Bunte Zeiten - 1980 etc.. Stefan Koenig

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Bunte Zeiten - 1980 etc. - Stefan Koenig


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konnte den ketzerischen Gedanken nicht unterdrücken und übersetzte Garcias Worte in meine politische Erfahrungssprache: Wir wollen einfach nur ein schönes und reiches Überfluss-Leben in einem etwas menschlicheren Kapitalismus haben. Dass wir das nur auf Kosten der Dritten Welt haben können, ist uns scheißegal!

      Ich schaute nach vorne zum Podium.

      Cahn trat vom Pult zurück und blickte auffordernd ins Auditorium. Eine hennagefärbte Rothaarige meldete sich. Sie ging zum Mikrofon ihrer Sitzreihe.

      „Die angeblich bewusstseinserweiternden Drogen haben aber manchem das Gehirn ganz schön zusammengeschmolzen“, sagte sie. „Hat das nicht das Anliegen der ursprünglichen Bewegung torpediert?“

      „Wenn Sie an solche Slogans denken wie »Turn on, tune in, drop out!«, treffen Sie den Nagel auf den Kopf. Das war der Slogan von Timothy Leary.“

      Ich erinnerte mich. Zu dieser Zeit war ich viel zu jung um durchzublicken, war mit Sechzehn noch völlig unerfahren und hatte im Club Voltaire bei Diskussionen den von der Harvard University gefeuerten Psychologieprofessor verteidigt, ohne wirklich etwas von ihm und seinen weitreichenden Ideen zu wissen. Reine Emotion. Kein Argument hatte meine Meinung gestützt.

      Elliot Cahn trat wieder ans Pult und ging auf den Einwurf der Studentin ein: „Timothy Learys Slogan sollte zum Motto der Gegenkultur werden, die 1967 den »Sommer der Liebe« feierte. Zu einer echten Verbindung zwischen den Hippies von Haight-Ashbury und den Studenten in Berkeley kam es jedoch nicht, die Bewegung strandete vielmehr. Während 1968 die Studentenproteste weltweit ihren Höhepunkt erreichten, hatten sie in den USA bereits ihre soziale und kulturelle Dynamik verloren. Die Studenten folgten Cahns Vortrag aufmerksam.

      „Nachdem im Sommer 1967 Scott McKenzies Song »San Francisco« die Hitparaden erobert hatte“, so fuhr Cahn fort, „und die Hippies zu einer Modeerscheinung geworden waren, trug man die Flower-Power-Bewegung am 6. Oktober symbolisch mit einem festlichen Umzug zu Grabe. Enttäuscht davon, dass ihr Lebensstil und ihre Ideale vermarktet wurden, verließen einige der wichtigsten Hippie-Protagonisten nicht nur das Viertel, sondern auch gleich die Stadt.“ Abschließend fasste er zusammen: „Hier gab es die erste und größte studentische Protestbewegung, die mächtigste und am besten organisierte Black-Power-Bewegung sowie die stärkste musikalische und kulturelle Szene. Es gab keinen vergleichbaren Ort.“

      Wieder meldete sich die rothaarige Studentin. „Wie konnte man etwas zu Grabe tragen, nur weil es vermarktet wird? In unserem kapitalistischen System ist die Vermarktung doch gang und gäbe. Man kann sich dem gar nicht entziehen.“

      Einige aus dem Auditorium riefen etwas dazwischen, was nach Widerspruch klang, aber ich konnte es in der Schnelligkeit der dahin geschleuderten Kauderwelsch-Sprache nicht exakt verstehen.

      Professor Cahn erklärte, dass die Hippie-Bewegung in ihrer Gesamtheit noch lange fortbestand und wahrscheinlich auch weiterbestehen würde – aber eben nicht mehr als Massenbewegung. Auch könne man verstehen, wenn sich die Idealisten dieser Jugendbewegung durch die Kommerzialisierung verraten fühlten. Andererseits sei schließlich jedes große Event und jedes große Konzert selbstredend dem Zwang der Vermarktung unterworfen.

      Drei kurzweilige Stunden waren vergangen, zwischendurch hatte es zwei fünfzehnminütige Pausen ge­geben. Mir hatte es Einblicke in die kalifornische Art und Weise der Lehrvermittlung verschafft.

      Anschließend gingen Cahn, Christensen und ich essen. Es erinnerte mich an die Prozedur in Ostberliner Gaststätten und Hotels, in denen ich mit Tamara gegessen hatte – man musste am Restaurant-Eingang unterwürfig warten, bis ein gnädiger Kellner uns hineingeleitete und uns einen Tisch zuwies. Und wehe, man sprach den Wunsch nach einem anderen Tisch aus. Dann rieselte es zwar höflich klingende Worte, leider sei dies nicht möglich, aber die Blicke hinter unserem Rücken waren giftig wie die gebogenen Zähne einer Kobra.

      Cahn und Christensen suchten auf der Getränkekarte einen Wein aus, ein kalifornischer musste es mir zu Ehren sein, und fragten mich, ob ich die kalifornischen Weine schon kennen würde. Ich verneinte.

