Das Tagebuch. Eckhard Lange
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Eckhard Lange
Das Tagebuch
Erzählung
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Inhaltsverzeichnis
26. August:
Ich beginne mit dem Schreiben. Ich beginne, weil etwas in mir sagt: Schreib es auf! Ich kenne diese Stimme nicht. Aber sie ist mächtig. Übermächtig. Deshalb muß ich schreiben. Nein, ich bin kein Schriftsteller, und ich werde es kaum jemals werden. Ich bin ein Schreiber. Bloß ein Schreiber. Schriftsteller wissen, was sie schreiben. Sie wissen, was geschehen soll, sie haben ein Ziel vor Augen. Ein Roman muß ein Ende haben. Sonst wäre es keiner.
Ich weiß nichts. Alles, was ich schreiben werde, ist Zukunft, ist Zufall: Das, was auf mich zukommt; das, was mir zufällt. Ich kenne es nicht. Noch nicht. Es geschieht erst, wenn ich es schreibe. Es hat kein Ziel. Oder besser: Es hat ein Ziel, das ich nicht kenne, das ich nicht plane. Ich weiß nicht, ob es ein logisches Ende haben wird, damit ein Leser das Geschriebene befriedigt, vielleicht sogar beglückt, aber jedenfalls beruhigt zur Seite legen kann. Ich schreibe überhaupt nicht für Leser. Ich schreibe für mich. Ich schreibe, damit meine Erinnerung mich nicht betrügen kann, wie Erinnerungen es so gerne tun. Später, wenn ich es einmal lese, werde ich wissen, was tatsächlich einmal geschehen ist. Weil ich es aufgeschrieben habe. Und vielleicht werde ich dann auch ein Ende finden, ein Ziel entdecken, einen Sinn ausmachen. Vielleicht. Später. Nicht jetzt, wenn ich schreibe.
Ich sitze am Küchentisch, vor mir liegt mein Tagebuch. So will ich es nennen, auch wenn es wohl keines wird. Ich habe den Stift in der Hand, und ich blicke aus dem Fenster, über den Blumenkasten hinweg. Ein Kind spielt vor dem Nachbarhaus. Ich beobachte es oft, dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen. Manchmal ist es ein Junge, viel öfter aber ein Mädchen. Ich kann es nicht unterscheiden. Ist das wichtig? Vielleicht. Wenn es größer wird, muß es sich entscheiden.
Warum schaue ich diesem Kind zu? Aus Neugier? Aus Langeweile? Oder sehe ich dort etwas anderes, etwas, was lange zurückliegt? Blicke ich in einen Spiegel? Da sitzt ein Kind in einem Sandkasten. Es hat Häuser geformt aus dem feuchten Boden, sie an Straßenzüge gereiht, es hat Bäume gepflanzt mit kleinen Stöckchen. Es hat eine Welt erschaffen, nun will sie belebt sein. Unsichtbare Fahrzeuge nutzen die Straße, Motoren brummen, Bremsen quietschen, Hupen ertönen. Unsichtbare Menschen treten aus den Häusern, grüßen einander, reden miteinander.
Eine Stimme hinter mir sagt: „Er führt schon wieder Selbstgespräche!“ Ich werde diesen Satz nicht mehr los. Ich werde ihn nie loswerden. Er verletzt mich. Nicht ich rede, die Menschen reden. Menschen, die dieser Beobachter hinter mir nicht sieht. Nicht sehen kann. Und die doch da sind. Gibt es denn mehr als die eine Welt? Ich sehe etwas, was andere nicht sehen. Warum ist das so? Habe ich etwas zu viel? Oder hat jener Beobachter etwas zu wenig? Und was ist dieses Etwas? Ist es wichtig, oder eher lästig? Das Kind damals hat lange gebraucht, darüber nachzudenken. Eigentlich bis heute. Gehört diesem Etwas vielleicht die Stimme, die gesagt hat: Schreib es auf?
28. August
Muß ich das schreiben? Ja, ich muß. Die Stimme, ich weiß. Aber diese Stimme, das bin ich – ich selbst. Selbstgespräche! Ich befehle mir zu schreiben. Doch warum kann ich mir nicht befehlen, nicht zu schreiben? Obwohl ich das doch manchmal möchte. Weil es nutzlos scheint. Weil ich nicht weiß, warum etwas geschieht – so geschieht. Aber weiß ich das jemals; weiß das überhaupt irgendwer?
Am Nachbartisch sitzt