Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
Читать онлайн книгу.Attribut der Macht, das dem Haar seit dem Samson-Mythos zugeschrieben wird, seine Symbolik als Bestandteil jugendlicher Kraft und seine allegorische Bedeutung als Auflehnungsemblem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch die Assoziationen, die das Schneiden des Haars als Demütigungsakt in repressiven Situationen begleiten, bezeugen seine metaphorische Funktion als Ausdruck der Macht und der Heiligkeit in verschiedenen Zusammenhängen. Das öffentliche Schneiden der Haare des gestürzten Monarchen dient den Revolutionären demnach als eine quasi kultische Demonstration ihrer neuerdings erlangten Macht. Wenn sich das Unberührbarkeitstabu des Haars übertreten läßt, wird es nicht zu schwer sein, den nächsten Schritt zu vollziehen und das nunmehr entmachtete Haupt abzuköpfen. Der König selber ist sich offenbar der symbolischen Bedeutung der Situation wohl bewußt; noch in seinen letzten Augenblicken widersetzt er sich der Tabuübertretung. Edgeworth, Ludwigs Beichtpriester, berichtet, wie die Henkersknechte versuchen, den Monarchen zu fesseln. Er fragt sie, was sie vorhätten. Auf ihre Antwort hin, sie wollten seine Hände binden, reagiert er entrüstet: »Mich binden […]. Nein! Ich werde dies niemals zulassen: Tut, was ihr zu tun habt, aber ihr werdet mich niemals binden…«.94
Es stellt sich indes heraus, daß die Übertretung des Unberührbarkeitstabu auch die Kehrseite des von den Revolutionären verfolgten Zwecks zum Vorschein bringt. Das Blut des enthaupteten Herrschers erweckt das Entsetzen der um die Guillotine versammelten Massen. »Noch ist der Königsmythos nicht tot« deutet Göhring. »Dem Blut eines französischen Königs entströmt magische Kraft, denn er gilt als ein Gesalbter Gottes.«95 Der von Jacques Roux am Hinrichtungstag verfaßte Bericht vermerkt: »Sein Kopf fiel. Die Bürger tauchten ihre Piken und ihre Taschentücher in sein Blut.«96 Der Akt, der den Königsgedanken ausmerzen soll, erweckt spontan das Bedürfnis, sein Gedenken zu wahren; die kultische Tat zur Wahrung des Gedenkens symbolisiert widerum beide Aspekte der Ambivalenzempfindung: Einerseits drücken sich Bewunderung und Ehrfurcht durch die Erhöhung des königlichen Blutes zur Reliquie aus; andererseits exemplifiziert das Tauchen der Waffen in eben dieses Blut die gewalttätige Aggression.
Wir erinnern daran, daß dies auch die dem Stamm nach Beendigung der Totemmahlzeit zeremoniell auferlegten Reaktionen sind. Interessant ist demnach Stackes Assoziation bei der Beschreibung der Reaktion der Masse, als der Kopf des Königs durch den Henker hochgeschwungen wird: »Kannibalisches Gebrüll erscholl ringsrum und setzte sich weithin in die Stadt fort.«97 Göhring spricht von einer »Bewegung des Entsetzens«, die durch Tausende gegangen sei, Edgeworth erinnert sich an eine »ehrfurchtserregende Stille im ersten Moment«, und der Augenzeuge Philippe Pinel berichtet von einer »finsteren Bestürzung«, die sich plötzlich verwandelt habe; »Es lebe die Nation!« und »Es lebe die Republik!« klingt es nun von überall her, und ein Freuden- und Siegestaumel verbreitet sich, während »man im Reigen um das Schafott« tanzt.98 Dieser Übergang von der einen emotionalen Reaktion zur konträr entgegengesetzten erinnert aufs deutlichste an das stilisierte Ambivalenzverhalten im altertümlichen Totemkult. In der konkreten Situation ermöglicht er zweifelsohne die Entladung des psychologischen Drucks und der Spannung, welche über die Bevölkerung von Paris seit der Entscheidung über die Hinrichtung des Königs bis zu deren Vollzug lastet: »Ohne Leid und Tränen, aber doch mit instinktiver Angst und leicht unruhig erwartet, ersehnt man nur den Augenblick, wo es vorbei ist«, wie es Gascar formuliert.99 Die Revolutionäre, die die Liquidierung des Königs anstreben, fürchten seinen (amts)charismatischen Einfluß bis zum letzten Augenblick; als Ludwig den Versuch unternimmt, die um die Guillotine versammelten Zuschauer noch einmal anzusprechen, beginnen die Trommler auf Anweisung Santerres zu trommeln, und des Königs Stimme geht im ohrenbetäubenden Lärm unter.
