Freie Republik Lich - 2023. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Der Deal sollte einfach und praktikabel sein.
Was beide wussten: Die zweite sechsjährige Licher Amtszeit für Groß lief bereits in knapp drei Jahren ab. Wiederwahl wäre zwar möglich gewesen, aber sie hatten andere Pläne … Groß musste aus dem Schussfeld genommen werden. Ein scheinbar neuer, unverdächtiger Mann musste her. Die verbleibenden Monate würden schnell vorbeiziehen. Es musste gehandelt werden; Groß musste jetzt handeln, schnell und umsichtig und sehr gut abgestimmt mit seinen parteiinternen Freunden und Feinden. Wenn er bis zum Ende seiner Amtszeit die Weichen für den Mammutbau im Stadtparlament durchgedrückt hatte, war ihm ein Managementposten im Wüst-Imperium gewiss.
„Aber wie kann ich sicher sein, dass Sie sich an unsere Absprache halten?“, hatte Groß gefragt und seinen Kopf skeptisch zur Seite geneigt.
„Ganz einfach“, hatte der AG-Boss lächelnd geantwortet. „Sie bekommen ab sofort, gewissermaßen auf Vorkasse, einen Beratervertrag, von dem niemand außer uns beiden und meinem Steuerberater, der ab sofort auch Ihr Steuerberater sein könnte, etwas erfährt. Die Steuerbüro-Kosten gehen natürlich auf meine Kappe. Das alles bleibt unter uns. Immerhin gilt noch das Steuergeheimnis. Und dieser Vertrag wird die Klausel enthalten, dass er hinfällig wird, sobald Sie auf einen Managementposten bei der Wüst-AG berufen werden. So handhaben wir das seit Jahren zur Zufriedenheit aller Beteiligten.“
Groß schaute jetzt auf seine To-do-Liste. Er musste zügig handeln. Heute das Show-Treffen mit Dr. Wüst. Morgen würde er dann den Fraktionsvorsitzenden seiner Partei informieren ebenso wie die Erste Stadträtin – noch unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Dann wird er mit der Landrätin telefonieren, die er noch aus guten alten gemeinsamen Zeiten kannte – mit der Bitte um Vertraulichkeit, da dies nur als persönliche Vorab-Info verstanden sein sollte. Danach ein Gespräch mit dem Chef der Bauaufsicht des Landkreises, ein guter Parteifreund aus dem Nachbarort – ebenso streng vertraulich. Auf diese Weise, das war der Rat von Dr. Wüst, würde er ein geeignetes Netzwerk flechten können, um später auf genau dieser Vertrauensbasis zu den gewünschten Entscheidungen zu gelangen.
„Ein einfacher psychologischer Trick“, hatte Wüst schmunzelnd gemeint, jedoch ernsthaft hinzugefügt: „So funktioniert Netzwerk! Und zwar zum gemeinsamen Wohl von Politik und Wirtschaft. Niemand kann sich übergangen fühlen, wenn auf solch ehrliche und vorinformelle Weise verfahren wird. Das ist ein unabdingbarer demokratischer Wert. Und so ähnlich sollten wir …“ Er hatte einen Moment innegehalten, um die Reaktion des Bürgermeisters auf das unvermittelte »wir« zu testen, aber der Rathauschef hatte es gelassen hingenommen. „… so also sollten wir später auch mit den Fraktionsspitzen und behördlichen Entscheidungsträgern vorgehen. Man muss Vertrauen aufbauen!“
Mehr als eine Stunde war vergangen. Noch immer lag das Rathaus in einem tristen Grau, und der Regen prasselte gegen die Fassade. Die an den historischen Laternen befestigten Weihnachtssterne schaukelten im Wind und leuchteten noch nicht, obwohl der tief bewölkte Himmel keinen Lichtstrahl durchließ. Für Besucher wurde die Rathaustür abgeschlossen. Jetzt herrschte Mittagsruhe.
Um diese Zeit herum erreichte Dr. Wüst, der unmittelbar zuvor seine verspätete Ankunft telefonisch angekündigt hatte, das Rathausportal. Frau Demuth machte sich erwartungsvoll auf den kurzen Dienstweg zum Eingangsbereich. Gleich würde sie einem bedeutenden Investor die Tür öffnen. Solch einem wichtigen Menschen war sie noch nie in ihrem Leben begegnet.
Der Mittfünfziger beeindruckte Daniela bereits in den ersten drei Sekunden, obwohl er ihr nur bis zur Schulter ging. Klein, aber oho, dachte sie in diesem ersten Moment. Gewiss sehr durchsetzungsfähig. Es ist dieser kurze Moment, in dem man den wichtigen, den bleibenden Eindruck gewinnt. Der Mann war charmant, hatte ein gewinnendes Lächeln, wenngleich die Entschlossenheit in seinem Blick dem Lächeln die echte Offenheit nahm. Sie mochte ihn auf Anhieb. Der Mann machte etwas her. Er trug einen schwarzen Aktenkoffer bei sich.
