Head Game. Kendran Brooks
Читать онлайн книгу.um das Wohl seiner Familie, fühlte sich verfolgt und überwacht. Er begann sich immer mehr einzuigeln und abzuschotten, selbst gegenüber seinen langjährigen Freunden. Jules kaufte damals auch eine Unmenge an Waffen und Munition zusammen, verwandelte die Villa am Genfersee zunehmend in einen Bunker. Gleichzeitig wurde der Schweizer immer unsteter, mürrischer, nervöser und leider auch brutaler. Zu Drittpersonen genauso, wie zu sich selbst. Und er ging auf einmal unnötige Risiken ein, die er früher stets gemieden hatte.
Als einige Monate später die Ärzte einen gefährlichen Gehirntumor bei Jules Lederer feststellten, waren die Sorgen von Alabima und ihm zwar riesengroß. Gleichzeitig bot die bösartige Erkrankung aber auch Anlass zur Hoffnung, nämlich dass alle diese Persönlichkeitsstörungen und Charakterveränderungen letztendlich auf der Krebserkrankung beruhten.
Nach einer ersten, weitgehend nutzlosen Chemotherapie mit Bestrahlung gaben die Ärzte dem Schweizer nur noch wenige Wochen zu leben. Der Gehirntumor musste dem Schweizer zweifellos das Leben kosten. Zu weit war er fortgeschritten. Zu stark gestreut. Zu wenig reagierte er auf die möglichen Therapien. Und eine Operation war von Anfang an eine Unmöglichkeit.
Damals schloss Jules Lederer mit seinem Leben bewusst ab, gab den Kampf gegen seine Krankheit auf, fügte sich in sein Schicksal.
Weder seine Ehefrau Alabima noch seine kleine Tochter Alina duldete er noch an seinem Krankenbett, mochte ihr Mitleid nicht mehr ertragen, wollte ihre stille Trauer nicht mehr spüren müssen. Nur noch sterben, ja, das wollte der Schweizer, möglichst rasch und möglichst allein.
Doch seine Ehefrau Alabima kämpfte weiterhin um das Leben ihres Ehegatten, rettete Jules mit Hilfe eines experimentellen Medikaments, das sie illegal für ihn besorgt hatte. Der Krebs konnte tatsächlich besiegt werden. Doch der Schweizer musste anschließend wieder zurück in ein Leben finden, mit dem er längst gebrochen hatte.
Zu Anfang empfand Jules so kein Glück über seine Genesung. Denn weiterleben zu müssen, in einer Welt, aus der er sich bereits verabschiedet hatte, die ihm darum längst fremd und unwirklich geworden war, das fiel dem Schweizer ausgesprochen schwer. Selbstmordgedanken quälten ihn zunehmend und mehr als einmal stand er kurz davor, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen. Nur Dr. Grey, eine Psychologin aus Lausanne, fand damals Zugang zum Schweizer, führte Jules Schritt für Schritt zurück in die Wirklichkeit und ins Leben. Nach Monaten des Zweifelns und der Unschlüssigkeit fasste der Schweizer langsam wieder Vertrauen, in seine Gesundheit, die tatsächlich anhielt, in seine Psychologin, die ihn weiterhin forderte, aber auch in Alabima und Alina, dass sie doch noch viele Jahre gemeinsam erleben durften.
Irgendwann hatte der Schweizer auch verstanden, dass er für seine Tochter und für seine Ehefrau weiterzuleben hatte. Er fühlte die starke Verpflichtung als einen unbedingten Zwang, empfand sein Weiterleben darum vor allem als eine Bürde und Busse. Doch er fügte sich in sein Schicksal, fühlte sich irgendwann auch wirklich bereit dazu, wollte diese neuerliche Herausforderung in seinem Leben mit bestem Willen meistern.
»Tela nun vela« nannten die Dakota-Indianer diesen Zustand. Jules Lederer lernte dieses geflügelte Wort in seiner Jugend kennen. Damals verschlang er alle Western-Romane von G. F. Unger.
»Tod, wenn auch noch lebendig.«
Was tat man nicht alles aus Liebe?
Jules Lederer funktionierte von da an wieder besser, hielt sich auch an seine Versprechen gegenüber Alabima, konnte trotzdem nicht ganz aus seiner Haut schlüpfen, übernahm zwar keine gefährlichen Aufträge mehr für Klienten, suchte trotzdem vermehrt das Risiko und neue Aufregungen, stürzte sich immer wieder unnötig in Gefahren.
Bis er in Indien fast darin umgekommen wäre.
Ja, vielleicht hatte ihn dieses Land mit seiner Religion und seiner Kultur tatsächlich verändert.
Doch bis dahin hatte Alabima viel erdulden und erleiden müssen. Vielleicht zu viel?
