Tod im Kanzleramt. Stefan Koenig

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Tod im Kanzleramt - Stefan Koenig


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Aber wo das supergroße Panoramafenster gewesen war, gähnte jetzt ein ausgezacktes Loch, das teilweise mit Laub gefüllt war. Es war die Spitze des uralten Baumes, der neben dem Hintereingang gestanden hatte, schon zu Zeiten, als hier noch kein Kanzleramt stand. Man hatte um ihn herum gebaut.

      Während ich die Baumspitze betrachtete, die jetzt dem Empfangssalon einen Besuch abstattete, verstand ich, was Frau Merkel gemeint haben könnte, als sie sagte, die Versicherung mache die Sache nicht erträglicher. Vielleicht hatte sie diesen Baum geliebt. Vielleicht hatte sie ihn schon zu DDR-Zeiten von jenseits des Grenzstreifens gesehen und bewundert. Vielleicht hatte sie schon früher davon geträumt, dass sie eines Tages darunter wilde Frühlings-, Sommer- und Herbst-Partys feiern würde. Wer weiß? Auch ich hätte heulen können, einfach, weil ich so alte Bäume mag und achte.

      Die Kanzlerin sprach mit den beiden Männern vom Hausmeisterteam, die bereits herbeigerufen worden waren. Ich wollte mich jetzt mehr um die Gäste kümmern und ging zurück in das Untergeschoss.

      Bevor ich den großen Party-Behelfsraum betrat, machte ich einen Abstecher zu Gabriele Krone-Schmalz und Yousef, die in einem lärmgesicherten Nebentrakt des gleichen Geschosses untergekommen waren. Sie schliefen beide auf einer Doppelliege, und dann überfiel auch mich eine plötzliche Müdigkeit. Ich legte mich auf Yousefs Seite, nur um einen Moment auszuspannen. Das Unwetter hatte meinen Adrenalinspiegel derart blitzartig in die Höhe getrieben, dass der jetzige Abfall sich in jener merkwürdig starken Müdigkeit bemerkbar machte.

      Yousef schlief nun zwischen Gabriele und mir. Ein Kurztraum überfiel mich gleich nachdem ich eingeschlafen war. In diesem Traum sah ich Gott durch den Ostteil Berlins auf der anderen Seite der Joachim-Gauck-Allee gehen, einen Gott, der so riesig war, dass ER von der Taille aufwärts in einem klaren blauen Himmel verschwand. Im Traum hörte ich das Splittern und Krachen von Ampeln, Autos und Bäumen, die unter SEINEN Schritten wie Grashalme umknickten. ER umkreiste den Fernsehturm und kam auf das Kanzleramt zu; ER kam auf uns zu, und alle Ministerien, Einkaufscenter, Häuser und Hochhäuser gingen blitzartig in purpur-weißen Flammen auf, und bald verhüllte der Rauch alles. Der Rauch verhüllte alles – wie Nebel.

      Die erste Nacht

      Ich schreckte auf. Vielleicht wegen dem Traum. Vielleicht aber auch, weil mein Unterbewusstsein die aufgeregte Stimme von Angies Büroleiterin wahrgenommen hatte. Beate Baumann stand nur zehn Schritte von mir entfernt, und ich hörte sie fragen: „Was bedeutet es, wenn alle Elektrik ausgefallen ist?“

      Ein Mann aus dem Serviceteam in Monteurkleidung stand neben ihr. Ich blinzelte erst, dann richtete ich mich langsam auf. Ein Namenschild auf der linken Brusttasche wies ihn als Klaus Tombrowsky aus. „Alle Sicherheitsverriegelungen rund um das Amt sind geschlossen. Niemand kann das Gebäude verlassen. Ich befürchte, wir müssen bis morgen früh durchfeiern.“ Er schien zu lächeln. Im Nachhinein kann ich sagen, dass man es ihm nicht verübeln konnte. Auch ich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht der gesamten Tragweite des Geschehens bewusst.

      „Können Sie nicht das THW oder zumindest die Feuerwehr benachrichtigen?“ fragte Beate. „Wir können hier doch nicht unsere Gäste zu Gefangenen machen!“

      „Wir haben keinen Außenkontakt!“ flüsterte er und sah zu mir herüber. Er kannte meine Vertrauensstellung bei der Kanzlerin.

      „Keinen Außenkontakt?“ fragte Angies Büroleiterin ungläubig.

      „Ich habe es von der Amtsleitstelle erfahren. Man möchte jedoch im Moment keine Panik schüren. Gibt ja auch keinen Grund dazu. Aber alle Drähte nach draußen sind gekappt. Das bleibt bitte unter uns!“

      „Das kann nicht sein! Weiß Herr Altmaier davon?“

      Die beiden entfernten sich und ich konnte die Antwort nicht verstehen. Aber jetzt war ich hellwach. Ich deckte Gaby und Yousef zu, deren Decken heruntergerutscht waren, und legte meine Decke über ihre Füße. Dann ging ich den langen, nur von Notleuchten erhellten Gang entlang in Richtung der Partystimmung. Ich machte mir keine Gedanken, woher die Notbeleuchtung ihren Strom bezog. Meine Gedanken waren überall, nur nicht bei dieser scheinbar belanglosen Frage.