Die Tat ist vollbracht, der König ist tot; ein Gefühl der Erleichterung bemächtigt sich der politischen Führer. Konservative Historiker, die sich bei der Verarbeitung des »Königsmordes« selber schwer tun, erfassen für gewöhnlich die psychologische Bedeutung dieser Erleichterung nicht. Der Umstand, daß am Abend nach dem »schrecklichen Morde« die Schauspielhäuser gedrängt voll waren, klingt bei Stacke zum Beispiel so, als habe man darin den schlagenden Beweis für die Empfindungslosigkeit und Grausamkeit der »Königsmörder« zu sehen. Carlyle, der sich auf den gleichen Tatbestand bezieht, scheint da etwas einsichtiger zu sein: »Abends in den Kaffeehäusern […] drückten die Patrioten einander noch herzlicher die Hand als sonst. Erst einige Tage nachher […] sah man ein, wie gewichtig die Sache war.«100 Gerade das Bedürfnis, zusammen zu sein, das Bedürfnis nach der Nähe der an der Tat Mitbeteiligten und nach der momentanen Bestärkung durch den noch mehr »als sonst« herzlichen Händedruck bezeugen das noch unklare Gefühl der »Brüdergemeinschaft«, daß sich etwas schicksalhaftes und bedrohliches zugetragen habe, etwas, das sich eben nicht anders als in der Gemeinschaft ertragen läßt. »Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre«, bemerkt Freud in Beziehung auf den »Urvatermord«. Gleiches gilt für den 21. Januar 1793. Das Gemeinschaftsbedürfnis ist der Grund dafür, daß »in den Wintertagen, in denen sich die Hinrichtung des Königs vorbereitet, […] die politischen Aktivitäten aufgehoben, die Konflikte ausgestzt« scheinen; dieses Bedürfnis unterliegt auch der Wunschvorstellung des Freiwilligen Maurin in einem Brief aus der Armee eine Woche nach dem Ereignis: »Der Tyrann lebt nicht mehr, und die Bürger, die über sein Schicksal gespalten waren, sind alle einig […]«; Bouloiseau stellt also zurecht einen Zusammenhang zwischen Einigkeitsgefühl und Schuldbewußtsein her: »In diesem oder jenem Maß empfanden die Königsmörder Reue, ein Bedürfnis, sich im nachhinein zu rechtfertigen, und hatten das Gefühl, gegen göttliches Recht verstoßen zu haben. Ein Solidaritätsgefühl einigte sie nun.«101
Praktisch hielt diese Einheit jedoch nicht allzu lange an: In der Freudschen Hypothese des vorgeschichtlichen »Urverbrechens« wurden die Brüder nach der Liquidierung des Vaters zu Gegnern, die um die nunmehr freigewordene »Beute« der Horde konkurrierten; keiner sei indes stark genug gewesen, um die Rolle des Vaters mit Erfolg übernehmen zu können. Freud folgert daher, daß sich die Brüder zuletzt selber auferlegten, sich der inneren Herrschaft und der Paarung mit den Weibchen der Horde zu enthalten. Dies habe – »vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle«, wie er einfügend bemerkt – sowohl das Inzesttabu als auch das sozial begründete Verbot des Brudermordes durch die »Heiligung des gemeinsamen Blutes« zufolge gehabt.102
Analog läßt sich die Französische Revolution als eine Art Reproduktion des archetypisch konstruierten vorgeschichtlichen Ereignisses darstellen. Die Spaltung zwischen den Revolutionären, die schon während des Prozesses des Königs zutage kam, vertieft sich nun, nachdem die traditionelle Autorität endgültig vernichtet worden ist, zunehmend, und »schwere Zwischenfälle« ereignen sich in der Form eines blutigen Kampfes um das Recht, die neue Autorität verkörpern zu dürfen – ein Kampf, der in unterschiedlichen Varianten bis zum Erscheinen eines neuen Herrscher-«Vaters« in der Gestalt Napoleon Bonapartes andauert. Antirevolutionäre Historiker pflegen in dieser vom »Königsmord« abgeleiteten Entwicklung ihren kleinen Trost zu finden. Ludwig Stacke aktiviert gar Gottes Rache gegen die »Königsmörder«: »[…] der dämonische Geist, der sie zu Strafwerkzeugen in der Hand des Höchsten machte, hat sie auch gegen einander getrieben, daß sie sich in blutiger Verfolgung gegenseitig zu Tode hetzten.« Solche pseudoreligiös und apokalyptisch gefärbten Bilder sind für viele der Revolutionsdarstellungen charakteristisch, die im ideologischen Postulat fußen, daß es die Auflehnung gegen die legitime herkömmliche Autorität gewesen sei, welche den eigentlichen katastrophenträchtigen Grund für den grausamen Bruderkrieg, der infolge der nach dem Tod des Königs aktiver werdenden Konterrevolution ganz Frankreich erfaßte und den revolutionären Terror hervorbringen mußte, abgegeben habe.103
Den nahezu unumgänglichen Preis, den historische Kollektive dafür zahlen müssen, daß sie keine solche Auflehnung in ihrer Geschichte aufzuweisen haben, werden wir weiter unten noch durchleuchten können. Es sei jedoch schon hier angemerkt, daß sowohl die Historiker, welche die sich gegenseitig bekämpfenden »Königsmörder« mit Schadenfreude rezipieren, als auch diejenigen, welche die inneren Kämpfe der Revolutionäre von den der Hinrichtung des Königs inhärenten Auswirkungen ideologisch steril auseinanderhalten, an der mentalen Komplexität des Emanzipationsprozesses vorbeigehen und somit den wahren, ihm eigenen revolutionären Heroismus außer acht lassen. Berger