Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann

Читать онлайн книгу.

Das Trauma des


Скачать книгу
Repräsentanten der Nation und könnt auch nichts anderes sein. Ihr habt kein Urteil für oder gegen einen Menschen zu fällen, sondern eine Maßnahme im Interesse der Öffentlichkeit zu ergreifen und einen Akt auszuführen, der für das Schicksal der Nation bedeutungsvoll ist.«81 Im Naturzustand gibt es kein Gewissen und keine herkömmliche Moral, sondern ein natürliches Recht zur Auflehnung; ein solcher Zustand ermöglicht auch die Verwendung mythischer Bilder, um die Gestalt des Vaters zu eliminieren und die Erinnerung an ihn auszumerzen: »Die Völker richten nicht auf die gleiche Weise wie die Gerichtshöfe; sie fällen keine Urteile, sondern sie schleudern Blitze; sie verurteilen die Könige nicht, sondern werfen sie ins Nichts zurück«.82 Robespierre weiß aber auch, daß sich das Problem vor allem in den Revolutionären selbst befindet; er wendet sich daher an die Girondisten: »Man sagt, es handele sich um einen Fall von größter Bedeutung und man müsse mit Weisheit und bedächtiger Umsicht urteilen. Aber ihr allein seid es, die einen großen Fall daraus machen. […] Ihr macht einen großen Fall daraus, aber was findet ihr daran eigentlich so groß? […] Was ist das Motiv dieser ewigen Verzögerungen, die ihr uns anempfehlt?« Er beantwortet die Frage selber, indem er den Spieß umdreht und jene Argumentationslinie gebraucht, die er späterhin heranziehen wird, um sich dann allerdings der Volksbefragung zu widersetzen: »[…] als ob das Volk eine gemeine Herde von Sklaven wäre und einfältig an einen hinterhältigen Tyrannen noch hinge, nachdem es ihn längst verbannt hat, und als ob es sich um jeden Preis in Niedrigkeit und in Knechtschaft wälzen wollte. […] Ihr glaubt also noch an die eingeborene Liebe zur Tyrannei?«83 Es ist ganz und gar nicht klar, ob sich Robespierre selber dessen sicher ist, daß sich das Volk schon von seiner traditionellen Loyalität dem Monarchen gegenüber emanzipiert habe; er wendet sich an die Delegierten, als sähe er die traumatischen Auswirkungen der Hinrichtung des Herrschers voraus, als wüßte er um die psychologische Bedeutung der Verdrängung: »Warum erscheint uns etwas klar, was uns später dunkel vorkommt?« Der Fragende kennt anscheinend die Antwort; er ahnt, daß das Gedächtnis dem Gewissen nachgibt; er ist daher bestrebt, die Revolution im Gewissen selbst hervorzurufen: »[…] ihr stellt immer noch die Person des Königs zwischen uns und der Freiheit! Im Namen unseres Gewissens sollten wir uns davor fürchten, zu Verbrechern zu werden; wir sollten fürchten, daß wir uns selbst an die Stelle des Schuldigen setzen, wenn wir ihm zu viel Nachsicht erweisen.« Als Beispiel gibt Robespierre sich selber – er habe es geschafft, sich vom König emotional zu lösen: »[…] ich empfinde für Ludwig weder Liebe noch Haß; ich hasse nur seine Missetaten.« Aus all dem folgert er also: »Ludwig muß sterben, weil das Vaterland leben muß.«84

      Dieser letzte Satz enthält in komprimiertester Dichte die gesamte dialektische Logik des »Vatermordes« und seines emanzipatorischen Sinns: Anstatt der traditionellen Formel »Der König stirbt niemals!« und ihrer historischen Entwicklung »Der König ist tot, es lebe der König!«85, tritt nun das revolutionäre Postulat, daß der König, sozusagen der »Vater«, sterben muß, damit die »Brüderschar« leben kann, ihn also beerben kann, um sich alsdann in eine neue, nunmehr das Vaterland beherrschende »Vater«-Kategorie zu verwandeln. Unter diesem archetypischen Gesichtspunkt ist es nicht so sehr relevant, daß sich die Versammlungsmitglieder in ihrer Stimmabgabe von keinem Ressentiment Ludwig gegenüber haben leiten lassen, wie Furet und Richet hervorheben, sondern vielmehr, daß sie einerseits der durch ihn verkörperten Institution überdrüssig waren, es ihnen aber andererseits dennoch schwer fiel, gegen ihn zu stimmen. In diesem Sinn vermitteln Robespierres Worte nach der Entscheidung mehr als ein nur persönliches Bekenntnis: »Ich fühlte in meinem Herzen die republikanische Tugendstrenge wankend werden, als ich den gedemütigten Schuldigen vor der souveränen Gewalt stehen sah.«86

