Bunte Zeiten - 1980 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.In diesem Sinne
Venceremos!
Dein Pit
Um 2 p.m. fuhr ich mit meinem Ford Station Wagon los. In dreißig Minuten würde Lutz auf dem »International Airport« von Frisco landen. Ich brauchte für die zwölf Meilen nur vierzehn Minuten, wie meine Superneuheit auf dem Armaturenbrett zeigte – ein Display mit Kartenmaterial und ungefährer Zeitabschätzung, so etwas Geiles hatte ich noch nie gesehen, fast war ich echt stolz auf diese Ami-Karre. Zwar musste ich die Karte auf dem Display mit der Hand „umblättern“, aber immerhin. Man brauchte sich mit keiner Faltkarte rumschlagen.
Auf dem Weg zum Airport war an der Abfahrt zu Brisbane im Bezirk South San Francisco eine Kontrollstelle eingerichtet. Damit hatte ich nicht gerechnet, weil ich so etwas in den vergangenen zwei Monaten noch nicht erlebt hatte. Ich bekam einen gehörigen Schreck, als ich sah, wie der Driver des Wagens vor mir aussteigen und sich mit weit gespreizten Beinen nach vorne beugen musste, um sich an seinem Wagendach abzustützen. Derweil tastete ihn ein Cop der Highway-Patrol ab, während sein Kollege mit vorgehaltener Pistole daneben stand.
Nach langwieriger Inspektion seiner Wagenpapiere, durfte er nach zehn Minuten endlich weiterfahren. Jetzt war ich dran. Ich stieg sogleich aus und war gerade dabei mich mit gespreizten Beinen aufzustellen, als der Cop lachte und sagte: „It’s not necessary. Just if you make a joke about a weapon. That’s not funny.”
Ich kam zwanzig Minuten zu spät, und am Ausgang des Arrival-Gates erkannte ich schon von weitem den schlank-schlaksigen Lutz in engen beigen Jeans, einem karierten Hemd und mit einem großen Seesack. Neben ihm stand eine blonde langhaarig-gelockte Frau, die etwas älter als er erschien und sich angeregt mit ihm unterhielt. Ich winkte in Richtung der beiden. Als Lutz mich endlich sah, stürmte er auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Ich freue mich wahnsinnig. Aber Moment bitte, ich muss mich noch von Emma verabschieden.“ Er deutete zu der jungen Frau, die uns entgegenkam.
„Ach schön, dass das geklappt hat. Lutz zweifelte schon, ob er abgeholt würde.“ Sie gab mir die Hand. „Ich habe Ihrem Bekannten die Flugangst etwas nehmen können, indem wir uns angenehm unterhielten und durch unsere ablenkenden Erzählungen verging die Zeit viel schneller.“
„Danke, dass du dich so bemüht hast. Darf ich Du sagen?“ Sie nickte und sagte: „Ich heiße Emma, ein guter altdeutscher Name, der …“
„… der vielleicht bald schon wieder in Mode kommt“, ergänzte ich. „Ich bin Stefan.“
„Ich weiß“, antwortete sie ohne meine weiteren Erklärungen abzuwarten. „Lutz hat mir alles erzählt.“
„Danke für die Flugangstbetreuung“, sagte ich lachend zu Emma, und zu Lutz: „Wusste gar nicht, dass du darunter leidest, du Flugangsthase.“
Lutz und Emma drückten sich zum Abschied und sie gab mir die Hand.
Auf der Rückfahrt erzählte mir Lutz, wie er sie kennen gelernt hatte. „Ich bin doch das erste Mal in meinem Leben geflogen, weißt du. Da war’s mir ganz recht, dass ich mich mit jemandem unterhalten konnte. Auf dem Umsteigestopp in London-Heathrow sah ich sie in einer der Sitzreihen des Gates sitzen und setzte mich einfach neben sie und sagte »Hallo, ich bin der Lutz, fliegen Sie auch nach San Francisco?« Da hat sie mich mit ihren großen Augen angeschaut und geantwortet: »Ja, wie alle, die hier sitzen. Hier geht’s ja nur nach Frisco, nirgendwo anders hin.« Naja, so kamen wir ins Gespräch und duzten uns. Sie gab mir einen Kaffee aus, und da wir bereits beim Einchecken unsere Sitzplätze erhalten hatten, baten wir im Flieger die Stewardess, ob wir nebeneinandersitzen könnten wegen meiner Flugangst. Der betroffene Passagier war einverstanden und so saßen wir acht Stunden nebeneinander und erzählten uns unsere Geschichten.“
„War denn der Flug so schlimm?“
„Der Start, das mit dem Rollfeld, und als es dann hochging, das war schon ganz schön aufregend. Und dann die Landung, das Ruckeln und Bremsen, ich dachte, jetzt überschlägt sich der Flieger. Meine Hände kamen ins Schwitzen.“
„Was hat Emma von sich erzählt?“
Emma war fünfundzwanzig Jahre alt, kam aus Berlin und hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt. Was sie in den USA machen wolle, hatte Lutz sie gefragt. Sie habe nichts Besonderes vor, wolle nur ein Jahr überbrücken, bis sie am Berlin-Kolleg aufgenommen würde, um auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abi zu machen. Doch das alles stehe im Moment noch in den Sternen, sie wolle sich ganz auf die Staaten einlassen und müsse erst mal sehen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könne. Sie habe von einer Freundin eine Kontaktadresse erhalten, wo sie für die ersten Wochen unterkommen könne. Vielleicht würde sie darüber Arbeit und ein Zimmer finden.
