Freie Republik Lich - 2023. Stefan Koenig

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Freie Republik Lich - 2023 - Stefan Koenig


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und da steht noch etwas: Der Bürgermeister möchte das gesamte Areal von 20,5 Hektar am liebsten auf einen Schlag an den Mann bringen. Und zwar an einen einzigen Mann.“

      „Er denkt da wohl an Jeff Bezos, den Chef von Amazon“, sagte Stella und grinste verschwörerisch. „Meinst du das funktioniert?“

      „Amazon wird eine Nummer zu groß sein, aber wer weiß! Ob das funktioniert mit dem »einen Schlag an einen Mann«? Der Bürgermeister bejaht das. Mr. Groß ist sich zu achtzig Prozent sicher, dass das klappt. Er hofft, dass schon nach der Sommerpause der Kaufvertrag mit irgendeinem Großinvestor abgeschlossen werden kann.“

      „So schnell? Das geht doch gar nicht! Müssen da nicht andere Gremien mitentscheiden?“, stieß Stella ungläubig hervor, und sie sah mich – ich kann es nicht anders beschreiben – entsetzt an. „Solche Verfahren mit all den notwendigen Umwelt- und Bauauflagen dauern doch normaler Weise einige Jahre, und die Bürger erhalten ausreichend Zeit, um Einwände zu erheben. Das muss doch rechtsstaatlich ablaufen!“

      „Sieht mir aber eher nach Hauruck-Verfahren aus, als wolle man etwas hinter dem Rücken der Bürger durchpeitschen“, antwortete ich.

      „Wer ist eigentlich der besagte Investor?“, fragte Stella.

      „Steht nirgendwo. Scheint ein Betriebsgeheimnis zu sein.“

      Bei nächster Gelegenheit fragte ich Andrea, Stellas beste Freundin, die einen schnuckeligen, schicken Schuhladen namens »Schuhsalon« betrieb. „Hast du etwas über den geheimnisumwitterten Investor gehört?“

      Obwohl Andrea jede Menge Kundenkontakte hatte, war sie ratlos. „Scheint ein Rätsel zu sein, an das der kleine dumme Bürger erst in Kreuzworträtselform herangeführt werden muss“, meinte sie augenzwinkernd.

      Auch Stella selbst hatte sich in der Zwischenzeit umgehört, konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, wer gemeint sei. So vergingen die Monate, bis ich am letzten Tag im November zufällig im Licher Wochenanzeiger einen Leserbrief entdeckte.

       »110.000 Quadratmeter groß und 20 Meter hoch! Wer braucht so ein Monster?«

       Unser Lich ist eine wunderschöne historische Kleinstadt – und jetzt das! Man will uns ein bauliches Monstrum mit einer Höhe von 20 Metern vor die Nase setzen, mit all den sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Nebenwirkungen. Glauben Sie nicht? Aber bitte: Fragen Sie doch Ihren Arzt oder Apotheker!

       Der Bürgermeister verlässt uns zwar im nächsten Jahr, aber sein monströses Vermächtnis wird uns damit immer vor Augen bleiben. Er will jetzt schnell noch alles unter Dach und Fach bringen. Will er auch seine Schäfchen ins Trockene bringen? Lässt er uns Bürger noch genügend Zeit mitzuentscheiden? Haben unsere gewählten Vertreter genügend Zeit zur sachlichen Prüfung? Ich empfehle den Stadtverordneten einen Besuch in Nieder-Mockstadt. Hier steht nämlich ein abschreckendes Beispiel für ein Hochregallager. Fragen Sie die dortigen Bürger nach dem LKW-Verkehr! Dann weiß man, was uns hier erwartet. Verhindern Sie, verehrte Abgeordnete, eine falsche Entscheidung, bevor es zu spät ist.

       Wir sollten den Focus auf das, was unsere Stadt wirklich ausmacht, nicht verlieren. Lich ist keine Industriestadt. Es geht um den Werterhalt von historischem Kulturgut, um eine lebenswerte Umwelt, eine intakte Natur – es geht um unsere Lebensqualität.

       Edith Neuer-Süß

      Wer so engagiert für sein Städtchen eintrat, wusste gewiss etwas über den Investor zu sagen, wenn …, tja, wenn inzwischen zumindest der Name bekannt war. Also beschloss ich, die Dame anzurufen. Vielleicht wusste sie Näheres. Aber da erhielt ich einen dringenden Rechercheauftrag von meinem Verlag – es ging um die vielbesungene Pressefreiheit und den Fall Julian Assange – und so vergingen drei Wochen, bis ich Frau Neuer-Süß endlich an der Strippe hatte.

      „Ich glaube, wenn ich meinem Informanten vertrauen kann, dass der Großinvestor, von dem der Bürgermeister so lange schon geheimnisumwittert spricht, »Wüst AG« heißt. Aber man kann der Sache nicht trauen. Es ist jedenfalls noch nicht offiziell“, sagte sie mit einer durchaus freundlichen Telefonstimme.