      Ludwig selber verkörperte nicht gerade die Idealgestalt des Schuldigen. Einerseits spielte er zwar vom Anbeginn der Revolution durch sein Zaudern, durch Versuche, seine Stellung auch in verlorenen Situationen zu wahren, durch pathetische Handlungen, wie etwa das gescheiterte Fluchtunternehmen, und durch aberwitzige Ungereimtheiten, wie die systematische Sammlung von Dokumenten, die seine konspirativen Absichten bezeugten, im eisernen Schrank seines Schlosses, in die Hände der Revolutionäre. Andererseits erweckte aber der dickliche, etwas einfältige König doch die Sympathie seiner Untertanen. Im Grunde bestand anfangs kein Ziel, ihn zu stürzen. Die meisten Revolutionäre vertraten die Auffassung, daß wenn es gelänge, ihn vom Einfluß der Hofleute zu separieren und zur Unterstützung der ersten Revolutionsphasen zu bewegen, so wäre dies noch immer der wünschenswerteste Zustand. Die realen revolutionären Begebenheiten amplifizierten daher die Ambivalenz dem Monarchen gegenüber umso mehr–eine Tatsache, die sich in der Forderung, den »gekrönten Verräter« zu bestrafen, einerseits und in den Gnade erflehenden Petitionen andererseits ausdrückte.87 Eine solche Situation erschwerte zweifelsohne die Lage derjenigen im Konvent, die seine Verurteilung anstrebten. Man konnte Ludwig wohl als Verräter darstellen, aber die immer wieder zu hörende Bezeichnung seiner Person als »Tyrannen« kennzeichnete weniger eine tatsächlich so empfundene Realität, als vielmehr den hilflosen Versuch, sich mit der psychologischen Archaik der Gesamtsituation auseinanderzusetzen. Unter solchen Umständen wird das Bedürfnis der Anlehnung an den historischen Präzendenzfall der Hinrichtung Karls I. von England sowohl unter den Konventsmitgliedern als auch bei der Bevölkerung verständlich.88 Das Präzedens forciert gewissermaßen die Motivation zur Handlung, wobei es das kontingenzbedingte Unbekannte sozusagen eliminiert. Das Bedürfnis nach Bekräftigungen ist an den Äußerungen der Delegierten nach der Abstimmung und der Entscheidung über den Tod des Königs deutlich erkennbar: »[…] von allen Opfern, die ich meinem Heimatland dargebracht habe, ist dieses das einzige, das würdig ist, registriert zu werden«, bekennt Roger Ducos, und Lebas schreibt am 20. Januar, einem Tag vor Vollzug des Urteils: »Jetzt sind wir auf dem Weg, die Brücken hinter uns sind zerstört; ob wir wollen oder nicht, wir müssen vorwärts gehen; und besonders für diesen Augenblick gilt der Satz: in Freiheit leben oder sterben.«89

      Eine düstere Stimmung liegt am 21. Januar 1793 über Paris. Man bewegt sich langsam und wagt es kaum, sich in die Augen zu schauen, wie ein zeitgenössischer Beobachter berichtet. Alle Geschäfte sind geschlossen, und eine »schreckliche Stille« lastet auf den Straßen. Trotz der in ihr enthaltenen späten Interpretation und des karrikierenden Untertons widerspiegelt die Kindheitserinnerung J.G. Millingens treffend die Empfindung vieler der Bewohner der Hauptstadt an jenem Tag. Er beschreibt seinen Begleiter, »dessen demokratischen Energien nun durch die Feierlichkeit des Tages gedämpft waren, und der trotz seiner Anstrengungen, gleichgültig zu erscheinen, dann und wann schluchzte und sich eine herunterrollende Träne abwischte«.90 Wir erwähnen diese individuelle Impression, weil sie deutlich macht, wie viele Jahre nach dem akuten Ereignis sowohl die seinen Akteuren eigene Ambivalenz als auch die auf diese bezogene ideologische Stellungnahme noch immer motivisch durchschimmern: Die beschriebene Person bezahlt ihre demokratischen Neigungen mit Leid und Trauer; hätten diese Neigungen nicht die Hinrichtung des Königs gezeitigt, so würde es sich auch erübrigen, ihn beweinen zu müssen. Die dialektische Umkehrung dieser Deutung würde ergeben, daß die Chance für die mögliche Emanzipation nur um den Preis des mit der Loslösung von den traditionellen Bindungen einhergehenden Schmerzes erreichbar wird. Auf diesem Weg gibt es eben kein Entrinnen vor der erforderlichen Durchbrechung der Tabuschranken.

      Bis zum letzten Augenblick kann Cléry, der treue Diener des Königs, nicht glauben, daß man das Unberührbarkeitstabu übertreten werde. »Hoffen Sie, Sire,« sagt er zu Ludwig, »man wird nicht wagen, Sie anzutasten.«91 Jahrzehnte später überkommen den deutschen Historiker Ludwig Stacke ähnliche Empfindungen, als er die Situation an der Guillotine beschreibt: »Als ihn [Ludwig] die Henker ergriffen, um ihm das Sünderkleid anzuziehen, die Haare abzuschneiden und die Hände auf den Rücken zu binden, stieß er sie anfangs zurück, fügte sich aber auf die Erinnerung, daß sich auch Christus willig habe binden lassen, und daß er dadurch dem Heilande ähnlicher werde.«92 Die aggressive Berührung wird also nur mittels einer Analogie, welche Ludwig indirekt die Funktion des von Jesus dargebrachten Erlösungsopfers zuschreibt, faßbar, d.h. durch die sozusagen vorgezogene Wiederbelebung des zu »ermordenden« Vater-Königs. Das Haar des Königs, jener geheiligte und tabuisierte Körperteil der Herrscher früherer Kulturen, erhält in diesem Zusammenhang eine besondere symbolische Bedeutung: Ludwig bittet darum, seine Haare selber schneiden zu dürfen, wie


Скачать книгу