Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig

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Sexy Zeiten - 1968 etc. - Stefan Koenig


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dass der Tod uns scheidet“, antwortete Hanna.

      Wir haben uns später nur noch auf Demos gesehen. Erst als Hanna mit dreißig Jahren ihre Zwillinge bekam, konnte ich erleichtert aufatmen. Irgendeiner hatte es geschafft und sie zur Frau gemacht.

      Als Lollo vom Ende meiner ersten großen Liebelei erfuhr, fragte sie mich, ob ich Liebeskummer habe, weil ich seit einigen Tagen so einen bedrückten Eindruck mache. Ich solle den Liebeskummer so nehmen, wie er komme, das sei völlig normal und überhaupt hätten viele Mütter schöne Töchter.

      „Nein“, sagte ich, „… kein Liebeskummer, eher …“ Ich stockte. Sollte ich gestehen, dass ich das erste Mal in Mathe eine Fünf geschrieben hatte? „Also ich habe in Mathe eine Fünf geschrieben.“ Ich zog die Arbeit aus der Schultasche. „Würdest du mir das unterschreiben?“

      Lollo sah sich das Ergebnis an und meinte, dass das nicht weiter tragisch sei, wenn es nicht zur Regel würde. Mathe sei doch eines meiner starken Fächer, ob ich nicht genügend gelernt habe.

      In Mathe, für das Herr Dr. Vierengel, ein wellenhaariges Double von Einstein, zuständig war, ging’s um Differentialrechnung. „Was hat es mit der Steigung auf sich?“ Woher sollte ich das wissen? Produktregel und Quotientenregel, Kettenregel, Umkehrregel – irgendwie gingen mir all die Regeln auf den Keks. Ich war gerade dabei, Regeln zu brechen, statt sie zu beachten. Mein momentanes Lebenskonzept orientierte sich eher am G-Punkt und nicht an mathematischen Wende- und Sattelpunkten. Auch Kurven- und Funktionsschar bedeuteten mir etwas völlig anderes. Was war die Ortskurve im Vergleich zu Amy’s Kurven! Was war die mathematische Potenzableitung im Vergleich zu meiner Potenzleistung!

      Mit Amy ging es ganz flott. Wir verliebten uns im Handumdrehen und hatten auch Petting-Sex wie er im Lehrbuch stand. Amy wollte aber Jungfrau bleiben. Ich musste es wohl oder übel hinnehmen, was mir nach der missglückten Versuchsreihe gar nicht so unrecht war. Als September-Geborener war ich selbst eindeutig Jungfrau. Lebenslang Jungfrau – laut Sternzeichendeutung volle Pulle zuverlässig, ehrlich, ordentlich, gründlich, diszipliniert und demütig. Leider waren auch meine negativen Eigenschaften auf dem Aufkleber der Astrokram-Kiste vermerkt. Demzufolge war ich unnahbar, streitlustig, übervorsichtig, prüde, mürrisch und rechthaberisch.

      Respekt vor Amy’s Jungfrauendasein hin oder her, es wurmte mich, nicht bis ganz in die Tiefe der Liebe vorgestoßen zu sein. Pit hatte sich zwischenzeitlich auch ein Fräulein aus der Bettinaschule geangelt und wenn es nach seinen Worten ging, dann war da schon richtig was gelaufen. Das befeuerte natürlich mein Verlangen. Jetzt war er mir einen Schritt voraus. „Wie fühlt sich das an?“, fragte ich ihn.

      „Musst du doch selber wissen“, sagte er. „Du warst doch mit Hanna im Bett.“

      „Ja“, log ich. Aber es war ja keine richtige Lüge. Al- lerdings auch keine richtige Wahrheit.

      „Und wie hat es sich bei dir angefühlt?“, fragte Pit zurück.

      „Exakt wie bei dir. Einfach gut.“

      „Und so schön weich und feucht, stimmt‘s?“, sagte Pit. Ab da glaubte ich, dass es Eins zu Null für ihn stand.

      *

      Fränki war unser Klassenbester, aber von Liebelei und Sex hatte er keine Ahnung. Rein biologisch konnte er in Bio alles erklären. Mädels waren für ihn allerdings Außerirdische. Als unser Klassenlehrer fragte, wer Interesse an einem Tanzkurs hätte, wurden wir Zeuge des denkbar Unmöglichen. Zu unser aller Erstaunen flog Fränkis Hand als erste hoch. Herr Hahn arrangierte mit der Klassenlehrerin unserer Partnerklasse im benachbarten Bettina-Mädchen-Gymnasium, Fräulein Löwen, einen Tanzkurs.

      Wir alle waren der festen Überzeugung, dass unser verheirateter Lehrer etwas mit seiner unverheirateten Kollegin hatte, denn das erste Mal und ein paar Mal zwischendrin waren beide auf Besuch in der Tanzschule und tanzten eine Runde mit. Wange an Wange, weil das eben Standardtanz war. Auch Fränki tanzte Wange an Wange und mutierte zum besten Tanzbeinschwinger der Klasse; einfach unglaublich.

