Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig

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Sexy Zeiten - 1968 etc. - Stefan Koenig


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mit Vietnam und was hat Vietnam mit uns und mit deiner Faulheit zu tun? Arbeitsscheues Gesindel seid ihr!“, kam prompt die Reaktion.

      Pit, Hanna und ich saßen auf der runden Steinumrandung des Brunnens. Neben Pit saß Jean-Francois, den wir der Einfachheit halber Frankholz nannten. Er kam aus der Nähe von Paris, und er hatte bis vor einem Monat zwei Semester in Warschau studiert. Neben Hanna saß eine Gruppe Tramps aus London, San Francisco und Kopenhagen.

      Jamie, die schöne achtzehn Jahre alte Mischung aus deutscher Mutter und farbigem US-Vater, saß gemeinsam mit ihrer lieblichen, drei Jahre jüngeren, wunderschönen Schwester Amy uns gegenüber am Brunnen. Amy und ich tauschten verstohlen Blicke aus. Ich fand sie interessant. Sie hatte sich von mir einmal ein Gedicht gewünscht. Seitdem dachte ich oft an sie, was ich Hanna natürlich nicht verschwieg, weil wir ja völlig eifersuchtslos drauf sein wollten. Später sollte ich diese revolutionäre Offenheit bereuen. Neben uns wurde gerade wieder einmal das Übliche diskutiert. Faulpelze, die wir seien. Schmarotzer und so weiter.

      „Wir Steuerzahler arbeiten, damit ihr hier rum-gammelt! Schämt Euch! Ihr solltet euren Lebensunterhalt selbst verdienen“, sagte ein erregter Beamtentyp.

      „Niemand muss wegen uns arbeiten. Wir wollen von niemandem Geld. Wenn wir hier faulenzen, dann …“

      „Aber ihr bettelt doch; ihr nehmt doch Geld von denen, die euch bemitleiden!“, zischte der Mann dazwischen, der sich später als Postbeamter outete.

      Klint lachte ihn aus und sagte: „Wir faulenzen, weil wir dafür Gründe haben. Was wir hier machen, lässt sich einfach erklären: Wir wehren uns dagegen, dass wir von dieser Leistungsgesellschaft total verplant werden. Arbeiten, Geld verdienen, Steuern fürs Militär zahlen, Sterben, das ist uns zu wenig. Das Leben ist so vielfältig Es hat noch einen anderen Sinn außer nur Geld, Geld, Geld.“

      „Ohne Moos nix los! Das müsstet ihr doch selber am besten wissen“, konterte der Postmensch. „Guck mal an dir runter, wie zerlumpt und verdreckt du rumläufst!“

      In der neuen BRAVO war ein Interview mit einem Milchbubi abgedruckt. Ob er auch gerne Gammler sein würde. „Für kurze Zeit ein dufter Gammler zu sein, würde mir schon Spaß machen. Aber jahrelang rumhängen, sinnlos gammelnd die Zeit vertrödeln, find ich doof.“

      Ich fand Milchbubi doof. Wer dachte schon an jahrelanges, sinnloses Rumhängen?

      *

      Am 10. September, zwei Tage vor meinem Geburtstag, unterlag der deutsche Boxeuropameister Karl Mildenberger dem Weltmeister im Schwergewicht Muhammad Ali im Frankfurter Waldstation. Mein Vater hatte sich esrt geärgert, weil er keine Karten mehr bekommen hatte. Jetzt war er froh, dass er die Niederlage seines Lieblingssportlers nicht so hautnah miterleben musste.

      Meinen siebzehnten Geburtstag feierte ich als provisorischer Single, nicht mehr mit Hanna im Bunde – und noch nicht mit Amy Hand in Hand. Stattdessen feierte ich zum letzten Mal in meinem Leben, wie ich hoffte, als Teenager mit der Familie in der Drogerie von Tatti und Onna. Tatti war die Schwester meiner Oma väterlicherseits. Für meinen Vater waren Tatti und Onna eine der wenigen verbliebenen verwandtschaftlichen Anlaufstellen seiner Ursprungsfamilie. Die beiden betrieben eine klassische althergebrachte Drogerie, die wie ein Krämerladen eingerichtet war.

      Wenn man die Tür zum Laden aufmachte, bimmel-ten fünf Glöckchen anmutig und einladend. Hier roch es nach Seifen, Parfüms, Kräutern und nach vielen süßlich duftenden Köstlichkeiten, die in Bonbongläsern auf der rechten Seite der Theke standen. Honiggläser und Kleinartikel aus dem Pflegebedarf fand man in großen Körben und auf zart geschwungenen Metallständern an den Seiten des Ladentischs. Die Regale waren vollge-stopft mit Toiletten-, Pflege- und medizin-ähnlichen Artikeln.

