3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner

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3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner


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      Günter Schroth

      „Barcode Music” (2000)

      Wie klingt eigentlich Zartbitterschokolade mit ganzen Nüssen? Oder Büffelmozzarella? Günter Schroth weiß es, weil er Barcodes – jenen verschieden dicken Strichen, welche die Kaufhauskasse piepsen lassen – akustisch nachspürte. Jedes Produkt hat seine insgeheime Melodie, und Schroth geht ihr mit Scanner und Software auf den Grund, legt das heimliche Fiepen, Klingeln und Zirpen der Zivilisation frei – eine akustische Welt, die wir selbst schufen und vergaßen. Der Ansatz ist originell, doch Schroth arrangiert und verfremdet die Barcodes auf eine Weise, die nicht mal den spröden Charme einer Klanginstallation hat. Tipp: Genießt lieber das himmlische Knacken, wenn ihr eine Rippe Zartbitterschokolade mit ganzen Nüssen aus der Tafel brecht.

      Gus Gus

      „Vs T-World” (2000)

      Gus Gus bestehen aus so vielen Leuten, dass jeder auf Island einen kennen muss, der an der Band beteiligt ist. Um so größer die Möglichkeiten dieses Groovekollektivs. Auf dem letzten Album loteten sie das Spektrum des sphärischen Loungepops aus; live dagegen brachten sie beinah das House zum Einsturz. Diese CD ist nun eine Reise ins Gestern, als Gus Gus noch T-World hießen und sich instrumental an eine isländische Definition des Deep House wagten. Die Beats haben oft einen handtrommelähnlichen Sound; darunter zischeln Synthesizer, die eher an die Sequenzerelektronik der Berliner Schule erinnern. Ein transparentes Clubalbum, wenngleich bei weitem nicht so vielschichtig wie ihr Meisterstück „This is normal“ von 1999. Und nicht nur „Earl Grey“ ist leider ein unnötiger Langweiler.

      Haggard

      „Awaking the Centuries” (2000)

      „Das ist ja saudoof! Meine Herren!“, ruft der Kollege spontan. Und da weiß er noch nicht einmal, dass sich diese mit einer gewaltigen Mittelaltermacke geschlagene Münchner Death-Metal-Combo den von Devisenmangel geplagten Neuen Moskauer Rundfunkchor gefügig machte. Der muss also mitsingen bei diesem höchst kruden Mix aus Kammermusik, Prätention, Altlatein, Stumpfsinn und technisch sauber gespieltem Metal. Der größte Fehler aber wird schon offenbar vorm ersten Ton. Denn merket auf, ihr Düsterritter des Todesrocks: Man nennt sich nicht nach einem Countrysänger, wenn man solche Musik spielt. Das gehört sich einfach nicht.

      Hans-Joachim Roedelius

      „Roedeliusweg” (2000)

      Der Elektronikpionier Roedelius, fast 66, ist zurück von seinem komischen Ausflug in den Ethnoambient („Move and resonate“, 1999). Auf „Roedeliusweg“, was ein derart selbstbewusster Titel ist, dass man den scheuen Hans-Joachim verschämt die Augen niederschlagen sieht, entdeckt er Wichtigeres: Beats. Mit Gitarren, Saxofonen und sphärischer Elektronik rückt er ihnen zu Leibe, entwirft auf minimalistische Weise volltönende Klangwelten, die nicht mehr viel zu tun haben mit seinem früheren impressionistischen Pianodadaismus. Doch je länger das Album dauert, desto sperriger wird es – eine doch sehr stimmungstrübende Reise von der Schönheit zu latent nervösem Gefrickel. Das war ja immer sein Spektrum.

      Helicopter Girl

      „How to steal the World” (2000)

      Auf dem Cover faucht Helicopter Girl im Tigerkleid unsichtbare Gegner an, und wir denken sofort an ein Riot-Grrrl, das der Welt zeigen will, wie eine Bitch gestrickt ist – oder an den Seitensprung eines Mädchens aus einer Mädchenband. Alles falsch. Die Schottin Jackie Joyce beginnt ihr Debütalbum mit einer Lo-Fi-Akustikballade, zu der sie singt wie eine britische Stina Nordenstam. Dann wechselt sie zu funkigem Pop, dem Bass, Orgel und manchmal Soundtrackstreicher eine bedrohliche Basis geben, und dem Rhythmus bleibt sie hörig für den Rest des Albums. Dunkler Sound, helle Stimme: Von diesem Kontrast lebt „How to steal the World“, und das sehr gut. Ein außergewöhnliches Album. Und manchmal, wenn sie einen Vokal kehlig verebben lässt, klingt sie doch richtig bitchy.

