Das Tagebuch. Eckhard Lange

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Das Tagebuch - Eckhard Lange


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Blicke, diese wachsamen Augen, die sich verstohlen auf dich richten, die dich zwingen, aufrecht zu sitzen, nicht mit der Gabel zu zittern, damit sie nichts von dem verliert, was sie gerade deinem Mund zuführt. Und dann zittert deine Hand, unausweichlich zittert sie, allein wegen der Möglichkeit, jemand könnte sie beobachten, ihren Weg vom Teller bis zu den Lippen verfolgen. Nein, es ist nicht Morbus Parkinson, es ist nackte, aber unbewußte Angst vor dem anderen, der herüberschaut. Niemand könnte sagen, ob es ein rein zufälliger Blick ist, ob der andere an dir vorbei schaut, oder ob er dich im Visier hat, dein Verhalten registriert, seine Beobachtungen speichert, um sie gegen dich zu verwenden.

      Niemand weiß das, aber ich, ich weiß es. Weil es mein eigener Blick ist, der eben dies versucht. Ich frage mich: Spüren die beiden Alten, daß ich über sie Buch führe? Noch nie haben sie aufgeblickt, hierher geblickt. Mag sein, es würde sie auch nicht interessieren, weil sie nichts mehr interessiert. Aber vielleicht registrieren sie dennoch meine Aufmerksamkeit. Auch ohne Blick. Mit einem anderen Sinn. Das würde meine Beobachtungen verfälschen. Nur wer nicht weiß, daß fremde Blicke auf ihm ruhen, gibt sich so, wie man es sich wünscht. Ich muß also vorsichtig sein, sehr vorsichtig.

      Jetzt stehen sie auf und gehen. Ich habe mich entschlossen, ihnen zu folgen – unauffällig und in gebührendem Abstand, wie das ein heimlicher Beobachter tun soll. Sie sind zu Fuß gekommen, so kann ich ruhigen Schrittes hinterher gehen, wie sie dort die Straße entlang schlurfen. Darf man das sagen? Ist das ein korrekter Ausdruck, oder ist er diskriminierend? Aber sie heben beide die Fußsohlen nur ganz geringfügig über das Pflaster. Es ist einfach so.

      Sie gehen, ohne sich zu berühren, Seite an Seite. Nein, das ist falsch. Er ist ihr stets einen halben Schritt voraus. Man sieht es deutlich, wenn man sie exakt im rechten Winkel, von der Gangrichtung her gesehen, beobachtet. Es gibt doch Paare, alte, grauhaarige Paare, die einander beim Gehen an den Händen halten. Vielleicht ist es nur Gewohnheit, vielleicht aber auch jahrelang eingeübte Zuneigung. Doch die Finger meiner beiden Probanden verschränken sich nicht, sie zucken eher zurück, wenn sie einander zufällig berühren. Auch ihre Hände sind schweigsam geworden, haben einander nichts mehr zu sagen.

      Nun treten sie in einen Hausflur. Ich bleibe stehen. Mein Blick schweift über die Fassade. Es ist ein Haus, etwa so alt wie die beiden, mit hohen, verwitterten Fenstern in einer grau verputzten Wand. Wo mögen sie wohnen? Da öffnet sich ein Fenster im ersten Stock. Sie schaut einen Augenblick auf die Straße, ehe sie sich ins Zimmer zurückzieht. Aber es war kein Späherblick, nur die Macht der Gewohnheit, einfach hinauszuschauen. Nein, sie hat mich nicht wahrgenommen, und sie hätte mich sicher nicht erkannt als den Tischnachbarn. Aber ich kann hier nicht einfach stehenbleiben und hinaufstarren, das würde irgendjemand sicher auffallen. Ich schlendere weiter, bis zum nächsten Gebäude, betrachte dort die Auslagen eines Frisiersalons. Sind es Auslagen? Verblichene Kartons, ein paar Reklameschilder, und als Blickfang eine museale Seifenschale mit Rasierpinsel darin.

      Ich gehe langsam zurück, umrunde eine Straßenecke, um sofort wieder dem Haus zuzustreben. Zwei-, dreimal wiederholt sich das Spiel. Ich achte sehr auf das offene Fenster. Es bleibt still dahinter. Was erwarte ich denn? Daß sich die beiden lauthals streiten? Warum sollten sie! Die Zeit des Streitens ist nun schon lange Vergangenheit, jetzt ist die Zeit des Schweigens. Ob nun am Esstisch oder am Couchtisch. Vielleicht gehört das Fenster ja auch zum Schlafzimmer, und das dürfte jetzt leer sein.

      Ob sie getrennt schlafen? Jüngere Paare würden das tun, doch die beiden werden ihre Ehebetten haben, vor vierzig oder fünfzig Jahren gemeinsam erworben und seitdem gemeinsam genutzt. Vielleicht ist sie früher einmal mit ihrem Federbett für zwei oder drei Tage ins Wohnzimmer gezogen, wenn es Streit gegeben hatte. Doch zum Schweigen muß man nicht fortgehen, schweigen kann man nebeneinander. Ob sie einander noch Gute Nacht wünschen, ehe einer das Licht löscht? Gewohnheiten überdauern vieles, selbst die Zeit des Schweigens.

