Der letzte Tag. Walther Nithack-Stahn

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Der letzte Tag - Walther Nithack-Stahn


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aufwühlend die Orgel, die den leisen, beklommenen Gesang der Menge überdröhnt:

      Tag des Zornes, Tag voll Bangen,

       Da die Welt in Glut zergangen,

       Wie Propheten vormals sangen!

      Zittern in der Erde Gründen

       Wird des Richters Nah'n verkünden,

       Der die Herzen will ergründen.

      Die Posaun' im Wundertone

       Sprengt die Gräber jeder Zone,

       Fordert alle hin zum Throne.

      Und ein Buch wird aufgeschlagen,

       Drin ist alles eingetragen,

       Welt, daraus dich zu verklagen!

      »Alsdann fliehe auf die Berge, wer im Lande ist. Und wer auf dem Dach ist, der steige nicht hernieder, etwas aus seinem Hause zu holen. Und wer auf dem Felde ist, kehre nicht um, seine Kleider zu holen. Wehe aber den Schwangeren und Säugerinnen zu der Zeit. Denn es wird alsdann eine große Trübsal sein, als nicht gewesen ist von Anfang der Welt. Wahrlich, ich sage euch, dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe.«

      Ach, was werd' ich Armer sagen,

       Wessen Hilf' und Schutz erfragen,

       Da Gerechte selber zagen?

      König, furchtbar hoch gekrönet,

       Doch der Sünden weit versöhnet,

       Hilf mir, der um Gnade stöhnet!

      »Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht. Es wird aber sein wie in den Tagen der Sintflut: sie aßen, sie tranken, sie freieten und ließen sich freien und achteten's nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin. Darum wachet, denn ihr wisset nicht, welche Stunde der Herr kommen wird.«

      Ledig sprachest du Marien,

       Hast dem Schächer selbst verziehen,

       Hoffnung ist auch mir verliehen.

      ... An das harte Gestein des Pfeilers gedrückt, steht Sigrid, hat im Gedränge schützend die Arme um die kleine Mutter und die Geschwister gelegt, und die Felsenkühle im Rücken durchschauert ihr alle Glieder. Halb nur hörend, sieht sie das menschenerfüllte Riesenschiff mit zerborstener Decke in rasendem Fluge himmelwärts gezogen in eine weißglühende Hölle fahren. Noch ein einziger tausendkehliger Schrei, der im Feuerwirbel verweht, und Steine und Leiber zerschmelzen, verrauchen, in Atome zerstoben. Und dann? ...

      Da lebt noch eine Stimme; jetzt aus der Nähe, von steiler Höhe herab redet sie, redet scharf und klar. »Meine Brüder und Schwestern, es ist die letzte Stunde. Gott fordert von uns, daß wir auf die Zeichen der Zeit achten. Das Zeichen am Himmel ist da, die Gelehrten deuten es uns. Aber es sind noch andre vorhanden; es lag nur an unsrer Blindheit, daß wir sie übersahen. Bekennen wir's frei und der Wahrheit gemäß: die Welt ist reif zum Untergange, sie war es schon längst, wir lebten von einer Gnadenfrist. Blicken wir als die Sterbenden, bevor das Bewußtsein schwindet, noch einmal auf das zurück, was man die Weltgeschichte nennt. Ohne Zweifel, sie war ein Fehlschlag. Die Menschheit hat nicht gehalten, was sie versprach. Es ziemt uns nicht, den Schöpfer darum zur Rede zu stellen, vielmehr uns selbst zu verantworten. Denn uns ward eine Freiheit gegeben, wie keinem Wesen der uns bekannten Welt: eine Freiheit, die wir mit allen Denkerkünsten uns nicht ausreden können, denn sie lebt in uns. Wie haben wir sie genützt? Tiefbeugendes Urteil, das wir uns sprechen müssen! Keine Gattung der Lebewesen hat gegen alle anderen und gegen sich selbst gewütet wie wir. Wir haben grause Selbstsucht nicht nur geübt, wir haben sie zum Gesetz erhoben und heilig gesprochen. Ihre wildesten Auswüchse nannten wir ›tierisch‹, ungerechtermaßen, denn das Tier bleibt in der Grausamkeit selbst natürlich. Wir aber haben das Menschliche in uns verleugnet und verspottet. Nie gab es Wesen unter der Sonne, so verschlagen, so arglistig, so verstellt wie wir. Wir haben uns den Dämonen gleichgemacht, die das Böse wollen. Wir, denen als Höchstes die Ahnung der Gottheit geschenkt ward, haben gewagt, uns Götter zu erdichten nach unserem Bilde, die unsren Sünden zulächeln und sie segnen. Wir haben sie zu Hilfe gerufen, wenn wir die Erde mit Menschenblut düngten, wir haben bei ihrem Namen einander geflucht. Wir haben das Edelste, dessen wir fähig sind, Liebe, als Maske gebraucht, uns zu betrügen. Die Seltenen unter uns, die Menschen genannt werden durften, wurden verlacht, und wenn ihre Güte uns ärgerte, wurden sie ausgerottet. Und als das Größte geschah, seitdem unser Stern die Sonne umkreist, als der Sinn unsres Lebens Fleisch und Blut ward und unter uns wandelte, haben wir ihn an das Kreuz geschlagen. Ja, wir haben das Äußerste getan: haben dieses Denkmal unsrer Schmach auf die Altäre gesetzt als eine Sühne für uns, haben uns dahinter versteckt und weiter gefrevelt.