*
Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Ein ungewöhnlich warmer Sommer mit einer lang anhaltenden Dürreperiode lag hinter uns. Das Gipfeltreffen zwischen zwei Rocket-Men hatte stattgefunden. Grobes Thema der zwei Grobiane: Weg mit den Atomraketen. Donald Trump und Kim Jong-un waren sich fast um den Hals gefallen, taten der Welt aber nicht den erhofften Gefallen.
Im Gegenteil, sie rüsteten ihr Atomarsenal nicht ab sondern auf. Trump modernisierte seine Atombomben, brachte der Effektivität zuliebe seine Nuklearstreitmacht auf Vordermann. Kim spielte weiter mit seinen Mittelstreckenraketen, um sie für Langstreckentests weiterzuentwickeln und zum letzten Gefecht einsatzbereit zu machen.
Anfang Dezember zeigte AKK vollen Einsatz und erkletterte mit Angies Anschubhilfe den Parteivorsitz der Christenunion. Besondere Vorkommnisse? Nein. Oder waren nicht alles besondere Vorkommnisse? Im Jahresrückblick wurde das Wort des Jahres erwähnt. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hatte entschieden: Wegen der monatelangen Trockenheit in Deutschland hatte es »Heißzeit« auf Platz eins geschafft. Auf Platz zwei landete die »Funklochrepublik«.
Der Moderator der Sendung erläuterte den Begriff, den ich zuerst für ein erfundenes Wortspiel in Anlehnung an »Eiszeit« hielt. Doch von »Heißzeit« reden Wissenschaftler tatsächlich, wenn die globale Durchschnittstemperatur langfristig um etwa vier bis fünf Grad Celsius steigt. Das Wetter war ungewöhnlich heiß gewesen, ich hatte es erlebt, wie auch diese merkwürdigen Gewitterkapriolen. „Am Himmel braute sich das düstere Szenario des Klimawandels zusammen“, fasste der Moderator zusammen. Ich konnte es bestätigen.
Silvester feierte ich nicht in meinem guten alten Heimatstädtchen Laubach, wo ich noch immer mein Zuhause hatte und manchmal meinem Hobby frönte und an Zeitreise-Romanen schrieb. Zu Beginn des Jahres hatte ich den ersten Serienband über die1968er-Jahre abgeschlossen: »Sexy Zeiten – 1968 etc.« Es waren schließlich entscheidende Aufbruch- und Umbruchjahre gewesen. Der Muff der alten Zeit wurde von der Jugend hinweggefegt. Auch die penetrante Prüderie wurde durch die sogenannte sexuelle Revolution ins Abseits gedrängt. Beate Use, Uschi Glas, Oswalt Kolle und solche Typen rückten ins Licht der Öffentlichkeit.
Die Frauenbewegung entstand und selbst der damalige Regierungschef, Willy Brandt von der SPD, forderte, man müsse endlich mehr Demokratie wagen. Es gab also viel zu berichten, Amüsantes wie Tragisches, Hoffnungsloses wie Hoffnungsvolles. Das Jahr 1968 feierte 2018 seinen Fünfzigsten. Und wie bei jedem Fünfzigjährigen, türmte sich mit den Jahren das eine oder andere Problem auf, an das in früheren Zeiten nicht gedacht worden war.
Gerade aber hatte ich den Folgeband über die Hippie-Zeit im Visier: »Wilde Zeiten – 1970 etc.« Die ersten 30 Seiten hatte ich heruntergetippt, aber mehrmals überarbeiten müssen. Das erste Kapitel war immer eine große Hürde, eine erste kritische Schwelle. Aber dann hatte ich die flippige, hippie-mäßige Covergestaltung samt den damaligen Jugendsprüchen entworfen, und das ließ mich vorwärts blicken. Wenn ich den Einband vor Augen hatte, stieg die Motivation zum Schreiben.
Auf dem Cover sollten typische Sprüche der damaligen Jugendkultur stehen: * Love & Peace * Keine Macht für niemand * Lieber gute Hippiefeten als US-Atomraketen * Behaltet euer Tränengas, es gibt genug zum Heulen! … Nun gut, wahrscheinlich kennen Sie das alles.
Aber dann unterbrach ich mein Hobby und ich verbrachte die Tage zwischen den Jahren bei meiner Liebsten in Lich. Am letzten Tag im Jahr saßen wir gemütlich vor ihrem Kamin. Und dann dachte ich spontan an eine TV-Sendung – ob es die noch gab?
Es gab sie noch. Nach Jahren der Abstinenz sah ich gemeinsam mit Stella wieder einmal »Dinner for one«. Es war wirklich immer wieder „the same procedure as every year.“ Wir schauten den Silvester-Klassiker, den wir seit unserer Jugend kannten und genossen – ohne rot zu werden.
Da stolperte der gute alte Butler James elfmal über den Kopf eines ausgelegten Tigerfells und Miss Sophie erwartete, dass James als Admiral von Schneider mit dem schwedischen Ausruf für Prost – Skål! – die Hacken zusammenschlug.
„Muss ich es dieses Jahr sagen, Miss Sophie?“
Miss Sophie: „Mir zuliebe, James!“
James: „Nur Ihnen zuliebe. Sehr wohl, ja, ja. Skål!“ Als die Füße des schon angetrunkenen