Chats. Thomas Tippner

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Chats - Thomas Tippner


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verliebte.

      Ein Mädchen, wie er heute noch wusste, das ihn von dem Moment an verzaubert hatte, als er sie durch die Tür des Klassenzimmers treten sah, in dem er gelangweilt saß und darauf wartete, dass der Deutschunterricht begann. Ein Mädchen mit einem geflochtenen Pferdeschwanz, dessen pechschwarzes Haar so dicht und fest war, dass er verwirrt das Verlangen in sich aufsteigen spürte, es berühren zu wollen – zu müssen.

      Dazu trug das Mädchen, Miriam Hansen, ein geblümtes, bis zu den Knien reichendes Kleid, das anfing, die in ihr erwachende Frau konturenhaft nachzuzeichnen.

      Es hatte Daniel damals wie einen Blitz getroffen. Einem Einschlag gleich, der in ihm Regionen zum Vibrieren brachte, die bis heute in ihm zerrten und surrten, und immer dann zu spielen begannen, wenn er jemanden traf, den er faszinierend fand.

      So wie Miriam damals. Jana heute.

      Ich war ein Trottel und ich bin es noch heute, gestand er sich, als er es sich gestattete, noch einmal an Miriam Hansen zu denken. Wie er sich fühlte, als er ihr schüchternes Lächeln erkannte, das auf ihren Lippen lag, und sie verlegen den Blick senkte, weil die auf sie gerichteten Augen ihrer neuen Mitschüler, die sie unverhohlen und nur allzu deutlich musterten, ihr unangenehm waren.

       „Das ist Miriam“, hatte seine Lehrerin die Neue damals vorgestellt, und dann auf einen freien Platz an Daniels Tisch gezeigt. „Da kannst du erst einmal sitzen, bis wir einen besseren Platz für dich gefunden haben!“

      Den Stich, den Daniel damals spürte, war ihm noch lebendig in Erinnerungen. Ebenso das dazugehörende, ihn heimsuchende Gefühl der Peinlichkeit. Er wusste, oder er glaubte zu wissen, dass seine Lehrerin, Frau Boscop, ihn nicht mochte. Da waren die versteckten Angriffe auf ihn. Die schneidenden Worte, wenn sie über ihn sprach, oder das ihn mit Absicht drannehmen, wenn sie wusste, dass er ihr eine Antwort auf ihre Frage schuldig bleiben würde.

      Er brauchte nur an den zurückliegenden Sportunterricht zu denken, als in der hintersten Ecke eine seiner Klassenkameradinnen geweint hatte, weil sie einen Ball an den Kopf geschossen bekommen hatte. Daniel, der ein leidenschaftlicher Fußballer gewesen war, und es heute ab und zu auch noch glaubte zu sein, war von Frau Boscop direkt angegriffen worden, als sie sagte: „Na, hat unser Daniel mal wieder angeben müssen, was er alles kann?“

      Daniel, den heißen, senkenden Stich der Anfeindung in sich spürend, war nicht dazu imstande gewesen, dem verbalen Angriff seiner Lehrerin irgendetwas entgegenzusetzen. Zu überrascht war er gewesen und zu überrumpelt, dass sie, ohne nachzudenken, ihm die Schuld gab, wenn einer seiner Mitschüler weinte.

      Und eben, weil sie ihn offensichtlich auserkoren hatte, immer und überall schlecht zu machen, trafen ihre Worte ihn unvermittelt in der Brust.

      Miriam, die Frau Boscops Erwiderung ebenso verstanden hatte wie alle anderen in der Klasse, hob den Kopf. Sie schaute zu der streng aussehenden Lehrerin, deren Lächeln wie das Zuschnappen einer Hundeschnauze wirkte, und ließ sich mit einem: „Setz dich schon“, auf ihren Platz komplimentieren.

      In Daniel begann das Feuer der Wut und der Liebe zu brennen.

      Die Wut, das wusste er Jahre später, war nichts anderes gewesen als eine Wand, hinter der er sich verstecken und verkriechen konnte, wenn es in seinem Leben nicht so lief, wie er es wollte. Wenn er eine Möglichkeit suchte, sich zu verstecken und anderen die Schuld dafür geben konnte, dass alle Ungerechtigkeiten der Welt nur ihm widerfuhr.

      So wie Frau Boscop.

      Sie hatte Schuld, dass seine Noten in Deutsch schlecht waren – sie mochte ihn ja nicht.

      Sie hatte Schuld, dass seine Leistungen in Mathematik dürftig waren – sie mochte ihn ja nicht.