„Hat sie dir ihre Adresse gegeben?“
„Nein, wozu auch? Ich glaube, Du und ich, wir beide, haben genug in Kalifornien zu sehen und zu besuchen. Es war zwar wirklich lieb von Emma, mir den Flug irgendwie zu erleichtern und mit mir am Arrival-Point auf dich zu warten, denn ich hatte schon die Krise, dass ich alleine dastehen würde. Aber jetzt geht man halt getrennte Wege. War ja nur eine daherfliegende Bekanntschaft.“ Er lachte über seinen Wortwitz.
„Glaubst du, ich hätte dich am Arrival-Point vergessen?“
„Nicht wirklich.“
„Und wie stellst du dir deinen Aufenthalt hier vor?“
„Ich dachte, du hast ein Programm ausgearbeitet.“
„Gewöhne dich erst mal bei mir ein und vergiss bitte nicht: Ich bin hier, um zu arbeiten – auch wenn wir zwischendurch Zeit haben werden, um California zu erkunden. Du musst schon ein bissi selbst aktiv werden.“
An diesem Abend gingen wir in ein mexikanisches Schnellrestaurant, unweit der Polk Street, wo wir sehr preiswert und total lecker essen konnten. Lutz war erstaunt über die Buntheit des Nachtlebens, über den ruhigen Verkehr, die großen Verkehrsschilder, über die allgegenwärtige Neon-Reklame.
Zu Hause legte er sich im Wohnzimmer auf die Gästematratze und schlief sofort ein. Ich ging an meinen Schreibtisch und las in Doros Protokollen weiter. Ich hatte ihr ja versprochen, spätestens bis zum Jahresende meine Kommentare dazu abzugeben.
(Aus Doros »Zusammengefasstem Interview mit Ninas Mutter, Verkäuferin«)
„Nina und ich hatten in sehr bescheidenen, engen Verhältnissen und in schlechter Umgebung gewohnt. In Kreuzberg gab es viele Trebekinder, also Straßenkinder, und entsprechende Treffs und Lokalitäten, auch vom Bezirksamt und der Kirche, aber mir gefielen die vielen wohnungslosen Kids und Hausbesetzer nicht, die da herumschwirrten und für Nina ein schlechtes Vorbild abgaben. Da wollte ich raus, wollte eine hübsche Wohnung haben, in der wir zwei uns wohlfühlen. Dafür habe ich geschuftet, das wollte ich erreichen. Natürlich wollte ich Nina auch mal etwas Besonderes erfüllen, einen Extra-Wunsch. Alles, was ich bis dahin nicht leisten konnte. Jetzt aber hatte ich einen recht guten Verdienst, auch wegen der vielen Überstunden.
Ich verwirklichte diesen Traum, Nina kriegte eine rosa Tapete ins Zimmer mit einem Einhorn-Motiv, hübsche Mädchenmöbel, die sie sich selber aussuchen konnte. Ich war so froh, etwas für meine Kleine tun zu können. Wenn ich am frühen Abend vom Job nach Hause kam, brachte ich ihr zumeist eine kleine Überraschung mit. Bei Karstadt oder Wertheim oder in Kaiser‘s Kaffeegeschäft kaufte ich dann schnell noch eine besondere Leckerei oder ein kleines Modeschmuckstück, eine lustige Schulmappe oder ähnliches, halt eine Überraschung. Wenn Nina mir dann einen dankbaren Kuss gab, war es für mich die Bestätigung, dass alles in Ordnung mit uns war.
Mir ist heute klar, dass ich mich von meinem schlechten Gewissen hatte freikaufen wollen. Mich drückte der Schuh wegen der wenigen Zeit, die ich für Nina übrig gehabt hatte. Andere Mütter konnten bei den Hausaufgaben oder bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten behilflich sein. Und meine Kleine musste alles alleine bewerkstelligen – oder aber sie machte es nicht, was ich nicht wissen konnte, weil ich noch nicht einmal Zeit und Kraft hatte, dies zu überprüfen. Aber immerhin waren ihre Noten durchschnittlich. Ich hätte mich um Nina kümmern