      Eine Band spielte eine von mir nicht definierbare Mischung aus Progressive House und Big Beat. Mein Musikgeschmack ist zu unbedarft, als dass ich erkennen konnte, worauf das Organisationsteam um die Moderatorin, Frau Illner, die Band festgelegt hatte. Was mir heute noch in Erinnerung ist, bezieht sich auf die Bässe. Ich wusste nicht, ob sie „house“-gemacht oder von draußen stammten.

      Vor mir sah ich Anna-Maria Mühe, wie sie sich mühelos durch den Pulk von bekannten Gesichtern bewegte, und meine Augen hefteten sich an ihr zauberhaftes Kleid. Ich liebe sie platonisch. Ich liebe sie als Schauspielerin. Sie ging ins Untergeschoss. Im Party-Notbehelfs-Raum, den ich bis zu dieser Nacht noch nie wahrgenommen hatte, herrschte eine angenehme Temperatur und überall brannten die Kerzen. Sie verbreiteten ein merkwürdiges Licht. Es war eine Sommernacht, Kerzen sind es jedoch gewohnt um die Adventszeit herum zu flackern. An den Wänden waren Skulpturen aufgestellt. Ich meine sogar, auf dem Körper eines abstrakten Dinosauriers den Kopf eines ebenso abstrakten Gerhard Schröders ausgemacht zu haben. Aber das ist künstlerische Interpretationsfreiheit.

      Die Kellner und Kellnerinnen trugen weiße Togen und machten mit Cocktails und kleinen Kanapees die Runde, die ich natürlich ignorierte. Low-Carb-Diät, wenn Sie wissen, was ich meine. Das Behelfsbüffet entdeckte ich auf der linken Seite neben dem Standort der Band. Ich ignorierte es mit Höchstignoranz. Ich sah Frank-Walter Steinmeier davor stehen und machte einen diplomatischen Bogen. Vielleicht konnte ich ihm ja später etwas über die Ukraine, über die dortigen Fracking-Experimente und die Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten entlocken. Im Moment war mir nicht danach.

      Gaby schlief, Ken Jebsen konnte ich nirgendwo entdecken, also näherte ich mich der Smalltalkgruppe, die sich um die Kanzlerin gebildet hatte. Günther Jauch stand schlacksig neben meiner Chefin, die jetzt pummelig und etwas plump aussah. Volker Bouffier, mein CDU-Landesvater, und sein grüner Stellvertreter Tarek Al-Wazir standen dabei. Wieder hörte man ein fernes Grollen, als tobe sich die Natur einmal anständig aus - und lege uns eine dringende Warnung nahe. Ich sagte bereits: Komisches Wetter. Komische Gäste. Und – mich eingeschlossen – komische Gastgeber. Denn wir alle, die wir im Kanzleramt arbeiteten, hatten ein komisches Gefühl. So viel Pleiten, Pech und Pannen hatten wir hier selten erlebt. Weder funktionierten die Amtsleitungen, noch unsere Handys oder auch nur die Handys unserer Gäste. Soweit wir durch die Fenster unserer Büros nach draußen in die regendurchpeitschte Nacht blicken konnten, sahen wir keinen Menschen. Und keine Fahrzeuge. Und keine Straßenbeleuchtung. Berlin schien wie tot.

      Verwunderlich war, wie gelassen die Partygäste alles hinnahmen; den Ausfall der gesamten Elektrik, das Ausbleiben externer Hilfe, ihre Quasigefangenschaft im wichtigsten Regierungsgebäude der Europäischen Union. Ich glaube, es ist das Vertrauen in solch einen riesigen Apparat, der die Unbedarften ruhig bleiben lässt. Aber es flossen ja auch Bier, Wein, Sekt, Saft und Champagner. Und Lafer kredenzte alles, was das teure Partyherz begehren mochte. Dass wir auch auf der Ebene der Kommunikation von der Außenwelt völlig abgetrennt waren, dass die unterirdischen Zugänge zu den Ministerien der Verteidigung und des Innern total blockierten, dies war zu diesem Zeitpunkt freilich nur einem internen Zirkel bekannt: Angela Merkel, Amtsmanager Altmaier, Außenmanager Steinmeier, Frau von der Leyen und mir sowie den beiden Chefs der hausinternen Sicherheitsgruppe.

      Die Gäste waren ahnungslos. Man unterhielt sich glänzend über dies und das, tauschte allerlei Informationen und noch mehr Belanglosigkeiten aus. Als die ersten Gäste gehen wollten, überzeugte sie Altmaier mit seinem berüchtigten Charme, den ich hasste. „Wir haben im Moment ein kleines elektrisches Malheur mit der Schleusenfunktion unserer Sicherheitstüren und würden Sie gerne bitte, vielleicht noch ein Stündchen mit uns zu feiern.“ Das war gegen ein Uhr am Morgen.

      Nach einem Party-Krisengipfel im Büro der Kanzlerin mit dem erwähnten internen Zirkel verkündete um zwei Uhr morgens Maybritts lieblich-strenge Stimme, man müsse sich aufgrund besonderer Umstände damit abfinden, entweder bis zum Morgen durchzufeiern oder aber vom Übernachtungsangebot


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