      Braune Apothekengläser enthielten Lösungen, Al-koholika und aromatische Öle. Zwischen dem linken Theken-Ende und dem letzten Drittel des Verkaufstischs befand sich eine hochklappbare Thekenplatte. Tatti begrüßte mich ganz herzlich mit einer Umarmung und einem der gefürchteten Wangenknutscher, der wieder mal kein Ende nahm. Sie gratulierte mir zum Geburtstag und sagte: „Hinten sitzen schon alle und warten auf dich und sind hungrig.“ Dann klappte sie die Thekenplatte hoch und schob mich vor sich her. Es ging drei Holzstufen hoch. Ich freute mich auf meine Geheimschublade und hörte schon das Geplapper und Lachen.

      Ich zog einen schweren Vorhang zur Seite – und da saßen alle um einen großen Tisch, auf dem bereits ein dampfender Pott mit Rindswürsten wartete, und alle schnatterten durcheinander. Wie immer hatte jeder seinen Stammplatz eingenommen. Nur keine Veränderung in der Sitzordnung, davon könnte vielleicht das ganze Land zu-sammenstürzen!

      Tattis Mann, im blütenweißen Drogeriekittel, klein, untersetzt, mit blitzenden, klugen Augen, kochte Tee und Kaffee. Tante Polly, auch eine Schwester meiner verstorbenen Oma, saß neben ihrer Tochter Lydia und deren Mann, Onkel Franz. Daneben saß meine heimliche Lieblingscousine Marion. Omas dritte Schwester, Gretel, und ihre Tochter Ellen mit meiner Cousine Elke saßen genau vor meiner Geheimschublade, was auf mich wie eine Grenzkontrolle wirkte. Diese Schublade hatte für mich seit meiner Kindheit eine besondere, verlockende Bedeutung.

      Elke hatte nur ein Jahr vor mir das trübe Licht unseres braun-schwarzen Mufflandes erblickt, sah aber aus, als wäre sie fünf Jahre älter und war groß wie eine Giraffe. Dann war da noch „Tante“ Paula mit „Onkel“ Adolf, die irgendwie über tausend Ecken mit Papa verwandt waren, aber keiner konnte mir jemals verraten, auf welche Weise. Bei der Begrüßung stellten sich alle so an, als ob sie mich seit Jahren nicht gesehen hätten.

      „Ach, bist du groß geworden!“ Und nachdem Onkel Franz das Radio mit der dahinplätschernden Fußball-Übertragung ausgeschaltet hatte, stimmten sie alle das übliche Geburtstagslied an – Zum Geburtstag viel Glück.

      „Sitze ich vor deiner Geheimschublade?“, fragte mich Polly, das eitle und sehr vornehme Tantchen.

      „Wie immer“, sagte ich, ging zu ihr und gab ihr ein zartes Küsschen auf die Stirn.

      Die beiden unteren Schrankschubladen hinter ihrem Stammplatz waren mit allerhand Drogeriepröbchen vollgestopft. Dort durfte ich mich immer mit vier kleinen Fläschchen Sanostol eindecken. Meistens trank ich das sirupartige pappsüße Vitaminpräparat noch vor Ort nacheinander aus. Doch auch andere Pröbchen lagen da zuhauf: Cremes, Parfüms im Puppenstubenformat, abgepackte Bonbons, Bohnerwachsdöschen und Miniseifen.

      Ich musste erstmal aufs Klo. Im Flur nahm mich Onkel Franz in den Schwitzkasten: „Na, du junger Poet, haste was für’n heutigen Vortrag mitgebracht?“ Das hatte ich nicht. Aber weil mir gerade das Thema Kriegsdienstverweigerung in den Fingern juckte, hatte ich am Vorabend ein Gedichtlein fabriziert, das ich im Club Voltaire mit Lerryn‘s Gitarrenbegleitung vortragen wollte. Lerryn war in meiner Parallelklasse und stellvertretender Schulsprecher. Außerdem war er engagierter Juso und komponierte seit seinem dreizehnten Lebensjahr Songs zur Gitarre.

      „Na gut“, sagte ich zu Onkel Franz. „Ein Gedicht, ein einziges, aber nicht mehr!“

      Zurück am Ereignisfeld musste ich wohl oder übel die Arschkarte ziehen und durfte über Los gehen. Und ich legte los.

      vorgestern

      lag ich noch in windeln

      gestern

      lernte ich noch

      heute

      frag ich mich

      warum ich gestern noch lernte

      denn

      voraussichtlich

      nach dem lauf der geschichte

      wie’s halt so kommen muss

      bin ich morgen kanonenfutter

      Ich machte eine dichterische Verbeugung vor all den offenen Mündern, aus denen die Ahh’s und Ohh’s in einer Art Kanon hervorquollen und sich schließlich in einem verwandtschaftlich-vertrauten Stöhnen vereinten. Diskutiert wurde nicht. Geklatscht auch nicht, aber das hatte ich auch nicht erwartet.


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