      „Wissen Sie zufällig, wo und was diese »Wüst AG« ansonsten macht?“

      „Ob ich das zufällig weiß?“, fragte sie mit einem lachenden Unterton, um mir gleich darauf zu erläutern: „Nein, nicht zufällig, sondern durch umständliches Nachforschen habe ich herausgefunden, was für ein Laden das ist.“

      „Ah, das Bürgerbüro hat Ihnen – vielleicht eher etwas widerwillig – die Auskunft erteilt“, warf ich gutgläubig ein.

      „Was denken Sie! Die haben wohl immer noch striktes Geheimhaltungsgebot, oder die Damen vom Bürgerservice wissen tatsächlich von nichts. Ich habe einen Maulwurf in der Golf-Connection. Der weiß Bescheid. Die Wüst AG ist ein bundesweit tätiger Logistikmoloch, der für andere Handelskonzerne die Infrastruktur bereitstellt und ihnen die umstandslose Verteilung ihrer Waren ermöglicht. Das macht er geschickt und fies zugleich.“

      Am Telefon entstand eine Pause und ich rief „Hallo?“ in den Hörer.

      „Musste nur kurz Luft holen“, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung, bevor sie etwas schnaufend fortfuhr: „Dieser Investor kauft also zu Billigstkonditionen Land auf, handelt mit kleinen Bürgermeisterlein, die mit solch großen Geschäften völlig unerfahren sind, alles zu seinen Gunsten aus. Natürlich – wie es in diesen Kreisen üblich ist – gegen ein angemessenes Taschengeld für das Bürgermeisterlein und weitere Angebote. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, arbeitet das Unternehmen überall nach dem gleichen Muster und nutzt dazu ein ausgefeiltes und breitgefächertes Lobby-System.“

      Puhh – Logistikmoloch, Lobby-System, Taschengeld, weitere Angebote, Schweigegebot, Golf-Connection, Geheimhaltung. Sollte ich mich für all diesen Kram interessieren? Ich wusste es nicht.

      *

      Trotz all des städtischen Weihnachtsschmucks lag das Rathaus an diesem Tag in einem tristen Grau, und ein ungemütlicher Regen prasselte gegen die Fassade. Um acht Uhr gingen die ersten Lichter in den Büros an. Langsam aber stetig belebte sich der historische Bau. Bürger kamen und gingen. Mitarbeiter huschten über die Flure. Türen schlugen und der Hausmeister schloss alle gekippten Fenster, da der Regen mit Wucht gegen die Scheiben klatschte.

      Um zehn Uhr war Frühstückszeit, und etwa um diese Zeit herum öffnete Frau Demuth die Tür zum Bürgermeisterbüro einen kleinen Spalt und sagte halblaut: „Ich möchte nicht stören, Herr Groß, aber Ihr angekündigter Besuch, Herr Dr. Wüst, verspätet sich wahrscheinlich um eine Stunde und bittet um Entschuldigung. Ein Stau zwischen Friedberg und dem Gambacher Kreuz, zwei LKW aufeinander gefahren, schwerer Unfall. FFH hat schon berichtet. Kann sogar länger dauern, vermute ich.“

      „Kommen Sie bitte einen Moment herein.“ Der Bürgermeister zog seine blau-grau gestreifte Krawatte auseinander, aber irgendetwas klemmte. Er bekam den Knoten nicht auf. „Nun gut, dann habe ich also noch ein wenig Luft zum Atmen ...“ Er rüttelte an seiner Krawatte, bis er sie endlich gelockert und erleichtert über den Kopf gestreift hatte, und beendete den Satz: „... und genügend Zeit zur Vorbereitung.“ Er sah jetzt auffordernd seine Mitarbeiterin an: „Noch etwas zur Wüst-AG herausgefunden, wo, wie und mit wem die welche Projekte betreiben?“

      Die Vorzimmersekretärin trat vollends in das Groß-Büro ein. „Ich habe nur den Prospekt mit den vertraulichen Referenzen, den Projektbeschreibungen und Skizzen angeschaut. Sieht ja sehr solide aus. Überzeugend, würde ich sagen.“

      „Ja, das finde ich auch. Sehr solides Unternehmen mit offensichtlich starkem Kapitalengagement.“ Das Wort, so fand Bürgermeister Groß, war großartig; er hatte es erst kürzlich gehört – Kapitalengagement. „Die sind dick im Immobiliengeschäft. Dahinter steht wohl auch ein arabischer Großinvestor.“

      „Ein Wüstensohn“, warf Daniela Demuth lächelnd ein. Die blonde Mittvierzigerin warf sich in die Brust, denn sie war stolz auf ihre Assoziation: Wüst-AG und Wüstensohn.

      Arturo


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