      Nun endlich, endlich ist unser Maß voll. Gott kommt, unserem sinnlosen Treiben ein Ende zu machen. Gott – nicht der, den wir anmaßlich ›Vater‹ nannten, womit wir meinten, daß er nur da sei, uns zu verzeihen – sondern der wirkliche Gott, der die heilige Weltordnung wiederherstellen muß und diesen Schandfleck der Schöpfung tilgen.

      Ich sage nicht, daß er auf einem Throne sitzen und uns einzeln richten werde – wir sind schon gerichtet – sondern wenn unsre Körper verbrennen und in den Weltstoff zurückkehren, so wird das Ewige in uns, das wir mißachtet haben, so fortleben, wie wir in diesen Lebzeiten gewollt. Das ist die Hölle, die sich vor uns auftut –«

      »Ich habe nicht leben wollen! Niemand hat mich gefragt! Die Welt ist nicht gefragt!«

      Aufschreit's eine heisere Mannesstimme. Von den Gewölben hallt's zurück, erstirbt. Der auf der Kanzel steht, die Arme auf die Brüstung gestützt, hält inne. Totenstille. Nur in der Mitte des Schiffs, woher die Stimme kam, entsteht flüsternde Wellenbewegung, wie leises Bitten und Zureden. Da reckt sich eine Hand auf, wieder schreit es: »Was hat mir das Leben gebracht? Zum Krüppel war ich bestimmt, kein Glück hab' ich gesehen, arm und einsam bin ich! Niemand darf mich verklagen! Wenn einer da ist, der das alles wollte – er soll nur kommen – er soll sich nicht ewig verstecken! Ich klage ihn an – ich klage!«

      Die Hand, geisterhaft blaß, ballt sich zur Faust, starrt wie die eines Ertrinkenden aus dunklen Fluten empor. Diese wogen auf, in wallenden Kreisen schlägt es an die ragenden Mauern mit leisem Rauschen, wird wieder still.

      Jetzt klingt es ruhig von oben: »Mein Freund, er tat dir nicht unrecht. Er wies deiner Seele diese Wohnung an mitten in der Unendlichkeit. Du solltest dir eine Welt erschaffen aus allen Sonnenkräften deines Wesens – warum schufst du dir keine bessere? Wir sind alle Mißschöpfer gewesen; nun empfangen wir, was unsre Taten wert sind.«

      »Gibt es denn keine Gnade?!« Eine schmerzhafte Frauenstimme ruft's irgendwoher aus einem Winkel im dunklen Walde der Pfeiler. Ein Aufstöhnen geht durch das Menschenmeer und sinkt in Schweigen zurück.

      »Ja, es gibt Gnade. Man unterbrach mich, als ich es sagen wollte. Sie ist freilich ganz unfaßbar. Und wie kann einer an Gnade glauben, der verklagt? Es soll unser Letztes sein, daß wir darum flehen ...«

      Wieder braust es mit Donnergrollen über das Volk hin, schüchtern heben sich die Stimmen:

      Mit zerknirschtem Herzen wende

       Asche ich zu dir die Hände:

       Gib erbarmend mir das Ende!

      Gedrängt, fast getragen von der Welle der Menschenleiber, die aus den Portalen in den dämmernden Abend quillt, getrennt von den Ihren, bleibt Sigrid wie im schweren Traume zu Füßen der großen Freitreppe stehen und sieht der herunterströmenden Masse zu. Ist es nicht, als stiegen sie Schritt für Schritt hinab in ein großes, gemeinsames Grab? Dort der Alte mit den verwitterten Zügen, der so abschiednehmend in den fahlen Himmel hinaufstarrt; da das Kind, das an der Mutterhand behutsam Stufe um Stufe nimmt, als fürchte es um sein kleines Leben, nicht ahnend, daß es schon verloren ist. Dort die stolze Frau, die ihren kostbaren Pelzkragen ordnet und prüfend ihr Kleid hinunterblickt; zürnt sie, weil es im Gedränge zerknittert worden? Ist sie dem Schicksal gram, da sie bald nichts mehr zur Schau tragen kann? Halt, da ist der Verwachsene, dem der Kopf zu tief zwischen den Schultern sitzt – ihr scharfes Auge erkennt ihn wieder, wie er mit langen Armen durch das


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