Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Wunsch meiner Mutter, die unbedingt selbst Geld verdienen und arbeiten gehen wollte. Er versuchte sie zu bestechen. Er setzte ihr das Taschengeld herauf. Er erhöhte ihr den Haushaltsetat, das sogenannte Haushaltsgeld, mit dem sie für die Familie einkaufen konnte. Er unterschätzte jedoch ihren Willen. Und der wiederum hing von ihrer Herkunft ab. In ihrem Elternhaus hatte sie von der Pike auf schwäbische Diplomatie gelernt, das war Liberalität gepaart mit Willensstärke und Beharrlichkeit.
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Lollos Elternhaus, in dem wir seit 1962 wohnten, hatte Opa Gottlob Arnold für seine Frau Anna und die vier Kinder bauen lassen. Mit Anna war er in jungen Jahren aus Schwaben nach Frankfurt gezogen und hatte in Bornheim eine kleine Kohlehandlung eröffnet. Das Geschäft expandierte nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Nach dem Krieg, den weder Opa noch Oma überlebten, übernahm Mutters Bruder Paul das Geschäft. Es boomte. Das von den USA aus politischen Einflussgründen großzügig geförderte bundesdeutsche Wirtschaftswunder ließ die Kohleöfen der Haushalte schon bald links liegen, und wenig später sprudelte das Öl. Aus den Kohlehändlern wurden reiche Ölhändler.
Mit dem Verschwinden der Kohle aus dem heimischen Handel, verschwand bei Onkel Paul und seiner Frau, der an sich liebenswürdigen Tante Klärchen, zunehmend die Empathie für das Familienleben der Verwandtschaft. Der wachsende Reichtum erforderte offensichtlich eine stabile Abschottung nach außen. Das war Mitte der Fünfziger Jahre. Nun gab es für mich als kleiner Junge trotz zunehmendem Wirtschaftswunder selbst hier keine Bonbons oder Schokoladen-Ecken mehr. Schon in diesen jungen Jahren spürte und sah ich den neuen Reichtum und konnte den neuen Geiz nicht verstehen. Je reicher, desto geiziger, dachte ich mir und war schließlich sauer auf diese komische Verwandtschaft.
„Das sind jetzt typische Neureiche“, sagte mein Vater. „Da wird jetzt auf eine neue Immobilie hingearbeitet.“
Die Kohle kam nicht mehr zurück. Sie blieb verschollen. Und auch Mutters Lieblingsbruder Fred blieb verschollen. Er hätte gemeinsam mit Onkel Paul das Geschäftserbe antreten sollen. Bis ins Jahr 1978 hatte die Verwandtschaft noch auf ein Lebenszeichen von Onkel Fred gehofft. Seit 1945 waren das DRK und das Internationale Rote Kreuz in seiner Suchangelegenheit eingeschaltet gewesen, ohne jeglichen Erfolg. Wir haben bis heute nicht erfahren, wann, wie und ob Fred zu Tode kam. Ewig wurde spekuliert. Meine Mutter meinte, dass er ein klassischer Witzbold gewesen sei, der jedermann zum Lachen brachte. Aber gerade dies könne im Krieg auch tödlich sein. Sie spielte darauf an, dass ihr Bruder noch im Schützengraben Witze über den Führer gemacht haben könnte, den er schon vor dem Krieg ironisch als GröFaZ bezeichnet hatte, als „Größten Feldherrn aller Zeiten“. Vielleicht hatten ihn die eigenen Leute wegen Wehrmachtzersetzung hingerichtet.
Mutters Schwester, Tante Anneliese, die wir Dada nannten, vermutete natürlich, dass er in russischer Kriegsgefangenschaft umgekommen sei, denn dort hätten die Deutschen ja nix zu fressen bekommen. Anders als bei den Amis, den Franzmännern oder den Briten, bei denen es ja noch zivilisierte Menschen gegeben habe. Sie verschwieg geflissentlich, was mir erst mit zunehmender Kritikfähigkeit klar wurde: Wie sollten die Sowjets 3,2 Millionen deutsche und andere Kriegsgefangene in der erbärmlichen Nachkriegszeit großartig „durchfüttern“, wenn genau diese Soldateska zuvor das gesamte sowjetische Ackerland verwüstet, die Industrie zerstört, Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht hatte?
Aber Dada war das typisch deutsche, im doppelten Wortsinne blauäugige BDM-Mädel: treudoof dem Führer und der Ideologie der Herrenmenschen ergeben. Und ihr persönlicher Herrenmensch war Onkel Karl, der ihr die Story von den bösen Russen aus Sicht seiner deutschblauen SS-Augen nahegebracht hatte.
Erst im letzten Schuljahr, als unser Englischlehrer, der in unserer Klasse ungeniert NPD-Propaganda betrieb und Broschüren gegen „Die Rote Gefahr“ verteilte, recherchierten wir Schüler die wahren Sachverhalte der braunen Barbarei. So erfuhren wir, dass bis Kriegsende 5,7 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, von denen 3,3 Millionen ums Leben kamen. Insgesamt hatten wir Deutsche 29,5 Millionen Menschen aus der Sowjetunion auf dem Gewissen. Den NPD-Furzer wurden wir übrigens los. Er wurde 1968 aus dem Schuldienst entfernt und avancierte zum Fahrlehrer. Von ihm wurde später erzählt, dass er seine Fahrschüler mit „Heil“ begrüßte und sie grundlos zusammenschiss und ihnen, wie damals uns, seinen braunen Propagandamist zumutete.
