Bunte Zeiten - 1980 etc.. Stefan Koenig

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Bunte Zeiten - 1980 etc. - Stefan Koenig


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das Konzert dem Ende zuging, wankten die beiden etwas vorzeitig aus dem Saal; Kalle war jetzt volle Pulle auf Turkey und Nina am Boden. Sie trafen auf einen Bekannten aus der Szene. Perry meinte, dass man sofort etwas für Kalle tun müsse. Auch er könne noch einen Druck vertragen. Er hatte noch zwei LSD-Trips, die er für zwanzig Mark versilberte. Was jetzt noch für Heroin an Knete fehlte, sollte Nina »schlauchen«. Sie war Meisterin im Schlauchen. Leute um ein paar Groschen anhauen, fiel ihr leicht. Es mussten mindestens noch einmal fünfzehn Eier zusammenkommen. Darunter gab es nichts zu kaufen in der Szene.

      Das Schlauchen vor der Deutschlandhalle ging wie geschmiert. Viele Kids hatten gute Kohle mitgebracht, kamen aus gutsituierten Elternhäusern, in denen mit Moos nicht gespart wurde. Nina brachte ihre Sprüche „Kein Geld für die U-Bahnfahrkarte“; „Man hat mir das Portemonnaie geklaut“, „Ich hab‘ meine Tasche verloren“ und so weiter. Die Markstücke klingelten nur so in ihrer Plastiktüte. Der Bekannte kaufte davon Heroin – mehr als genug für zwei Drucks. »H« war damals gerade recht billig, weil dies den Einstieg erleichtern sollte, wie Nina später von einem Junkie und Oberdealer erfahren hatte.

      An diesem Tag, an dem ich im Wipp-Sessel vor meinem Fenster in San Francisco saß, hatte Nina ihren Einstieg. Der Gedanke kam ihr wie angeflogen: Jetzt habe ich das Geld schon dafür geschlaucht, jetzt will ich davon auch wenigstens mal was probieren. Mal sehen, ob das Zeug wirklich so glücklich macht, wie die Fixer nach dem Druck aus der Wäsche gucken!

      Weiter dachte Nina nicht; ihr war nicht bewusst, dass sie sich in den vergangenen Monaten systematisch fürs Heroin reif gemacht hatte. Erst die heimliche Bewunderung für diese lässigen Fixer und ihre abgeschottete Szene, dann offene Bewunderung. Danach das Eintauchen ihres Freundes Helle in die Fixerszene und ihre Akzeptanz dieser Szene. Nina war sich auch nicht darüber im Klaren, dass sie der Song »It’s too late« in diesem entscheidenden Moment voll geflasht hatte, weil sie sich in einem wahnsinnigen Tief befand.

      Alles, was sie dachte, war, dass man sie jetzt nicht allein mit ihrer Scheiße lassen durfte. Apropos Scheiße – daran musste ich denken, als ich Doros Aufzeichnung zu Nina las – das Wort hat es doch tatsächlich geschafft, innerhalb eines Jahrzehnts die Kulturgrenze zu durchbrechen und sich im allgemeinen jugendlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik dauerhaft einzunisten. Aus amerikanischer Literatur war bekannt, dass »shit«, »fuck« und »asshole« schon lange nicht mehr auf die sprachliche Goldwaage gelegt wurden. Aber, so hatten mir meine Nachbarn erklärt, das war eben stinknormal für das Land der rauen Cowboys und rauen Sitten. Erst kürzlich hatten die Ku-Klux-Klaner in Texas einen Schwarzen aufgehängt. Einfach so. Weil er schwarz war, halt ein Nigger.

      Nina also wollte nicht mit ihrem Scheißgefühl alleine gelassen werden. „Wenn schon kein Valium da ist, um mich zu beruhigen, dann will ich jedenfalls endlich das H probieren!“, sagte sie zu Kalle und dem Bekannten.

      Kalle rastete aus. „Du spinnst. Das würde mir Helle nie verzeihen, wenn ich das zulasse! Das kommt nicht in Frage. Du lässt das! Du weißt gar nicht, was du dir antust! Wenn du jetzt Dope nimmst, bist du in kurzer Zeit genau da, wo ich jetzt bin. Dann bist du eine lebendige Leiche!“

      Erst dachte sie, dass er den Stoff vielleicht alleine für sich haben wollte, aber dann merkte sie, dass er es ernst mit ihr meinte. Die aufkommenden Zweifel wischte sie weg. Aber einem sich aufspielenden Übervater, der so unerfahren war wie Kalle, dem musste man nicht glauben. Wenn das jetzt Helle wäre, okay, dann würde sie vielleicht nachgeben, aber so?

      „Ich lass mir von dir nichts befehlen!“, schrie sie ihn an. „Erstens ist das Meiste mein Dope, weil ich die Knete besorgt habe. Außerdem red’ nicht so’ne gequirlte Scheiße. Ich werd’ doch nicht so abhängig wie du! Ich weiß, was ich will. Ich hab’ mich total unter Kontrolle. Ich probier’ das mal, und jetzt Schluss mit dem Gelaber!“

      Nina wusste noch nicht, wie schwach man auf Turkey ist; Kalle war jedenfalls mucksmäuschenstill nach Ninas Attacke, knickte vor ihrer Entschiedenheit ein; er war wie eingeschüchtert und zog es vor zu schweigen. Die Drei gingen in einen Hauseingang, und der Bekannte teilte das Dope gerecht in drei Teile.

