Die Träume von Macht. Eckhard Lange

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Die Träume von Macht - Eckhard Lange


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Ich habe das schon früh erprobt, im Kleinen, im Kreis der anderen Schüler meiner Klasse. Dort konnte ich gefahrlos üben. Erst war es meist körperliche Überlegenheit, die ich einsetzte: Was mir angetan wurde, das konnte ich nun anderen antun. Oft reichte Drohung, um mich in den Besitz fremden Eigentums zu setzen - sei es Taschengeld, seien es irgendwelche Klamotten. Dabei habe ich nicht wahllos abgezogen, sondern habe Nehmen mit Geben verbunden: Dem einen wurde erobertes Gut zum Geschenk gemacht und verpflichtete so zur Heerfolge. Und zur Verschwiegenheit des Mitwissers. Dem andern gab ich großzügig zurück, was ich zuvor bei ihm erbeutet hatte, und ließ ihn im Glauben, es sei doch nur Scherz gewesen - aber das Erschrecken, das Gefühl der Ohnmacht, die Angst vor Wiederholung blieb, und damit eine doppelte Abhängigkeit. Und wieder andere ließ ich hinter mich treten, teilnehmen an der Tat, die sie doch ohne mich nicht gewagt hätten. Und sie wurden zu Schuldigen, die meines Schutzes bedurften, um nicht bestraft zu werden.

       So stieg ich zum Herrscher auf, ohne doch allzu verhaßt zu sein. Leutseligkeit ist ein probates Mittel der Fürsten, ihre tatsächliche Macht dem Ohnmächtigen nicht bewußt werden zu lassen. Weil es ihnen vorgaukelt, irgendwie doch ein wenig Anteil zu haben an jener Macht. So sammelte ich immer mehr Anhänger hinter mir, teils in den Dienst gezwungen, teils auch freiwillig zur Huldigung bereit. Doch je mehr die Schar der Hörigen wuchs, desto größer wurde meine Pflicht, ihnen Schützer zu sein - oder auch Rächer.

       Das alles jedoch war mir letztlich zu primitiv. Wirkliche Macht mußte subtiler sein. Nicht Fäuste, Gedanken sind die Waffen, die Unterwerfung erzwingen. Nicht der rohe Verstoß gegen geltendes Recht sichert dir dauerhaften Einfluß, du mußt selber das Recht setzen, Gesetze formulieren, die von nun an zu befolgen sind. Und dazu bedarf es nicht körperlicher Kraft, sondern eines wachen, erfindungsreichen Geistes. Nicht Krieger allein gilt es um dich zu sammeln, sondern gläubige Jünger. Die kriegerische Tat schafft stets Unterworfene, die von Freiheit träumen. Der Jünger aber zieht aus, um die Schar der Überzeugten zu mehren. Auch sie träumen, aber sie träumen sich nicht zurück, sondern hin auf ein Ziel. Und dieses Ziel hast du ihnen gesetzt - nein, dieses Ziel bist du selbst.

       So begann ich, Eingeweihte zu schaffen, die Geheimnisse mit mir teilten, ihre eigene Sprache, eigene Regeln, eine eigene Hierarchie, ja auch eigene Strafen besaßen. Mag das alles noch sehr jungenhaft gewesen sein - ein wenig Wandervogel, ein wenig Robin Hood, auch ein wenig Okkultismus vielleicht - es war Übungsfeld für spätere Jahre. Und es gab der Fantasie freien Raum, denn Herr aller Fantasie war und blieb allein ich. - In der Tat, ich habe viel gelernt in meiner Schulzeit.

       Später - ich war schon fünfzehn und mein Verbleiben auf dem Gymnasium war in höchstem Maße fraglich geworden - hat mich eine in jeder Hinsicht höchst einfühlsame Psychologin davon überzeugt, daß allein meine exorbitante Intelligenz das Hindernis auf meinem Weg zu schulischen Erfolgen sei. So beschloß ich, mich soweit am Unterricht zu beteiligen, daß ich die Klassenziele erreichte, auch wenn es schwerfiel, mich auf dieses Niveau herabzulassen. Immerhin aber schien es doch vorteilhaft, mir einen Schulabschluß bestätigen zu lassen. Also lernte ich zwar auch nichts von Bedeutung in den kommenden Jahren, aber ich bemühte mich, um der Zensuren willen dem Ehrgeiz meiner Pädagogen entgegenzukommen. Und wenn es sich um Pädagoginnen handelte, fiel mir das auch nicht sonderlich schwer. Schließlich hatte mir meine Mutter eine schlanke, aber dennoch muskulöse Gestalt, ein feingeschnittenes Gesicht mit lockigem dunklem Haar und vor allem zart- gliedrige Hände vererbt, die sich vielseitig einsetzen ließen.

