Das Tagebuch. Eckhard Lange

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Das Tagebuch - Eckhard Lange


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essen sie ihren Krustenbraten mit Beilage. Beim Essen soll man nicht reden, hat man mir eingeschärft. Auch sie werden es so gelernt haben. Aber sie haben auch vorher nicht gesprochen, als sie auf die bestellten Teller gewartet haben. Sie haben geschwiegen, ohne sich dabei anzuschauen, so wie es manchmal Verliebte tun. Für Verliebte ist allein der Anblick des anderen schon so erregend, daß er sie sprachlos macht.

      Sie haben sich auch nicht umgeschaut wie Menschen, die Neues entdecken wollen, um nachher darüber zu reden. Sie haben vor sich hin geschaut, irgendwo auf den leeren Tisch. Vielleicht war dort ja ein Kaffeefleck, irgend etwas, das dem Auge einen Halt gewährte. Oder es gab gar nichts zu sehen, und sie wollten auch nichts sehen. Schon gar nicht den anderen; denn den kannten sie ja, in- und auswendig, würde man wohl sagen. Glauben sie jedenfalls. Warum also sollten sie sich anschauen? Und worüber sollten sie reden?

      Dabei gäbe es so viel zu sagen, so viele Gedanken, die durch den Kopf gehen. Doch wenn man vierzig Jahre verheiratet ist, muß man sie verschweigen. Ich aber errate sie. „Ich könnte dich umbringen,“ denkt sie. Der Wunsch kam langsam, seit Jahren schon. Eigentlich grundlos, denn er hat ihr nichts getan. Oder war eben das der Grund? Nun ist er da, und bei solchen Augenblicken kommt er ihr in den Sinn. Einfach so, ohne Haß, ohne Verachtung, ohne Wut. Nur wegen der vierzig Jahre. Wegen so vieler verlorener Jahre. Irgendwann wird sie es tun, vielleicht nach weiteren zehn Jahren. Ich sehe es. Ich schreibe es auf, jetzt, hier, damit ich es später beweisen kann, wenn ich es in der Zeitung lese.

      Aber es wird nicht in der Zeitung stehen. Jedenfalls nicht als Totschlag, sondern höchstens als schwarzgeränderte Mitteilung, daß jemand tiefe Trauer trägt um den geliebten und fürsorglichen Ehemann. Solche Taten bleiben unentdeckt, ungesühnt. Es war ja kein Gift im Spiel, kein Hammer und kein Küchenmesser. Es hat gereicht, daß sie ihm schweigend gegenüber saß. Weitere zehn Jahre. Das hat ihn getötet, langsam und qualvoll. Es hätte auch umgekehrt sein können. Denke ich jedenfalls. Hier gilt nicht Mann noch Frau, hier sind sie sich ganz einig in ihrem Denken. Es wird ein Wettstreit werden, wer in diesem Schweigen sich als der Stärkere erweist, wer im Blick auf den Kaffeefleck obsiegt.

      Jetzt trinkt er. Er greift nach dem Glas, führt es zum Mund. Ohne sie anzusehen, ohne das Glas zu erheben auf irgendetwas. Das ist seine Waffe. Einfach nur trinken, weil er Durst hat. Oder weil der Braten zu trocken war. Nur darum. Nur er für sich. Weil es sie gar nicht gibt. Vielleicht wird er es sein, der ihr zuvorkommt, der als erster töten wird. Ich muß es notieren, es ist wichtig für später. Ich muß über das Schweigen reden, nur für mich. Und nur mit mir. Damit ich mich nicht mit meinem eigenen Schweigen umbringe. Ich schreibe gegen den Suizid – meinen Suizid. Denn zum Schweigen braucht es kein Gegenüber, es reicht der Spiegel. Wenn man nicht mehr hineinschaut, weil der Anblick nur noch quält. Auch solch wegblickendes Schweigen tötet. Darum muß ich es aufschreiben, jetzt, hier. Es könnte sonst zu spät sein.

      31. August

      Es ist bereits 13 Uhr, und die beiden sind seit mindestens einer halben Stunde überfällig. Warum kommen sie nicht? Werden sie heute ganz ausbleiben? Eine interessante Frage, eine wichtige Frage. Ich muß mich ihr stellen, muß eine Antwort finden. Ist einer der beiden erkrankt, gestürzt, verletzt, und wer von ihnen wird es sein? Sind sie vielleicht eingeladen, essen woanders, gemeinsam mit jemand anderem? Die Frage wirft neue auf, zieht ungeheure Mengen an Vermutungen nach sich. Bejahe ich sie, dann bedeutet das: Sie leben nicht allein in ihrem Gefängnis des Schweigens; es gibt noch andere Menschen – Kinder, Verwandte, vielleicht sogar Freunde. Aber dann müssten sie reden, ihr Schweigen brechen, antworten, erzählen, vielleicht sogar einander widersprechen. Ist das denkbar? Oder – ich zögere, es niederzuschreiben – hat sie das Schweigen nun umgebracht, beide? Ist der tägliche Gedankenmord zur Wirklichkeit geworden – und wer ist dann der Mörder, wer das Opfer?