      „You are going to love this wine“, sagte mein wissenschaftlicher Tutor. Er lud Christensen und mich ein; es war ein schickes Lokal. Es gab vier Gänge, und die Rechnung war gewiss entsprechend hoch. Ich konnte es in etwa aus der Höhe des Trinkgeldes, das Elliot dem Kellner zusteckte, errechnen; es waren 15 Dollar. Ich wusste, dass man in den USA vom Gast erwartete, dem Servicepersonal einen »Tip« in Höhe von etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Rechnung zu geben. Das Bedienpersonal erhält von seinem Arbeitgeber dagegen in der Regel nur einen sehr geringen Dollarbetrag als feste Bezahlung und ist daher auf das Trinkgeld absolut angewiesen. Das Dinner musste Elliot also zwischen 90 und 100 Dollar gekostet haben.

      Mein großzügiger und hilfsbereiter Prof empfahl mir zum guten Dinner-Abschluss Kontakte zur ACLU, der »American Civil Liberties Union«. Einen kurzen Moment lang kam mir die Abkürzung sehr bekannt vor. Diese Vereinigung, so erklärte Cahn, habe ein besonderes Augenmerk auf die zivilen Freiheits- und Bürgerbeteiligungsrechte in den Staaten gerichtet und sammele Daten zum »Freedom of Information Act«, die für mich sehr wertvoll sein könnten. Beim Abschied von den beiden universitären kalifornischen Urgesteinen versprach ich ihnen, mich bald an die ACLU zu halten. Da wusste ich noch nicht, dass es für meine Arbeit ein goldrichtiger Tipp war.

      Als ich auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass ich bereits ein dreiviertel Jahr zuvor die ACLU in meinem Forschungsplan als Institution vermerkt und diesen bei meinen Fördergebern eingereicht hatte.

      „Dass ich das vergessen konnte!“, sprach ich vor mich hin und fügte hinzu: „Alter Dussel!“

      *

      Die Vorsitzende der »American Civil Liberties Union« in California hieß Liz Brotherton und wohnte in Friscos Mittel-Bezirk »Haight-Ashbury« in einer Fünfer-Wohn­gemeinschaft. Das kleine Häuschen war mindestens so verwinkelt und farbig wie die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf. Liz war eine taffe Frau, mit 182 Zentimetern genau eine Maßeinheit größer als ich, brünett, grün-braune Augen, etwas grüner als meine, und sie trug einen grauen Hosenanzug. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Ihr farbiger Mann Stan war ein Riese, wenigstens zehn Zentimeter größer als sie und ebenfalls in gediegenem Stoff gekleidet.

      „Nice to meet you! You are from Germany?”, begrüßte sie mich. „My ancestors moved from Bädän-Württembörg to America at the beginning of the century.”

      Sehr oft begannen die Gespräche meiner amerikanischen Gesprächspartner mit der Feststellung, sie hätten irgendeinen guten deutschen Vorfahren. Gelegentlich ließ man durchschimmern, man fühle sich deshalb mit den »Germans« besser verbunden als mit irgendeiner anderen Nation. Liz war sehr gebildet und wusste selbstverständlich über das Weltgeschehen, über geopolitische wie über rein geografische Zusammenhänge bestens Bescheid. Für sie war Hitler weder im Knast noch untergetaucht, sondern tot. Für sie lag Österreich nicht in Deutschland, und Deutschland war tatsächlich in zwei Staaten geteilt. Sie kannte die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die der Nachkriegsordnung: den Kalten Krieg und die beiden Weltsysteme, die sich gegenseitig unterzukriegen versuchten.

      Aber ihre zivilgesellschaftliche Arbeit konzentrierte sich auf die amerikanischen Bürgerrechte, auf die im inneren bedrohte Freiheit des amerikanischen Bürgers. Sie kämpfte mit ihrem Mann und der ACLU für das Recht eines jeden Bürgers, über seine Privatsphäre, über seine Daten selbst zu bestimmen und somit Informationen über die eigene Person abrufen zu dürfen, wo immer sie auch gespeichert wurden. Das betraf genau den Kern meiner Arbeit. Auch für Liz war es der Kern ihrer Arbeit, denn sie war hauptberufliche ACLU-Mitarbei­terin. Stan hingegen war Arzt.

      Im Laufe der Zeit wurden wir zu guten Freunden. Ich wurde den anderen WG-Mitgliedern, Rodger und seiner Freundin Kathy sowie Tom, dem Single, vorgestellt. Rodger war beruflich bei einer Versicherung angestellt, seine Freundin arbeitete für einen Lebensmittelgroßhandel und Tom war Tapezierer und Maler. Über sie kam ich mit vielen Leuten in Kontakt, die mir Einblicke in den normalen »American Way of Life« gaben.

      Pünktlich, wie angekündigt, erschien Professor Hel­mut Wagner, mein Abi-Prüfer vom Berliner Otto-Suhr-Institut, zu


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