3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
Читать онлайн книгу.erfolgreicher Danceacts taugen nur bedingt zu Solisten; das zeigten die Prodigy-Alleingänge. Mit uninspiriertem Vorsichhinklöppeln betont das auch Harry K., der von Apollo 440 ausscherte, um seinen eigenen Stil zu pflegen. Doch der Mann hat kaum echte Soundfantasie – und reitet dennoch auf seinen mediokren Ideen so lange herum, bis das auch der Letzte merkt. Äußerlich ein Mix aus Drum & Bass, Bigbeats und HipHop, offenbart seine titelgebende Trickkiste bald, dass sie innen bestürzend hohl ist. Die Samples sind unoriginell, der Versuch, irgendwie Gitarren reinzubringen, halbherzig. Zurück ins Glied, Harry!
Don Tiki
„The forbidden Sounds of Don Tiki” (2000)
Kuba war gestern. Wie wäre es mal mit Polynesien? Don Tiki bietet eine Reise dahin, wo es so bunt ist wie nirgendwo sonst, doch die Reise ist ein Fake. Pseudopolynesien, erdacht von Perry Coma (sic!) und erschaffen auf Piano, Marimba, Vibra- und Xylofon, auf Flöten, Harfen, Congas, Orgel und – na, klar – Hawaiigitarren. Die Sehnsucht nach Sonne und Ironie trieb Herrn Coma sogleich illustre Gäste zu, darunter den Weather-Reporter Carlinhos Brown – und sogar einen echten Polynesier: den Pianisten Martin Denny. Dem gefiel sicher der augenzwinkernde Blick aufs Paradies, die manchmal träge in luftiger Ruhe verharrenden Klanggespinste voller Vogelgezwitscher, die schmachtenden Songs, denen auch der Broadway ein Zuhause wäre. Exotica – der nächste Trend? Zum Cocktail jedenfalls gibt es keinen besseren Soundtrack.
Earthlings?
„Human Means” (2000)
Ist das ein wilder Sampler oder was? Von gälisch anmutenden Folktönen bis zu schwärzestem Wave-Techno-Underground reicht das Spektrum dieser CD – aber sie kommt von einer einzigen Band und nicht von elf verschiedenen. Das Fragezeichen im Gruppennamen ist durchaus berechtigt, denn das klingt alles ziemlich alienesk. Irdische wagen so etwas selten – und sich erst recht nicht derart an Chuck Berrys Klassiker „Johnny B. Goode“, den die Earthlings? zum pochenden Industrial runterprügeln, tonlos rezitiert, als sei die Sprachprogrammierung von Robotern fehlgeschlagen. Eine bizarre Entdeckungsreise. Achtung, Kelly-Fans: nicht kaufen.
Einstürzende Neubauten
„Silence is sexy” (2000)
Dieses Albums steht unter einer Spannung, die sich nie entlädt; anders als in den Anfangstagen, als der Bandname noch Omen war für die zu erwartende Geräuschkulisse. Hier hält die Spannung an bis zum Ende, und wir sind niemals wirklich sicher, ob wir wirklich sicher sind vorm großen Knall. Von dieser fiebrigen Explosionserwartung lebt das Album – silence is nervenzerrend. Erst beim zweiten Hören entpuppt sich das Ganze als entschieden zu einförmig. Viel Perkussion, die Streicher von Tim Isfort, darüber Blixas geraunte Gedichte zwischen Dada und Zukunftshohn: So rauscht es ruhig vorbei. Wäre doch nur etwas explodiert. Oder wenigstens eingestürzt.
El Rayo-X
„Live!!” (2000)
Zwei Ausrufezeichen hinterm Albumtitel – aber vier oder fünf wären auch nicht zu viele gewesen. Der Gitarrenheld David Lindley (Ex-Kaleidoscope) und sein wirklich schlag-fertiger Kollege Wally Ingram entfachen mit dieser Reunion-CD ihres legendären Projektes El Rayo-X einen Partyspaß, der ebenso brillant gespielt wie aufgenommen ist und höchst kokett ums Reggaeidiom kreist – selbst wenn „Papa was a Rolling Stone“ auf dem Programm steht. Lindley ist ein munterer Veteran mit ungebrochenem Hang zur Verschmitztheit, dem es – wie einst im Rockpalast-Konzert, das ihn hierzulande berühmt machte – immer noch Laune macht, Songs mit „One, two, three, four!“ loszuschießen. Manchmal tut er’s auch kurz vorm Ende noch mal, und das ist witzig. Findet übrigens auch das begeisterte Publikum.
