Bunte Zeiten - 1980 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Bürger bei ihren Administrationen und um Einsichtsrechte in computerbasierten Systemen. Cahns Vorlesung aber interessierte mich aus einem ganz anderen Grund. Es ging um die Entstehungsgeschichte der Studentenbewegung in der Bay Area, die gerade ihr fünfzehnjähriges Jubiläum feierte.
„But the times have changed, Stephen“, sagte er. „The California-Style of peace and freedom movement has lost a little bit of energy.“
Ja, alles hatte an Zugkraft verloren. Dennoch war es damals die Blaupause für die weltweiten Protestbewegungen der 60er gewesen.
Cahn begann seine Vorlesung mit den frühen 1960er Jahren. Ich konnte seinen Ausführungen nicht immer wortwörtlich folgen, sie aber sinngemäß verstehen. Damals hatte ein besonders liberaler Geist gleich mehrere Protestbewegungen in San Francisco befördert.
Als an der Berkeley-Universität im Dezember 1964 die erste Besetzung einer Hochschule in der Geschichte der Studentenbewegung stattfand, stimmte Joan Baez zur Unterstützung »We Shall Overcome« an. Die Studentenschaft wehrte sich gegen die Universitätsleitung, die ihr das Recht auf freie Meinungsäußerung streitig gemacht hatte. Das war die Geburtsstunde der »Free Speech Movement«. Sie war jedoch nicht die einzige Bewegung, die an der Westküste der USA ihren Ausgangspunkt hatte.
Natürlich nahm der Professor Bezug auf das aktuelle zehnjährige Jubiläum von Woodstock. Er bezog sich auf – wie er sagte – „die damaligen Werte des Mitgefühls, der Menschenwürde und der Schönheit unserer Unterschiede. Woodstock war ein kollektives Abenteuer…“ Dann spielte er den Song des damals noch unbekannten Joe Cocker ein, seine Version des Beatles-Hits »With a little help from my friends“.
Da ich diese Geschichte – die der frühen 60er und die von Woodstock – bereits in- und auswendig kannte, gestattete ich meinen Gedanken gelegentlich abzudriften, und ich sah mir die Studentinnen und Studenten an, die dem Vortrag Cahns interessiert folgten. Da saßen nicht mehr die achtzehn- bis zwanzigjährigen Mädels und Jungs, wie man sie aus den alten Hippiezeiten kannte. Ihre Haare waren durchweg gestylt, ihr Outfit dem Punk oder einfach nur dem modischen Durchschnitt nachempfunden.
Schätzungsweise ein Zehntel der Zuhörerschaft saß noch im für Hippies typischen entspannten Modus in relaxter Körperhaltung vor Mr. Cahn, nur ohne Hasch-Duft. Die Mehrheit saß diszipliniert, aber Kaugummi kauend vor dem großen »Vorlesungsgott«. Götter hatte es fünfzehn Jahre zuvor nicht gegeben. Damals waren die Profs für die Studis nichts weiter als „antiquierte Systemschweine“.
Cahn verwies auf die Verbindung aus politischem Protest und lässigem Lebensgefühl und zeigte am Overheadprojektor Bilder von Demonstrationen auf dem Campus der University, 1967/68. Mir gefiel Cahns lockerer Vorlesungsstil, der sich fundamental von dem bei uns gepflegten unterschied. Eingeblendete Bilder, eingespielte Protestsongs und Grafiken lockerten Phasen auf, in denen Cahn völlig ohne Manuskript seine Erklärungen darlegte. Das ist fortschrittliche Didaktik, dachte ich. Wenn ich jemals etwas referieren müsste, würde ich mich an diese Lehrmethode erinnern wollen. Hier konnte man beim besten Willen nicht einschlafen.
Cahn hatte für seine dreistündige Vorlesung einen Filmemacher, Eric Christensen, eingeladen. Ich hatte den Eindruck, dass er mindestens schon jenseits des halben Jahrhunderts sei, aber wie ich später beim Dinner erfuhr, war er erst 42 Jahre alt.
„Please listen to my friend Eric“, sagte Elliot. “He knows everything about this area.”
Eric hatte einen wallenden, halb ergrauten Vollbart und einen pinkfarbenen Schlapphut auf, ein buntes Hemd und eine weit geschnittene Flatterhose, die man sonst an keinem Menschen mehr sah. Für ihn, der in den sechziger Jahren selber in der Studentenbewegung engagiert gewesen war, war es kein Zufall, dass im Umkreis von 20 Meilen die »Black Panther Party« gegründet wurde. Dass Teile der Frauenbewegung und die Studentenbewegung hier begannen. Dass hier mit LSD experimentiert wurde und die Hippiebewegung ihren Anfang genommen hatte. Denn die San Francisco Bay Area sei traditionell von einem liberalen Klima geprägt.