Auch wenn die Äthiopierin seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz lebte, fühlte sie sich im Alpenland keineswegs zu Hause. Denn Jules hatte stets dafür gesorgt, dass alle von Alabima geknüpften Bande zu Nachbarn oder auch zu anderen Eltern oder weiteren Bekannten rasch wieder getrennt wurden oder zumindest einschliefen. Denn der frühere Problemlöser war einfach nicht bereit dazu, ganz gewöhnliche Menschen als gleichwertig zu anerkennen und mit ihnen umzugehen.
»Über was soll ich mit diesen einfachen Leuten denn reden?«, war eines seiner Totschlag-Argumente, »ich habe mit Jelzin und Putin verhandelt, mischte mich in die Politik großer Länder ein, kämpfte mit CIA und NSA und einem halben Dutzend anderer Geheimdienste, schlug mich mit der Drogenmafia und mit Waffenschiebern herum. Wie könnte ich mich da mit irgendeinem Monsieur Bourgeois über die richtige Pflege von Rosenstöcken im Vorgarten unterhalten?«
So und ähnlich schmetterte er in der Vergangenheit immer wieder die Wünsche seiner Lebenspartnerin nach mehr nachbarschaftlichem Miteinander ab. Nein, der Schweizer wollte keine Bekanntschaften mit Leuten aus ihrem engeren Umfeld schließen, besaß selbst nur ganz wenige gute Freunde, suchte sich keine neuen.
Alabima wurde über die Jahre verbittert. Nicht so sehr wegen ihres so überheblichen Jules, den sie immer noch liebte, wenn vielleicht auch nur für das, was der Schweizer vor zehn Jahren noch gewesen war, für seine damalige Stärke und Zuversicht, auch für seine frühere unbedingte Verlässlichkeit und die große Herzensgüte.
Doch immer wenn die Oromo allein in einem Zimmer der Villa saß und über ihr Leben nachdachte, gingen ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf.
»Ich habe meine Heimat Äthiopien verloren, jedoch keine neue Heimat in der Schweiz finden können. Ist dies das schreckliche Fazit meines traurigen Lebens?«
Heimat war dort, wo man anerkannt und geehrt wurde. Doch hier in der Schweiz, ja in Europa, kannte Alabima nur wenige Menschen näher. Wer also sollte ihr das Gefühl vermitteln, endlich angekommen zu sein?
Ihre engste Freundin hieß Holly Peterson und war die Ehefrau von Henry Huxley, dem besten Freund ihres Ehemanns. Aber Holly lebte mit Henry zusammen in London und die beiden Familien sahen einander nur selten.
Mit ihrem erwachsenen Adoptivsohn Chufu, der mit seiner Frau Mei in Rio de Janeiro lebte, sprach sie zwar weiterhin fast jede Woche über Skype. Doch das konnte keine Heimat schaffen, trotz aller Intimität. Nicht über tausende von Kilometern hinweg.
Daneben gab es noch die gelegentlichen Telefonate mit ihren Brüdern und Schwestern in Äthiopien. Man hielt den üblichen freundschaftlichen Kontakt, spürte einander mehr, als man sich sah, war sich deshalb über die Jahre hinweg immer fremder geworden.
Hier jedoch, in diesem Wohnviertel in La-Tour-de-Peilz am Genfersee, wo viele der Villen die meiste Zeit des Jahres über leer standen oder reine Spekulationsobjekte von mehr oder weniger zwielichtigen Investoren waren, gehörten Freunde oder auch nur gute Bekannte zur Mangelware. So beschränkte sich die Welt von Alabima weitgehend auf ihre Tochter Alina und ihren Ehemann Jules, falls der zu Hause war.
Seit sie regelmäßig ins Taekwondo-Training ging, hatte die Äthiopierin zwar einige gute Bekanntschaften geschlossen, jedoch keine echten Freundschaften daraus entwickeln können. Jules wollte auch mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Sie waren und blieben in seinen Augen unwissende Tölpel, die wenig, bis nichts von der großen und weiten Welt verstanden, von den großen Geheimnissen und all den Kämpfen im Hintergrund nichts ahnten.
Die übliche Leier.
Selbstverständlich interessierten sich immer wieder Männer für die ausgesprochen aparte Frau von Ende Dreißig. Doch Alabima wollte ehrliche Freundschaften schließen und keine Seitensprünge vollziehen oder gar Liebschaften nebenherführen.
Trotz finanzieller Unabhängigkeit blieb das Leben der Ehefrau und Mutter im Grunde genommen sinnfrei, sah man von der Betreuung ihrer Tochter Alina ab. Früher schrieb die Oromo noch für äthiopische Zeitungen, lieferte ihnen Tatsachenberichte über das Flüchtlingsleben in Europa, wollte so dazu beitragen, dass weniger ihrer Landsleute sich auf den langen, beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Europa aufmachten. Denn der Westen war kein Paradies für Migranten, bot Afrikanern weit weniger