      Ehe ich gehe, studiere ich die Namensschilder neben der Haustür. Es sind neun Klingeln dort, drei für jedes Stockwerk. Das schränkt die Auswahl ein. Ein Schild enthält zwei Nachnamen. Das wird ein junges Paar sein, das dort billigen Wohnraum gefunden hat. Dem zweiten Namen sieht man den Migrationshintergrund so deutlich an, daß auch er ausscheidet. Bleibt also nur das dritte Schild: „Mayburg“ ist da ein wenig verwaschen zu lesen – ohne Vornamen. Die brauchte man damals nicht; wer einen gemeinsamen Namen trug, gehörte eben zusammen – bis der Tod sie scheidet. Oder das Schweigen. Aber das ist nur ein anderer Name für Tod.

      5. September

      Erschrecken: Da sitzen andere an jenem Tisch! Ein junges Paar, der Jüngling – ich liebe diese altmodischen Worte, sie machen das Ganze so wunderbar gewichtig!- der Jüngling also sitzt auf seinem Platz, das Mädchen auf ihrem. Sie sind wie eine Kopie, wie eine Rückblende. Es will mir scheinen, die beiden sehen den Alten sogar etwas ähnlich. Aber ich weiß, das ist Einbildung, Wunschdenken. Auch sie schweigen, aber sie sehen einander an auf diese besondere Weise, die auch eine Sprache ist – eine, die ohne Worte auskommt. Sie lächelt ihn an, und er lächelt zurück. Sie legt ihre Handfläche auf seinen Handrücken, quer über den Tisch. Jetzt dreht er seine Hand um, greift nach ihren Fingern. So bleiben sie eine ganze Weile. Und sie lächeln. Ununterbrochen lächeln sie.

      Ich sehe ihnen zu, unauffällig. Ich frage mich: Was wird mit diesem Paar dort in vierzig Jahren sein, werden sie dann auch schweigen – anders schweigen? Ich hätte es zu gern gewusst, aber ich müsste mehr als hundert Jahre alt werden, wollte ich das beobachten. Doch diese Zeit ist schnelllebig, sie werden sich längst getrennt haben – wie so viele Paare heute. Oder das Schweigen beginnt schon viel früher. Zehn Jahre, fünf Jahre? Wie viel Zeit soll ich ihnen geben, bis sie den beiden Alten gleich geworden sind? Ich könnte sie zu meiner Kontrollgruppe machen. Jede Beobachtung braucht eine Kontrollgruppe. Aber werden sie wiederkommen?

      Da betreten meine Probanden den Raum. Jetzt gilt meine volle Aufmerksamkeit diesen beiden. Was werden sie tun? Ihr Platz ist besetzt. Doch es ist ihr Platz. Werden sie umkehren, empört, enttäuscht, vielleicht sogar darüber sprechen? Werden sie einen anderen Tisch suchen, ausnahmsweise? Und wer wird das bestimmen, er oder sie? Ich sehe ihr ungläubiges Erstaunen, ihre zögernde Unsicherheit. Das war nicht vorgesehen, dafür haben sie keinen Plan, obwohl es doch täglich geschehen könnte. Unmittelbar daneben steht ein zweiter Tisch. Von gleicher Größe, mit gleicher Anordnung der Stühle. Aber es ist nicht ihr Tisch. Hätte ich ein Gegenüber, könnte ich jetzt eine Wette anbieten. So bleibt mir nur die eigene Unsicherheit.

      Ja, sie treten auf diesen anderen Tisch zu, sie setzen sich, den Blick immer noch vorwurfsvoll auf diese Tischbesetzer gerichtet. Ich muß auf einmal lächeln: Plötzlich haben sie wieder etwas gemeinsames, auch wenn sie es nicht aussprechen. Es ist ein anderes Schweigen heute bei den beiden, das spüre ich ganz deutlich. Könnte das ein gutes Zeichen sein? Auch Ärger kann verbinden.

      Das junge Paar hat seine Gedecke erhalten. Nun essen sie, schweigend. Aber ihre Blicke treffen sich immer wieder, nun sind es nur noch die Augen, die lächeln. Müßte mir jetzt nicht eine Erinnerung kommen? Ich habe doch auch einmal so dagesessen, vor langer Zeit. Warum verschwimmen die Bilder immer wieder, kaum daß sie aufgetaucht sind! Wo war das, damals? Der Tisch, der Raum, das Panorama hinter den Fenstern, die Jahreszeit, der Anlaß – nichts lässt sich mehr orten. Und doch habe ich das erlebt, ich weiß es. Nicht nur einmal, sondern oft, sehr oft sogar.

      Vielleicht zerfließen mir die Bilder, weil sich so viele verschiedene mischen! Kränkungen sind immer einmalig, darum scheinen sie so im Gedächtnis zu haften. Glückliche Stunden gab es viele, so viel ist sicher. Aber sie verteilen sich, waren hier und dort, manchmal nur kurz, dann wieder endlos – das alles ist zusammengeflossen im Ungefähren, Ungreifbaren, im Nebel des Vergangenen. Ich hätte es aufschreiben müssen, damals schon, Ort und Zeit, Dauer und Zeugen notieren, damit ich mich noch erinnern kann. Ein nüchternes, pedantisches, akribisches Tagebuch des Glücks – kann es das überhaupt geben?

      Das junge Paar ist gegangen, schwatzend und lachend haben sie den Raum verlassen. Ich hoffe, daß die beiden wiederkommen, vielleicht nicht täglich, aber doch ab und an, damit ich vergleichen kann. Werden auch sie den selben Tisch suchen – jenen Platz, an dem sie doch glücklich waren? Oder ist er ihnen gleichgültig, und später findet


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