Die LEERE und die FÜLLE. Eckhard Lange

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Die LEERE und die FÜLLE - Eckhard Lange


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er sie in keiner Weise beteiligt hatte. Der Haß auf den Bruder wurde nun unbewußt auf den Erben, den eigenen Sohn übertragen. Und als ihre Eltern, zwar in hohem Alter, aber durchaus in vollem Besitz ihres Verstandes, wie sie als Juristin eingestehen musste, auch den Marschenhof auf Nicolas überschreiben ließen, war für sie die innere Schmerzgrenze überschritten. Obwohl sie selbst über ein ansehnliches Einkommen verfügte und der Hof wenig materiellen Wert hatte, sie fühlte sich übergangen, missachtet, zutiefst gekränkt. So brach sie die bereits geringen Kontakte vollständig und endgültig ab, erschien nicht einmal zur Trauerfeier, als ihre Mutter starb. Nicolas dagegen übernahm es, alles Notwendige zu regeln.

      Ja, erstaunlicherweise hatte er in den letzten Jahren häufiger als sonst Kontakt aufgenommen zu den Großeltern, die doch bei aller Strenge und manchem Unverständnis für den schwierigen und verträumten Jungen ihm ein Zuhause geschenkt hatten. Es mochte das einzige wirkliche Gefühl in seinem gefühlsarmen Leben sein: Er empfand einen gewissen Dank den beiden Alten gegenüber und zuletzt sogar eine gewisse Zärtlichkeit für die Großmutter, als sie schon hinfällig geworden war und mühsam genug vom Großvater versorgt wurde, bis Nicolas für eine regelmäßige Pflege sorgte, ohne dass die beiden je erfuhren, dass diese Tätigkeit nicht von ihrer Krankenkasse, sondern vom Enkel finanziert wurde.

      Als wenig später auch der Großvater verstarb, machte Nicolas das Anwesen zu seinem ganz persönlichen Zufluchtsort. Die Ländereien waren schon seit längerem verpachtet, eine baufällige Scheune ließ er abreißen, das Wohnhaus mit dem angebauten Viehstall ließ er unverändert, räumte nur überflüssiges Gerät und Mobiliar hinaus. Die Kammer unter dem hohen Dach, in der er seine Jugendzeit verbracht hatte, erhielt er ebenfalls, nur dass er das zu kurze Bett gegen ein für ihn passendes austauschen ließ, so dass er dort nächtigen konnte, wenn es ihn an die Küste trieb. Der Telefonanschluß wurde stillgelegt, Strom und Wasser waren abgestellt. Auch wenn er im Hause war, blieb es dabei. Er wollte nicht erreichbar sein, selbst sein Handy ließ er in der Regel in München zurück.

      Für das nötige Wasser sorgte die alte, immer noch betriebsfähige Pumpe auf dem Hof, für Wärme ein Holzfeuer im Kachelofen im Wohnzimmer und notfalls auch in dem bis zuletzt genutzten Herd. Und Brennholz hatte das Gebälk der Scheune in Fülle hinterlassen, Nicolas musste es nur zerkleinern, eine Anstrengung, die er als sportliche Herausforderung empfand. Auf Strom verzichtete er gerne, Kerzen und die petroleumbefüllten Stalllaternen des Großvaters reichten ihm für abendliche Beleuchtung und erinnerten ihn an die einsamen Winterabende seiner Kindheit. Sparsam wie sie es aus Kriegszeiten gewohnt waren, nutzten die Alten nur selten das längst vorhandene elektrisches Licht, wenn sie noch beisammen saßen. Außerdem richtete sich ihr Tageslauf nach dem natürlichen Licht, meist waren sie mit Sonnenuntergang schlafen gegangen und mit Sonnenaufgang aufgestanden, geradeso wie das Vieh in ihrem Stall. Auch Nicolas hielt es so bei seinen Besuchen, nutzte den Tag für lange, einsame Spaziergänge und schlief dann gern und lange, sobald es Abend wurde. Außerdem gab es im Stall ein Notstromaggregat, falls wirklich einmal Elektrizität gefordert sein sollte, aber bislang hatte er es noch nie benötigt.

      Der Marschenhof hatte eine eigenartige, heilende Wirkung für ihn. Es geschah schon, dass er, nach Wochen hektischer Betriebsamkeit, plötzlich seine selbstgewählte Einsamkeit spürte und sie als Last, als Qual empfand. Dann senkte sich Düsternis über ihn, seine enge Wohnung wurde ihm auch tatsächlich zu eng, schwermütige Gedanken überfielen ihn, hinderten ihn an Entscheidungen, ließen Fragen nach dem Sinn seines Tuns aufkommen. Doch in solchen Stunden des Selbstzweifels, der Unsicherheit und Verlassenheit trieb es ihn in den Norden. Sobald sich das endlose Marschenland vor ihm auftat, ein salziger Wind vom Meer herüberwehte und er den Geruch des Grases atmete, fiel die Düsternis von ihm ab. Es war eine andere Einsamkeit hier, die Einsamkeit der Weite, eine helle, klare Einsamkeit unter einem unendlichen Himmel, eine tröstliche Einsamkeit im Gleichklang mit den natürlichen Rhythmen von Ebbe und Flut, Sturm und Flaute, Möwenschrei und Stille. Alles war einsam hier, das platte Land, das graue Watt und vor allem die See mit ihrem eintönigen Auf und Ab. Es war die angemessene Form des Daseins, und wer hier lebte, empfand ihre Größe, ihre Notwendigkeit, ihre bergende Umarmung. So floh er dann vor der bedrückenden Einsamkeit der Stadt in die befreiende Einsamkeit der endlosen Marsch und der endlosen See.

      Doch nun gab es einen, der ihn bei dieser Flucht in jene andere Einsamkeit aufgespürt hatte: Gilbert Gamesch. Die verdeckten Ermittlungen hatten das von ihm beauftragte Büro viel Zeit, Mühe und auch finanziellen Aufwand gekostet, ehe die Leute endlich einen Erfolg melden konnten. Es gelang ihnen nicht nur, die Person Nicolas Kidou einwandfrei zu identifizieren, sondern sie auch bis Nordfriesland zu verfolgen. Vor Ort war es dann verhältnismäßig leicht, das großelterliche Gehöft auszumachen und seine Geschichte zu recherchieren. Dann aber musste es in Kooperation mit einer dortigen Detektei so lange observiert werden, bis die erneute Ankunft von Herrn Kidou gemeldet werden konnte. Das Experiment, das Gilbert Gamesch sich ausgedacht hatte, konnte beginnen.

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