      „Ich war jetzt ganz geil auf das Zeug“, hatte Nina Doro berichtet. Da war kein Nachdenken, kein schlechtes Gewissen, keine Zukunftsangst, keine Angst vor der alleinerziehenden Mutter. Sie wollte einfach schnell wieder gut drauf sein. Nur vor der Spritze hatte sie Angst.

      „Ich schniefe das Zeug“, sagte sie den beiden Jungs und zog das Pulver sofort durch die Nase ein. Sie spürte einen beißend bitteren Geschmack und musste den Brechreiz unterdrücken. Sie spuckte eine gute Portion des Dopes wieder aus. Doch dann kam es verdammt schnell über sie. Ihre Glieder wurden unheimlich schwer und waren zugleich so leicht, als könnten sie fliegen.

      „Ich bin irrsinnig müde“, sagte sie zu den Jungs.

      „Das gibt sich“, sagte Kalle. „Und wie fühlst du dich sonst so?“

      „Müde zu sein ist ein geiles Gefühl. Die ganze Scheiße ist mit einem Mal weg. Kein »It is too late« mehr. So toll habe ich mich noch nie gefühlt.“

      Die Jungs gingen in das Auto eines Fixers, um sich den Druck zu setzen, während Nina zum Sound vorausging. Es machte ihr nichts mehr aus, allein zu sein. Im Gegenteil, sie fühlte sich wahnsinnig stark. Chrissi, ihre beste Freundin, kam zu ihr, sah sie an und fragte: „Hey, bist du auf H?“

      Nina rastete aus. „Dämliche Frage! Was willst du von mir? Hau einfach ab, Mensch! Ich will dich nicht mehr sehen!“

      Nina wusste nicht, weshalb sie so ausflippte, und Chrissi stand ratlos vor dieser völlig unerwarteten Reaktion ihrer besten Freundin. Später kamen die Jungs, waren völlig breit und machten einen total coolen Eindruck. Mit keinem Funken dachte Nina an Helle, er war in diesem Moment einfach nicht präsent; sie hatte Durst und holte sich einen Apfelsaft nach dem anderen.

      Morgens gegen fünf fragte Perry, wie der Bekannte von Kalle hieß, ob sie nicht noch zu ihm nachhause auf einen Tee wollten. Sie gingen, und Nina hakte sich zwischen den beiden ein. Der viele Apfelsaft machte sich an der frischen Luft bemerkbar, rumorte wild in Ninas Bauch und drängte zum Überlaufen. Sie übergab sich im Gehen auf die Jungs, was die wohl nicht bemerkten, denn sie gingen wie in Trance weiter, während Ninas Kotze an ihnen abtropfte. Nina kümmerte es nicht. Alle Drei waren einfach nur happy.

      Überhaupt war da für Nina plötzlich ein völlig neues Gefühl. Ihr kam es vor, als lebe sie in einer neuen kleinen Familie. Man redete auf dem Weg zu Perrys Wohnung kaum, aber Nina hatte den Eindruck, mit den beiden über alles in der Welt reden zu können, unbefangen und offen, ohne sich verstellen zu müssen. Das H hatte sie zu Geschwistern gemacht; sie waren alle gleich. Nina hätte den neuen Geschwistern ihre geheimsten Gedanken anvertraut, wenn sie denn Geheimnisse gehabt hätte. So glücklich hatte sie sich in den letzten Monaten noch nie gefühlt.

      Nina schlief zusammen mit Perry im Bett, ohne dass er sie anfasste. Schließlich waren sie Geschwister, H-Geschwister. Kalle schlief auf dem steinharten Boden, eine dünne Decke über seinen Beinen, und hatte seinen Kopf völlig abgeknickt auf Perrys vollgestopftem Rucksack abgelegt. So schlief er wie ein Toter mit steifem Genick bis zum späten Mittag. Dann stand er mürrisch auf, weil er wieder auf Turkey kam und sich rechtzeitig einen Druck besorgen musste. Ein echter Stress.

      Nina spürte nach dem Aufwachen ein fürchterliches Jucken überall. Sie zog alle Klamotten aus; die Jungs kümmerten sich nicht darum, dass sie nackig vor ihnen stand und begann, sich mit einer Haarbürste aus Perrys Bad blutig zu kratzen. Sie kratzte wie besessen ihre Beine auf. Sie wusste ja, dass das Jucken und Kratzen für Fixer normal war, denn daran hatte sie die Fixer schon früher im Sound erkannt. Kalle hatte völlig aufgekratzte Waden, aber er kratzte sich nicht mit einer Bürste, sondern mit seinem Taschenmesser.

      Als Kalle ging, sagte er zu Nina: „Morgen kriegst du das Dope natürlich wieder, dass du mir gegeben hast.“ Also war für ihn sonnenklar, dass sie jetzt eine echte Fixerbraut geworden war, die sich spätestens am nächsten Tag wieder einen Druck setzen würde. Das machte sie fast stolz, und sie tat recht cool. Um ihm zu beweisen, dass sie von dem einen Mal nicht abhängig geworden war, antwortete sie: „Lass mal gut


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