      Sie hatte Schuld daran, dass er sich nicht traute Miriam anzusprechen und sie zu fragen, ob sie Lust hätte einen Nachmittag mit ihm zu verbringen – sie mochte ihn ja nicht. Und, und das wog am schwersten, hatte sie Miriam indirekt zu verstehen gegeben, dass es in der Klasse bessere Jungen gab, mit denen sie sich einlassen sollte.

       Wie hätte er sich das: „Da kannst du erst einmal sitzen, bis wir einen besseren Platz für dich gefunden haben!“, sonst erklären können?

      Heute, so viele Jahre später, wusste Daniel, dass das Bullshit war, was er damals dachte. Dass es nichts weiter war, als der einfachste Weg, sich aus der Affäre zu ziehen und, anstatt sein eigenes Versagen zu analysieren, es in die Schuhe seiner damals strengen, aber dennoch fairen Lehrerin zu schieben.

      Die Wut auf Frau Boscop war noch Jahre später in ihm.

      Immer dann, wenn er Miriam auf der Straße traf, sie aus der Ferne betrachtete oder erst bei MeinVZ addete, oder später dann bei Twitter, Facebook und Co. betrachten und bewundern konnte. Dass er miterleben konnte, wie sie nach und nach ihre Karriere als Fotografin ausbaute, und jetzt, wie er letztens gesehen hatte, sogar um die Welt flog, um für Bildbände und Dokumentationen Fotos zu schießen.

      Sie war eine Chance, die man hatte und die man versäumt, dachte er jetzt, während er Janas Bild betrachtete.

      Er wünschte sich wieder die gleiche Wut in sich zu spüren, wie er sie damals auf Frau Boscop gespürt hatte. Nur einmal noch die Schuld nicht bei sich, sondern bei anderen suchen. Nur einmal noch vor der Frau stehen, der sein Herz gehörte und dann ängstlich meinen: „Schon gut. Hat sich erledigt“, und seinen ganzen Hass auf eine andere Person fokussieren.

      So, wie er es damals gesagt hatte.

      So, wie er, als er all seinen Mut zusammengenommen und Miriam vorsichtig auf die Schulter getickt hatte, als sie unten an der Bille am großen Steg stand, gedankenverloren aufs Wasser schaute, während neben ihr ihre beste Freundin stand.

      So wie er, als ihn der Mut verließ, und er sich am liebsten dafür geohrfeigt hätte, auf ihr: „Ja?“, nicht angemessen reagierte.

      Ob es die verträumte Einbildung eines langsam älter werdenden Mannes war, der seiner Vergangenheit hinterhertrauerte, oder es die Wirklichkeit war, wusste Daniel nicht mehr zu sagen. Aber heute, so viele Jahre später, war er sich sicher, dass er in ihren Augen ein erfreutes, ein erwartungsvolles Blitzen gesehen hatte.

      Ein kurzes Aufglimmen der Freude, dass der Junge sie ansprach, für den sie insgeheim schwärmte.

      Als Daniel aber an Miriam vorbeischaute, hin zu der kleinen, untersetzten Freundin, die immer zwei geflochtene Zöpfe trug und in ihren quietschgelben Kleidchen aussah wie eine lebendig gewordene Puppe, rutschte ihm das Herz in die Hose. Er spürte, wie er Angst bekam, und er der Meinung war zu hören, wie Frau Boscop sagte: „Da kannst du erst einmal sitzen, bis wir einen besseren Platz für dich gefunden haben!“

      So hob er nur die Hand, strich sich eine in die Stirn gefallene Haarlocke beiseite und drehte sich dann, nach einer zwanglosen Plauderei, einfach herum. In sich ein Gefühl der Abscheu, des Ekels und der unbändigen, kochenden Wut, die er auf sich selbst spüren sollte.

      Die er aber, ganz seinem damaligen Naturell folgend, auf Frau Boscop lenkte.

      Daniel musste lächeln, während er sich mit den Händen durchs Gesicht fuhr und er begriff, dass er Jana wieder schreiben wollte. Dass es ihm ein Bedürfnis war, noch einmal mit ihr zu reden, sie zu hören und ihr gegenüberzusitzen.

      Und deine anderen Probleme?, fragte ihn die ängstliche Stimme. Was ist mit ihnen? Deinen Vater hast du bis heute nicht zurückgerufen, um über DAS Problem zu sprechen. Du weichst ihm aus.

       WhatsApp Nachrichten lesen?

       Geschweige denn beantworten?

       Fehlanzeige, Cowboy!

       Du igelst und schottest dich ab von der Außenwelt.

       Kein feiner Charakterzug.

       Ganz und gar nicht!

      „Ich muss arbeiten. Ich habe Abgabetermine“, murmelte er leise, um seine eigenen Gedanken übertönen zu können.

      Was ihm nicht gelang.


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