      Mein Tanzschulmädchen hieß Conny, hatte Hasenzähnchen und trug wahrscheinlich die Kleider ihrer Oma auf. Sie war anschmiegsam und hatte im Gegensatz zu mir den Rhythmus schnell drauf. Ansonsten versprühte sie das Flair einer gelangweilten Schildkröte. Die war nix für mich. Unser Tanzlehrer sah aus wie ein italienischer Gigolo und legte hin und wieder sogar eine kostenlose Gesangseinlage ein. Der Tanzkurs war so teuer, dass meine Eltern mir mit dem totalen Taschengeldentzug drohten, falls ich es wagen sollte, den Kurs zu schwänzen. Die hatten den richtigen Riecher. Mittendrin schwänzte ich ihn auch zwei Mal, einfach weil es meine Treue und mein Verlangen nach Amy verlangten. Conny konnte sich ja nebenher von Fränki bedienen lassen. Der hatte wohl überschüssige Kapazitäten, denn wenn einer von uns anderen ausfiel, konnte Fränki im-mer einspringen und tanzte zugleich mit zwei oder gar drei Mädels. Der Hit war er bei denen trotzdem nicht.

      Die Frau des Tanzschulchefs sah aus wie ein gnadenlos gealtertes Model, hatte es aber beim Tanzen voll drauf. Bevor man uns Tanzschritte beibrachte, lernten wir von ihr Anstandsregeln nach Knigge: Der Mann geht auf der Straßenseite, die dem Verkehr zugewandt ist, damit er gelegentlich als erster überfahren wird und die Frau am Leben bleiben kann, auch wenn sie vielleicht den rechten Arm oder beide Beine verliert. Der Jüngere wartet, bis der Ältere ihm die verrunzelte Hand reicht. Man reicht zuerst der Dame die Hand, aber auch nur, wenn sie einem ihre Pfote als erstes entgegenstreckt. Man zieht den Hut, wenn man jemanden be-grüßt. Aber mit Hüten hatten wir es nicht so. Wir schlugen im Winter eher einen ausgefransten Schal über den Kopf, und ich stellte mir vor, wie ich den Schal vornehm abnehme und meinem Gegenüber damit höflich ins Gesicht wedele.

      Dann übten wir am Eingang des Tanzsalons, den Mädels galant die Tür aufzuhalten. Älteren Personen bietet man in Bus oder Bahn den Sitzplatz an und steht dabei auf. Das übten wir nicht praktisch, aber wir waren im Ernstfall immer höflich und taten, wie uns geheißen. Da waren wir ganz Gentlemen. Und noch etwas: Der Mann hilft der Dame in den und aus dem Mantel – aber nur, wenn sie einen anhat und dazu bereit ist. Manche tragen ja nix unterm Mantel, die sollte man nicht in Verlegenheit bringen, haben wir uns gedacht. Und wenn jemand niest, sollte man nicht vergessen, „Gesundheit“ zu wünschen, auch wenn’s vielleicht schon zu spät ist. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert.

      Pit sprach mich an, ob wir eine Schul-Theater-AG gründen wollen. Ich sagte ab, weil mir das zu viel Stress war, obwohl es mich reizte. Im Juni war unsere Klasse in dem neuen Theaterstück von Peter Handke gewesen. Unser Deutschlehrer, Herr Cornelius, hatte Karten für das Stück »Publikumsbeschimpfung« ergattert und uns vorgewarnt, dass das alle Theatertraditionen durchbrechen würde. Da spielten dann die Schauspieler beispielsweise Publikum und beschimpften sich selbst und uns. Am Ende applaudierten sie dem Parkett.

      Wenn wir so was Revolutionäres in der Penne machen würden, hätte ich gute Ideen gehabt, wen wir alles beschimpfen könnten. Zum Beispiel den Direx, der immer noch den Nazi-Englischlehrer im Kollegium dul-dete. Dann würden wir Schimpfkanonaden ablassen über den Geier und andere lehrende Schizos. Für den Stenografie-Lehrer, Herrn Geier, mussten wir aufstehen, wenn er den Klassenraum betrat, und im Chor brüllen: „Guten Morgen, Herr Geier!“

      Dann antwortete er zackig: „Guten Morgen, Schüler!“ Er ging zum Stuhl am Lehrerpult und wischte die Sitzfläche mit seinem Stofftaschentuch sauber, um sodann seinen rechten Fuß mit den Straßenschuhen drauf abzustellen.

      Er schaute uns seelenruhig für zwei ewig lange Minuten ins Gesicht und fragte, was heute im Steno-Unterricht dran komme, was natürlich keiner außer ihm wissen konnte. Er schüttelte missbilligend den Kopf, nahm den Fuß vom Stuhl, wischte die Sitzfläche wieder gewissenhaft ab und setzte sich. Er holte mich an die Tafel und ließ mich anzügliche Worte stenografieren oder „übersetzen“. Ich sollte solche Worte herausfinden wie Mieder, Strumpfhalter, Leibchen, Strapse, Männerschutz und Büstenhalter. Zu jedem Wort wollte er von mir wissen, was das ist und wozu es dient. Einfach Plemplem der Mann. Aber eine Theater-AG nur, um es solchen Typen heimzuzahlen? Nee. Und wenn doch, dann eventuell später. Vielleicht nach der Revolution.

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