„The Beatniks also played a big role here“, sagte Eric Christensen. „Die progressive Avantgarde war in der Bay Area einfach angesagt.“
Und Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll waren angesagt, dachte ich bei mir und kam ins Zweifeln, ob alles im weitesten Sinn so progressiv war, wenn ich an den jämmerlichen Tod von Svea dachte. Ich hatte sie, die den Sex, die Drogen und die Musik liebte, die genau das lebte und sich schließlich darin verlor, vor vier Jahren in Marokko im Holzsarg zurücklassen müssen. Es steckte mir noch heute in den Knochen.
Christensen zeigte seinen zwanzigminütigen Film, »Going to San Francisco«. Er handelte natürlich von diesen bewegenden Zeiten, man sah und hörte die Jugend sprechen, handeln, musizieren, tanzen, feiern, Sit-ins, Demos, Happenings, Kommunen und alles, was damals dazugehörte. Mir schien, als staunte das Publikum Bauklötze – dabei war das alles doch noch nicht allzu lange her. Oder lag mein geschrumpftes Zeitempfinden daran, dass in diesem Hörsaal nur mir – alleine mir – die vergangene Zeit immer noch vertraut schien?
Dann war eine kleine Kaffeepause. Ich blieb sitzen und träumte, ich würde am Strand von Jamaika in einer Hängematte liegen und meine fertige Forschungsarbeit korrigieren, während mir irgendjemand unentwegt kalte Drinks auf einen Stuhl neben meine leicht schaukelnde Hängematte stellte.
Als ich ruckartig aufwachte, weil mein Kopf zur Seite fiel, hatte ich einen gewaltigen Durst. Es war mir peinlich, die Pause war zu Ende, aber ich ging kurz raus, um ein Wasser zu trinken. Ich kam zurück und setzte mich unauffällig in eine der hinteren Sitzreihen; vorne sprach Professor Cahn in seiner angenehmen ruhigen Art, während ich die neue Studentengeneration rund um mich herum weiter beobachtete. Es war eine brave Zuhörerschaft, auch wenn einige Punkfrisuren scheinbar aufrührerisch in die Luft ragten und Ketten und Metallclips martialisch an Klamotten und Stiefeln hingen.
Ja, die Punks waren im Kern irgendwie so rebellisch wie wir früher, vielleicht etwas weniger politisch, ging es mir durch den Kopf, und irgendwie kam es mir vor, als verachteten sie die weichen, sanften Kulturformen wie die Hippie- und Friedensbewegung. Als wollten sie nun im Umkehrschluss mit proletenhafter Männlichkeit, mit Härte und zur Schau getragener modischer Rebellion das Ende ihrer Geduld signalisieren.
Das Interesse des Auditoriums schien echt, denn es reckten sich einige Hände in die Höhe. Professor Cahn ließ zwischendurch Fragen zu, und ihnen war zu entnehmen, dass sich die, die jetzt hier saßen, aufrichtig für jene Aufmüpfigen interessierten, die eineinhalb Jahrzehnte zuvor diese Bänke gedrückt hatten. Die Musik und den Lebensstil der heutigen Generation konnte man nicht mit den damaligen Gegebenheiten vergleichen. Der verdammt mörderische Vietnam-Krieg war endlich vorüber. Aber nun lag das große Amerika moralisch und ökonomisch darnieder. Jimmy Carter hatte 1977 das Präsidentenamt übernommen und kämpfte noch jetzt, zwei Jahre später, vergeblich gegen die Ölpreis-, Inflations- und anhaltende Gesellschaftskrise der USA.
„Ganz andere Bedingungen damals, vor zehn oder gar fünfzehn Jahren“, referierte Mr. Cahn. „Für den Soundtrack des frühen politischen Protests, der sich gegen den Vietnamkrieg gerichtet hatte, sorgten Bands wie Country Joe & The Fish. Während in jener Zeit in Berkeley die Studenten für politische Veränderungen auf die Straße gingen, entwickelte sich in San Francisco, im Stadtteil Haight-Ashbury, eine Szene, der es um einen alternativen Kultur- und Lebensstil ging: die Flower-Power-Bewegung der Hippies.“ Dazu holte Elliot Cahn gerade aus, während ich gedanklich abtauchte und die Parallelen zu meiner damaligen Zeit in Frankfurt am Main, in Westberlin, in Torremolinos und in Marokko zog. In Gedanken zogen an mir Quini und Wolle mit ihrem Bulli vorbei, ihre Reisen durch die Türkei, durch den Iran, durch Afghanistan, Pakistan, Indien – und dort von Goa über Sri Lanka nach Nepal.
„Im Zentrum dieser Szene“, dozierte Cahn vorne am Stehpult, „standen die Ideen von »freier Liebe« und vom neue Bewusstseinserfahrungen verheißenden Gebrauch von Drogen. Musikalisch fand diese Szene ihren Ausdruck in später weltberühmten Bands wie Jefferson Airplane und Grateful Dead. Deren Kopf Jerry Garcia beschrieb ihr Anliegen so: »Uns geht es um einen friedlichen Planeten. Um nichts anderes. Es hat nichts mit Macht oder ähnlichen Kämpfen zu tun. Auch nichts mit Revolution oder Krieg. Wir wollen einfach