      Es fällt mir schwer, das eigene Essen in Ruhe zu verzehren, die Last ungelöster Fragen erdrückt mich. Jetzt weiß ich es sicher: Es wird meine Aufgabe sein, alle Rätsel zu lösen, damit ich sie niederschreiben kann. Ich bin jetzt zum Protokollanten ihres Lebens geworden. Ich bin verantwortlich dafür, ihr Schicksal festzuhalten, damit einmal darüber geurteilt werden kann. Nun weiß ich also, warum ich schreibe. Ich werde Nachforschungen anstellen müssen, Fragen klären, Geheimnisse aufdecken.

      1. September

      Sie sind wieder da, sitzen wie eh und je an ihrem angestammten Platz, schweigen und warten, essen und schweigen. Soll ich sie fragen, warum sie gestern ausgeblieben sind? Die Antwort interessiert mich brennend, ich gebe es zu. Aber die Frage würde mich verraten, weitere Beobachtungen unmöglich machen. Sie wären gewarnt, daß es einen gibt, der ihr Dasein niederschreibt. Sie könnten sich entziehen, und ich könnte nicht über sie schreiben.

      Komme ich deshalb täglich an diesen Platz zurück? Es gibt doch auch anderes, was geschrieben werden muß. Ich könnte meine Erinnerungen notieren, wenn sie durch irgendetwas geweckt werden. Nur die beiden dort wecken keine Erinnerungen. Dabei hätte ich doch genug zu berichten. Schließlich war ich ja nicht ein Leben lang allein, habe ebenso an einem Tisch gesessen, einem anderen Menschen gegenüber. Merkwürdig, daß ich mich nicht erinnern kann, ob wir damals auch geschwiegen haben. Aber ich habe nicht auf einen Kaffeefleck geblickt und auch nicht aus dem Fenster geschaut. Ich habe sie angesehen, das weiß ich genau. Und doch ist da kein scharfes Bild mehr in meiner Erinnerung.

      Warum sind es immer die unangenehmen Dinge, an die ich mich erinnere? Sie haben sich ins Gedächtnis gebrannt, lassen mich aus dem Schlaf aufschrecken, werden durch nichtige Anlässe wieder lebendig. Muß man denn immer nur an die Kränkungen zurückdenken? Es wird doch so oft gesagt, daß die Zeit alles Erinnern vergoldet, daß die Vergangenheit zum Paradies wird, aus dem wir vertrieben wurden. Aber mir wird die Erinnerung zum Stachel im Fleisch, lässt mich eher ins Vergessen flüchten. Dabei gibt es sicher so viele schöne Dinge, irgendwo tief im Gedächtnis abgespeichert. Warum kehren sie nicht zurück, warum muß ich sie mühsam suchen und zweifeln, ob sie auch einmal Wirklichkeit waren?

      Habe ich mich deshalb entschlossen zu schreiben, weil ich das Schöne dokumentieren will, um es nicht zu vergessen? Damit es schwarz auf weiß zu lesen ist, unabänderlich festgehalten, mit akribischem Geist niedergeschrieben. Nur erlebe ich solche Stunden plötzlich nicht mehr, bleibt das Schöne mir fern, gibt es nichts zu notieren.

      Verändert Schreiben Wirklichkeit? Entflieht alles Zarte, Wunderbare, Angenehme, sobald ich es in Worte fassen will? Schreiben ist ein nüchternes Geschäft, erfordert genaue Beschreibung, exakte Formulierung – da hat das Zauberische nichts verloren. Nein, da geht es verloren. Ist es nicht so? Das Zauberische braucht Farben, Töne, Melodien, keine groben Worte. Die Buchstaben sind stets die gleichen, ob sie nun das Grauen oder das Wunder beschreiben sollen, das Sterben oder die Liebe. Wie sollen sie da dem Unbeschreiblichen zu Diensten sein? Schon die Worte verraten es: Was man in tausend Farbtönen malen, mit den zarten Schwingungen einer Saite zum Klingen bringen kann, ist unbeschreiblich – unschreibbar, entzieht sich dem Wort.

      4. September

      Heute haben die beiden Rouladen gegessen, Kohlrouladen, genauer gesagt, mit Salzkartoffeln. Ich habe es längst bemerkt: Stets essen beide das gleiche, obwohl es doch drei Gerichte zur Auswahl gibt. Ist es Gewohnheit? Oder hat eins von beiden das Vorrecht der Auswahl, und der andere muß gehorchen? Ich hätte es gern gewusst. Ich hätte überhaupt so vieles gewusst, seit sich meine Aufmerksamkeit auf die beiden fokussiert. Warum eigentlich? Es ist mir einfach so zugefallen, weil die beiden stets am gleichen Tisch sitzen. Doch tue ich das nicht auch? Gewohnheiten lassen sich so schwer ändern, weil man sie selber überhaupt nicht als Angewohnheit erkennt.

      Ich gebe es zu: Auch ich suche mir einen Platz in einem engen Radius. Er umfasst etwa vier Tische, kleine Tische. Einer von ihnen ist meistens unbesetzt. Wenn ich ihn wähle – manchmal unter zwei oder auch drei leeren Tischen – wie setze ich mich, wohin blicke ich, wem möchte ich gerne den Rücken zukehren? Alles Entscheidungen, die ich Tag für Tag treffe, und doch entziehen sie sich meinem Willen. Es reizt mich, Beobachtungen anzustellen. Aber ich benötige dafür ausreichend Abstand. Habe ich Angst, es würde


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