      HIM

      „Razorblade Romance” (2000)

      Keiner, der Roland Emmerichs „13th Floor“ sah, wird das tröpfelnde Pianothema des HIM-Songs „Join me“ vergessen haben. Auf ihrem zweiten Album ist der gotische Rock der Finnen nicht immer so stark wie auf der bezwingend düsteren Single, doch wie energetisch sie ihre oft euphorisierenden Refrains ansteuern, hebt sie weit über den Genreschnitt. Um so erstaunlicher angesichts der drohenden Bandauflösung während der Deutschland-Tour 1999, als kurzfristig zwei Musiker ersetzt werden mussten. Zum Glück nicht der Songwriter, Sänger und Bandbeau Ville Valo. Ohne den geht nämlich nichts bei HIM; vielleicht wird er mal ein ganz Großer des europäischen Rocks.

      Honky Tonk Heroes

      „Honky Tonk Heroes” (2000)

      Die Travelling Wilburys haben jetzt ihr Pendant im Country. Vier Elder Statesmen des Genres tun sich zusammen: Kris Kristofferson, Willie Nelson, Waylon Jennings und Billy Joe Shaver. Letzterer war 1989 im Studio, als im Wochenabstand erst Nelson und dann Jennings vorbeischauten; wie und warum Kristofferson noch dazu stieß, verheimlicht das Booklet. Wie üblich bei solchen Treffen von Halb- und Volllegenden führt der Respekt voreinander zu rührenden (leider auch etwas sentimentalen) Momenten, doch richtig Schmackes will sich nicht einstellen. Immerhin werden mit diesem Album vier Fangemeinden zusammengeführt, die schon lange gemeinsame Schnittmengen hatten.

      Irmin Schmidt

      „Gormenghast” (2000)

      Vom Aufstieg eines Küchenjungen zum Schlossherrscher sowie dem unvermeidlichen Fall erzählt der Ex-Can-Keyboarder in seiner dreiaktigen Fantasyoper. Sie verbindet großes Musiktheater mit techonophiler Rhythmik zum neogotischen Drama, und wenn man Schmidts Soundtracks kennt, ahnt man, dass es ihn dort schon immer hinzog. „Gormenghast“ ist ein Werk zwischen den Welten, das es wenigstens schafft, nicht am üblichen Problem zu scheitern – nämlich den kleinen Pop so pausbäckig großzublasen, bis er zu Miniklassik wird. Chöre und Beats vertragen sich hier zwar nicht sonderlich, stören sich aber auch nicht weiter. Störender schon eher, dass diesem Extrakt der Wuppertaler Uraufführung beim Exzerpieren die innere Spannung abhanden kam – wie einem geschnittenen Horrorfilm auf RTL II.

      J Mascis + The Fog

      „More Light” (2000)

      Irgendwie hatte ich J Mascis als Schlaffi abgestempelt, als Herumhänger in Flanell. Nicht, dass er den bei Dinosaur Jr gepflegten unverkennbar brüchigen Gesang nun abgelegt hätte; doch auf seinem ersten Soloalbum – es ist wirklich eins, Mascis spielt alles selbst – klingt er viel straffer als zuletzt mit seiner ruhmreichen Band. Aus dem Lo-Fi-Rock von früher wurde zwar noch immer kein radiokompatibler Sound, doch manch vollfettes Arrangement (Piano! Orgel!) und mantraartige Hymnen wie „Waistin“ sagen deutlich: Hey, ich will jetzt in Clubs spielen, in die ein bisschen mehr als nur hundert Leute passen. Der Noise nimmt zu im Lauf der Platte, bis er explodiert in euphorischem, naivem Spacerock. Und auch den spielt kein Schlaffi.

      Jay-Jay Johanson

      „Poison” (2000)

      Immer, wenn er ein Album vorlegt, frühlingt es gerade. Aber Jay-Jay macht auf melancholisch. Der Schwede verdunkelt uns die lichte Saison mit seinem wehmütigen Gesang, der weder zu ihm noch zu seinen tragischen Breakbeats zu passen scheint – und sich doch zusammenfügt zur großartigsten Novembermusik, die man im Mai bekommen kann. 1984 sah er Chet Baker, hörte ihn singen, und danach wusste der dürre Provinzhecht, wie auch er singen wollte. Und er singt bis heute so, genau wie Chet: hoch und dünn, rein wie ein Engel. Von Liebe und Sehnsucht, dem Verlust der Liebe und der Wiederkehr der Sehnsucht. Johanson wäre wohl ein Baker-Epigone geblieben, hätte es keine Clubszene in Stockholm gegeben. Dahin war der Kleinstadtbursche geraten, um Grafikdesign zu studieren, dort wurde er


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