Auch zu jener Zeit sprach meine Mutter immer noch mit großer Trauer in der Stimme von ihrem Lieb-lingsbruder Fred. Eine ihrer Freundinnen, die einmal mit Fred näher befreundet gewesen war, meinte, dass er sich wahrscheinlich aus Scham für sein Vaterland mit den Russen verbündet und sich dort eine neue Existenz eingerichtet habe. Lollo konnte sich das zwar nicht vorstellen, aber möglich war alles.
Die Ungewissheit war nagend. Die komische Tante Ria war Freds Frau. Die Großeltern hatten ihr bei Kriegsausbruch, als Fred zur Infanterie eingezogen wurde, versprochen, sie dürfe die oberste Etage der dreigeschossigen Stadtvilla bis zu ihrem Lebensende bewohnen. Das war ein familiär wie auch finanziell teures Versprechen, und meine Familie hatte darunter noch oft zu leiden. Ganz schlimm für meine Mutter wurde es, als Ria 1963 ihren Mann, Lollos Bruder, für tot erklären ließ. Meine Mutter sprach zwei Jahre lang kein Wort mit ihr. Und wir lebten im gleichen Haus, waren ja ein Jahr zuvor gerade eingezogen. Meine Eltern fühlten sich wegen ihr wie Fremde im eigenen Heim.
Das also war mein Elternhaus. Unter diesen Bedingungen pubertierte ich 1966 vor mich hin. Pit, mein bester Schulfreund, kam aus einem ehrgeizigen katholischen Elternhaus und hatte wie ich die Bornheimer Realschule besucht. Die drei Erstbesten aus unserer Klasse hatten die Chance bekommen, aufs Gymnasium zu wechseln. Seine Eltern legten großen Wert darauf, dass er werktags fleißig Hausaufgaben machte und nur am Wochenende zum Bummeln mit Freunden in die Stadt gehen durfte. So gingen wir oftmals zusammen den langen Weg von Bornheim zur Stadtmitte, bis wir unsere kleine Freiheitsinsel am Brunnen erreichten.
Unsere kurze Wanderschaft von Bornheim zur Stadtmitte dauerte rund eine halbe Stunde, sparte uns das Geld für die Tram und wir hatten viel Gelegenheit zum Quatschen und Planen. Am Brunnen hockten in langer Reihe bereits unsere bekannten – aber auch neu angekommenen – Beatniks, Provos und Gammler. Sie saßen auf ihren zusammengerollten Schlafsäcken oder einfach auf einigen Lagen Zeitungspapier. Die einen spielten Gitarre oder Mundharmonika, während die anderen Bücher und Musik-Zeitschriften lasen oder Porträts von „unseren“ hübschen Frankfurter Mädels zeichneten. Ein wenig neidisch waren Pit und ich schon.
„Die Gammler haben alle mehr Chancen bei den Weibern als wir“, sagte Pit.
„Die Mädels stehen auf Abenteuer, die wir ihnen nicht bieten können“, sagte ich. „Wir sind Langeweiler für sie.“
„Aber du! Du bist doch ein Gammler!“ Pit sah mich von der Seite an. „Guck mal wie du aussiehst.
Ich wusste nicht, ob er es ernst meinte. Manchmal verarschten wir uns mit trockenen Witzen. Mein Parka war stilecht, aber leider neu. Meine Schlaghose war dunkelgrün und schwarz gestreift und unbefleckt, und insgesamt sah ich eher wie ein Groupie der Stones aus, als wie ein waschechter Gammler. Ich hatte eher das Aussehen eines Beatniks. Denn schließlich waren wir ja die Beat Generation.
Hier unter den Gammlern wurde viel englisch gesprochen, natürlich vorrangig deutsch, in breitem bayrischem und fränkischem Dialekt oder Berliner Slang, aber auch holländisch und französisch hörte man. Rundum wurde diskutiert. Da kamen dann auch braunschwarze Wutbürger, deren Scheuklappen-Augen einen solchen freien Anblick nicht ertragen konnten, und sie schimpften drauflos.
Wenn man sie pöbeln ließ und mit der Gitarre und Mundharmonika dagegenhielt, verzogen sie sich nach einer Weile. Doch auch vernünftige Diskussionen zwischen den beiden Polen der spießbürgerlichen Gesellschaft waren durchaus möglich. Uns gegenüber die Besitzenden, und neben mir die Besitzlosen. Dort die sauber Gewaschenen, hier die Ungewaschenen. Arbeitssame gegen Arbeitsverächter, die sich im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt stritten.
„Warum lässt euer Gott solche Verbrechen wie in Vietnam zu?“ fragte Klint, einer der gebildeteren Provos, in die Runde der Diskutanten. Manche Gammler konnten auch in tiefgründigen Gesprächen mithalten, hatten einige