußten Gedächtnisses) beeinträchtigt nicht ihren symptomatisch auszumachenden Einfluß auf die Auseinandersetzung des Menschen mit den zivilisatorischen Einrichtungen und Prozessen, an denen er teilhat. Nietzsche hat den diesem Verdrängungspattern innewohnenden Mechanismus treffend formuliert: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«49 Langfristig hilft indes das Nachgeben des Gedächtnisses nicht sehr viel. Das Verdrängte pocht auf sein Recht zur Wiederkehr, und es vollzieht sie durch die Hintertür, heimlich und mit socher Raffinesse, daß seine ursprüngliche Gestalt kaum noch erkennbar ist, und schon gar nicht der infantile Anteil – der frühe Ambivalenzkonflikt – in ihr.
Hierin manifestiert sich die pessimistische und bedrohliche Aussage der Freudschen Lehre. Dies ist der den Menschen in seiner Konfrontation mit der fortschreitenden Zivilisation umschließende, deterministische Teufelskreis; in ihm wird die paradoxe Bedeutung dessen, was man »die infantile Kultur« genannt hat50, deutlich sichtbar. Dies ist aber auch, vielleicht mehr als alles andere, die Grundlage für eine in dieser Lehre enthaltene emanzipatorische Verheißung. Die tiefe Einsicht Freuds in die Kultursituation des Menschen gestattet es ihm nicht, sich dem illusionären Begriff eines freien Willens hinzugeben. Er weiß, daß man um die Befreiung des Willens kämpfen muß, und daß dieser Kampf mit Qualen und Leid verbunden ist: Die biologische Dimension der Entwicklung, die objektive Abhängigkeit von den Eltern und die reale Ohnmacht unterliegen nicht der Beherrschung durch das Kind. Der ödipale Konflikt kann ihm nicht erspart werden. Es ist zur Ambivalenz und zum Schuldbewußtsein sozusagen verurteilt. Der Triebverzicht bedeutet die Überführung der nicht befriedigten aggressiven Regungen ins Über-Ich, das sie seinerseits gegen das Ich richtet. »Die Aggression des Gewissens konserviert die Aggression der Autorität«.51 Von hieraus begreift sich also das emanzipierende Ziel der Psychoanalyse: Ihre Absicht ist, »das Ich zu stärken, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.«52
Die Erweiterung des Bewußtseins wird so zum befreienden Akt, der sich vor allem in der Auflehnung gegen die Autorität niederschlägt. Der »Vatermord«, in seiner Bedeutung als Loslösung und Abschiednahme von der Anhänglichkeit an die Autorität und der Abhängigkeit von ihrer kontrollierenden Bevormundung, erweist sich also als unumgängliche »Station« auf dem Emanzipationsweg des Ichs, auf dem Weg der Werdung eines mündigen Subjekts, das die Verantwortung für das eigene Schicksal bewußt übernimmt. Demselben verdrängten Urereignis mit den