Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Das hatte ich zwar schon einmal in früherer Erkenntnis begriffen, aber doch immer wieder verdrängt. Den Nachweis, mehr Indiz als Beweis, hatte ich gerade gefunden. Erotikbücher im Nachtschrank von Otto. Da fiel mir das erste Mal so eindringlich wie nie zuvor auf, dass meine Eltern wohl auch Sex miteinander hatten, und dass ich ja der lebende Beweis dafür war. Eine ziemlich komische, wenn nicht gar völlig abwegige bis eklige Vorstellung. Meine Eltern doch nicht!
Doch da waren zu allem Überfluss noch zwei andere Bücher. Sie waren zwar unbebildert, konnten vor Gericht jedoch wahrscheinlich als Indizien vorgelegt werden. Das eine hieß Die Geschlechtsliebe von Dr. med. Karl Treffurth und war aus dem Jahr 1939. Inhalt: Die Fortpflanzung. Die Geschlechtskrankheiten. Die Syphilis. Die Auswirkung der Syphilis auf die Nachkommenschaft. Der Tripper. Dann endlich kam Dr. Treffurth zwei ganze Seiten lang trefflich zur Sache: Die Geschlechtsliebe.
Und schon ging es in buntem Reigen weiter mit Das Rauchen. Die Prostitution. Die Ehe. Die Fruchtbarkeit. Die Geburtenbeschränkung. Die Einkinder-Ehe. Konnte ich damit wirklich etwas anfangen? Dann noch das Hammer-Schlusswort, in dem es heißt: „Die Rasse, welche der Pest der Geschlechtskrankheiten nicht Herr zu werden vermag, wird eben sterben oder Gesünderen den Platz räumen müssen. (Adolf Hitler)“.
Das andere Buch war von 1963 und von einem gewissen Dr. Jacques Bardet und hatte den vielsagenden Titel Die tiefsten und intimsten Geheimnisse der Liebeserregung und Lustvollendung in der gesunden, glücklichen und harmonischen Ehe.
Am nächsten Morgen saßen wir beim Frühstück, und ich konnte meinen Eltern kaum in die Augen schauen. Diese Sexmonster! Wie immer roch mein Vater nach „4711 Echt Kölnisch Wasser“ und hatte seine vollen Haare mit Pomade geglättet. Mutter trug ein dezentes Parfum und roch das ganze Jahr über nach Maiglöckchen. Vielleicht war das einmal im Angebot gewesen. Denn Angebote waren inzwischen schick geworden. Die moderne Hausfrau orientierte sich bereits an Sommer- und Winterschlussverkäufen und in der Zwischenzeit eben nach allerlei sonderbaren Sonderangeboten.
„Otto, reich mir bitte mal die Butter“, bat Lollo.
„Im Tausch gegen die Hershey’s gerne“, sagte mein Vater.
Mutter hatte uns wieder mal verschiedene Leckereien aus der PX und ihrem Offiziershaushalt mitgebracht. Ich liebte die ausgefallenen Marmeladen und natürlich eine Tube, aus der man weiße Marshmallow-Creme drücken konnte. Wie lecker war das denn! Nicht mal Negerküsse konnten da mithalten. Diese sich dahinziehende weiße Tubenfüllung war der Hit.
Es war total normal, dass die dunkelhäutigen Amis »Neger« hießen. Auch unsere Lehrer sagten tatsächlich »Neger«. Aber einer meiner ehrenamtlichen „Lehrer“, mein aufmüpfiger Pfadfinderführer, hatte mich inzwischen gelehrt, dass die »Neger« es nicht gerne hören, wenn man sie »Neger« nennt. Doch in meinem Kopf und bei meinen Schaumkuss-Bestellungen am Kiosk gab es im Moment dennoch dafür kein anderes Wort als »Negerkuss«.
„Wird Zeit, dass wir uns auch einen Wagen anschaffen“, sagte Mutter. „Ewig Bahn- und Tramfahren, das muss doch nicht sein. Andere fahren mal ihre Verwandten in Buxtehude besuchen. Aber du kannst mit deinem Motorrad doch keine fünf Personen irgendwo-hin mitnehmen! Außerdem ist das Motorradfahren viel zu gefährlich bei all dem Verkehr!“
Der Verkehr hatte tatsächlich rapide zugenommen. Gab es 1950 nur 2.128 Autobahnkilometer, so hatten sie sich bis 1970 bereits mit 4.110 Kilometer knapp verdoppelt. Entsprechend war die Anzahl der Automobile gestiegen. 1960 gab es rund 4,5 Millionen PKW, fünf Jahre später schon fast die doppelte Anzahl, und 1970 hatte sich die Zahl der Autos auf 14 Millionen verdreifacht. Otto war immer öfter nachhause gekommen und hatte über die rücksichtslosen Autofahrer gewettert. Insbesondere fielen ihm wiederholt die „Vilbeler Was- serbauern“ auf, das waren die Klein-LKW, die das Sprudelwasser und andere Mineralwässer aus den Bad Vilbeler Quellen an die Frankfurter Läden, aber auch an Privathaushalte lieferten.
Mutter ließ nicht locker: „Selbst die Maiers haben jetzt ein Auto!“
Die Maiers waren Aussiedler, so nannte man die Zuwanderer mit deutschen Wurzeln, die aus einem Staat des Ostblocks im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens übergesiedelt waren. Wir kannten die Maiers vom Sportverein. Sie waren vor sieben Jahren bettelarm aus Rumänien in Hessen angekommen. Durch irgendwelche staatlichen Vergünstigungen und Zuschüsse hatten sie es in kürzester Zeit zu einem Häuschen in einem Frankfurter Ortsteil und nun auch zu einem VW-Käfer gebracht. Einen Fernsehapparat hatten sie vor uns. Otto sagte dazu nur: „Ja, ja, die Flichtlinge, denen geht’s gut! Flichtling müsste man sein!“
Günter war aus Berlin zu Besuch. Er sagte: „Geht es uns etwa nicht gut? So einen Beruf wie du hast, da lecken sich andere ja die …“
Vater unterbrach ihn. „Streich dir nicht die Marmelade so dick auf‘s Brötchen. Du wirst immer dicker!“
Eigentlich hatte Günter Recht. Vater hatte einen komfortablen Beamten-Status bei Väterchen Staat mit vielen großen und kleinen Freiheiten. Mit einem gesicherten Monatsgehalt inklusive regelmäßiger Gehalts- steigerungen bloß durchs Älterwerden, inklusive fetter Pension, wenn’s mal soweit war. Er konnte sich seine Arbeitszeit einteilen und statt Baustellen auch mal den Sportplatz besuchen. Die ausgelassenen Baustellen graste er dann am nächsten Tag im Schnelldurchgang auf seinem Motorrad ab.
„Also, das Motorrad passt nicht mehr in die Zeit!“, rief Mutter aus. Mit ihrer thematischen Beharrlichkeit war das Frühstück gelaufen. Vater war leidenschaftlicher Motorradfahrer und würde sich niemals freiwillig von seiner Miele, Baujahr 1959, trennen. Die Firma Miele stellte in den Fünfziger Jahren nicht nur Waschmaschinen, Staubsauger und Geschirrspülmaschinen her, sondern eben auch Mopeds und Motorräder. Das war deutsche Markenqualität nach Ottos Geschmack. Niemals hätte er ein ausländisches Technik-Produkt gekauft. Ich glaube, da steckte noch eine gute Portion von althergebrachtem Nationalismus drin. Andere sagen, das alles sei reine Vertrauenssache. Egal.
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