Eleventh Dream Day
„Stalled Parade” (2000)
Es ist wieder Zeit für große Gesten. Eleventh Dream Day beginnen „Stalled Parade“ mit ozeanischen Riffs, die sich nähern wie eine Tsunami in Zeitlupe. Wer war zuletzt so episch, so erhaben, so unverschämt großartig – vielleicht vor langer Zeit die Red House Painters? Doch im Gegensatz zu den verdrucksten Melancholikern halten die Kanadier von EDD auch die Fackel des Alternative Rock am Brennen, und wenn sie vinyles Knistern und Rauschen untermischen, wenn ihre Zerrklampfen die Boxen zum Krächzen bringen, als hätten die Membrane kleine Risse, dann sind das bewusste Statements gegen die cleane Popwelt. Mit dem finalen Song „Way too early …“ schließen sie dann noch überraschend eine Lücke, die uns gar nicht so bewusst war: die zwischen Neil Young und Lou Reed. Auch das: eine große Geste.
Enigma
„The Scream behind the Mirror” (2000)
„People talk to much for what they have to say“, erkannte Michael Cretu in einem lichten Moment, der indes nicht licht genug war, um in Selbsterkenntnis zu münden. Nach 22 Millionen verkauften Alben hatte Cretu natürlich kein Fitzelchen Anlass, sein Rezept zu ändern: bombastische Chorsamples (diesmal – sehr originell – aus „Carmina Burana“) plus populär getaktete Elektronik plus weibliche Stimmchen. Man muss die Klangkreation für ihre von Bescheidenheit ungetrübte Gigantomanie bewundern, und man muss sie abstoßend finden für die Hemmungslosigkeit des Plündergeistes, der dahinter steht. Manchmal klingt das, als poussierte Dieter Bohlen mit Hildegard von Bingen.
Eric Clapton & Mark Shaiman
„The Story of us” (2000)
Ein gutes Clapton-Album durch die Hintertür eines schlechten Films – okay, her damit. Der Ex-Gitarrengott schrieb gemeinsam mit Mark Shaiman große Teile des Scores zu „The Story of us“, der aufgefüllt wird mit klassischem Jazz von Ruby Braff oder den Andrew Sisters. So intim und akustisch, so in sich gekehrt und sparsam hätten wir uns den Meister öfter gewünscht in den letzten Jahren. Hier begegnen wir ihm, wie er auf einem Barhocker sitzt und liebliche Skizzen klimpert, während ein einsamer Perkussionist, manchmal auch ein Geiger, dem Ganzen die Grundierung geben. Die einschläfernde Liveversion von „Wonderful tonight“ ist da völlig unnötig. Genau wie das Finale, wo sich ein Streichorchester beinah wieder zum windelweichen Clapton-Sound der 90er bläht.
Esbjörn Svensson
„Good Morning Susie Soho” (2000)
Esbjörn hat die Haare ab. Und das bedrückende Grollen aus den tiefsten Tiefen des Flügels, mit dem das Album beginnt, lässt letzte Erinnerungen an Hippieattitüden verblassen. Doch keine Angst: Der schwedische Pianist, sein Bassmann Dan Berglund und der Schlagzeuger Magnus Öström spielen noch immer keinen artifiziellen Jazz, sondern einen sehr sinnlichen. Hier wird den Akkorden hinterher gelauscht, wir bekommen Zeit, uns in der Architektur der Klänge zu bewegen, uns in Ruhe umzuschauen. Wenn diese drei wollten, wie sie könnten, sie würden uns die Ohren abfrickeln. Tun sie aber nicht. Dieser Triojazz ist schön und erotisch, auch mal funky oder sanft elektronisch („Last Letter …“) – sein halbdunkles Flair hallt lange in uns nach. Und warum gibt es eine Susie im Albumtitel? „Weil wir Frauen mögen“, sagt Svensson.
Eskobar
„’Til we’re dead” (2000)
Sich an Künstlern wie Nick Drake oder Mazzy Star zu orientieren, muss kein Qualitätsmerkmal sein, wenngleich es natürlich von gutem Geschmack zeugt. Das gelassene Trio Eskobar kommt nicht aus Kolumbien, sondern aus Schweden; es hat diese Vorbilder studiert und sich – zum Glück – anverwandelt, statt es beim Imitat zu belassen. Seine ruhegeborene Musik hat viel Gespür für Atmosphäre und den Gefühlsgehalt von Melodien, aber auch bisweilen eine Glätte, die man gerne abschmirgeln würde. Im Opener tasten sich gespenstisch verhallte Gitarren durch den Raum, der sich allmählich füllt mit verhaltenen Keyboards und Gesang, doch das größte Slo-Mo-Stück ist „She’s not here“: pathetisch karg, ein Klassiker in spe. „Das ist keine Partymusik“, sagt Drummer Robert Birming,