      Der Geheimbund

      Unser junger Held - nennen auch wir ihn Thessi - war auf der Suche nach Heldentaten. Das entsprach schließlich seinem Naturell - seinem Hang zur Fantasie ebenso wie seinem Streben nach Macht, danach, übermächtig zu sein. Gut - er war bald Anführer einer Kinderbande, oder sagen wir lieber: eines Geheimbundes. Die Jungen trafen sich, in regel- mäßigen Abständen oder wenn er es befahl, am Nachmittag in einer entlegenen Ecke des ziemlich verwilderten Parks, der in der Nähe der Schule in der sumpfigen Biegung eines wenig bedeutsamen Flusses lag. Sie hatten in die dichte Hecke aus Wacholderbüschen, die den äußersten Spazierweg gegen das Flußgebiet hin abschirmte, einen versteckten, gezackten Zugang gelegt, unsichtbar für den Uneingeweihten. Dahinter lag, umstellt von mannshohen wildgewachsenen Buchenschößlingen, eine freie, von spärlichem Gras bewachsene Fläche, geschaffen vom dauerhaften Schatten einer Buche, die sie zu ihrem Totem erhoben hatten und um die sie sich sammelten. Von dichtem Unterholz überwuchert, senkte sich der Boden danach langsam in Richtung Fluß, ging dann in eine amphibische Schilfzone über, durch die der Geheimbund einen Weg aus Trittsteinen gebahnt hatte, um so Zugang zum Wasser zu erhalten. Eine versteckte Stelle unter dem weitausladenden Ast einer Uferweide diente als Ankerplatz für einen schon recht morschen Kahn, den sie irgendwann nächtlich entführt hatten.

      Am Stamm des Totembaumes hatten sich an einer Seite einige Baumwurzeln so hoch aufgewölbt, daß sie einen passablen Sitz bildeten mit Andeutung von Armlehnen. Hier nahm Thessi Platz, der Anführer, Häuptling, König, Messias. Von hier aus legte er die Tagesordnung vor, leitete die Sitzung, gab neue Regeln aus, urteilte über Verstöße. Stets forderte er die Bundesmitglieder auf, Stellung zu nehmen, Vorschläge zu äußern, Anträge einzubringen. Aber letztlich entschied allein er über alles, ohne daß die meisten es überhaupt merkten. Und wer es merkte und auch noch aussprach, wurde mit Strafe belegt - oder anerkennend im Rang befördert und so hineingezogen in die Sphäre der Macht und damit mundtot gemacht. Gekonnt unterdrückte der Anführer damit jede weitere Kritik.

      Thessi hatte eine Geheimschrift entworfen, deren sich alle zu bedienen hatten, wenn wichtige Nachrichten zu übermitteln waren - sei es schlicht auf einer herausgerissenen Heftseite oder auch per Brief. Dazu konstruierte er einen Ring aus Pappe, auf dem drei Reihen des Alphabets saßen, die oberste festgeklebt, die beiden anderen als drehbare Ringe - einmal vorwärts, einmal rückwärts. Ein Code am Anfang der Nachricht gab jeweils an, um wieviel Buchstaben ein Ring zu verschieben war, um den Text vom ersten auf einen unteren Zeichen für Zeichen zu übertragen und so zu verschlüsseln. Natürlich wechselte der Befehl - manchmal von Satz zu Satz, manchmal sogar von Wort zu Wort oder auch unabhängig davon nach jeweils zehn Buchstaben. Diesen Code verschlüsselte und entschlüsselte ein vierter und letzter Ring, der Zahlen aufwies. Der Physiklehrer, dem einmal eine derartige geheime Nachricht in die Hände fiel und der zu Recht eine Verschlüsselung vermutete, hatte sich ein ganzes Wochenende bemüht, den Code zu knacken. Er scheiterte und war so ehrlich, es im Unterricht anerkennend zu erwähnen, was die Autorität Thessis in seiner Bande ungemein steigerte.

      Der Besitz eines solchen Ringes war Ausweis, daß die Novizenschaft im Geheimbund beendet und der neue Eigentümer als vollwertiges Mitglied anerkannt war. Sein Verlust war eine schwere Sünde, die kaum je zu sühnen war. Ihn andern zu zeigen war Verrat. Seine Folgen wurden so wollüstig-grausam ausgemalt, daß nie einer der Jungen es gewagt hat, einen Fremden in das Geheimnis des Ringes einzuweihen oder ihn auch nur betrachten zu lassen.

      Thessi versuchte sich auch an einer eigenen Sprache, zumindestens stellte er für zahlreiche Worte frei erfundene Silbenkombinationen als Synonyme auf, dem Nichteinge- weihten rätselhaft und abstrus, den Mitgliedern ein Code für bestimmte, ihnen wichtige Begriffe. Wurden auch sie zusätzlich mit dem Ring verschlüsselt, war das geheimste Geheimnis erschaffen.

      Im Grunde jedoch blieb das alles kindliche Spielerei, und er wurde ihrer zunehmend überdrüssig, auch wenn er an den Treffen festhielt und so nicht nur eine treu ergebene Schar von Anhängern um sich versammelte, sondern auch mit ihnen und durch sie Einfluß auf alles Geschehen während der Pausen und außerhalb des Schulhofes nahm. Selbst den Unterrichtenden blieb das nicht verborgen, und es geschah durchaus, daß sie den Anführer um Mithilfe baten, wenn ihnen eine Situation außer Kontrolle zu geraten schien. Thessi ließ sich dann huldvoll herab, einen Streit zu schlichten, einen Mitschüler in die Schranken zu weisen oder einen anderen zu schützen. Das verhalf nicht nur seinen Zeugnissen ungemein zu besseren Noten, es erfüllte ihm auch seine Träume vom edlen Ritter, der sich im Dienst an den Elenden verzehrte, auch wenn die Maßnahmen, die er ergriff oder doch anordnete, nicht immer als ritterlich oder gar edel bezeichnet werden konnten. Eher schon ließ sich sein Tun mit dem antiker Helden vergleichen,


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