Am Ende des Regenbogens. Maria Rohmer

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Am Ende des Regenbogens - Maria Rohmer


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übernommen. Hier, bei der Familie Häring, die die einzige Gaststätte im Dorf betrieb, haben die beiden so manche Nacht durchgemacht. Viel Freude gehabt, viel gelacht, aber auch so manchen Kummer mitgetragen, waren heimisch hier, gehörten dazu. Dieses Dorf und seine Einwohner haben ihnen zeitlebens viel bedeutet.

      Für mich gibt es - neben meinem Elternhaus - zwei Orte, an denen ich das Gefühl verspüre: Hier bist du zuhause. Zwei ganz verschiedene Orte, aber an jedem bin ich geborgen. Frauenkron ist einer davon.

      Hierher musste ich kommen, um Vaters Geschichte - unsere Geschichte - aufzuschreiben. Das geht nur hier, sonst nirgendwo. Hier bin ich ihm nah, nicht auf dem Friedhof, nicht, wenn ich an seinem Grab stehe. Was selten vorkommt, denn dort ist nur das, was von seinem Körper übrig geblieben ist - was von uns allen nur zurückbleibt - Knochen. Nichts weiter als ein paar Knochen in einem Sarg aus Eichenholz, der einmal zerfallen wird. Das, was den Menschen, was meinen Vater ausgemacht hat, das ist nicht dort unten in der Erde, das ist in mir und in allen drin, denen er etwas bedeutet hat. In jedem von uns ist ein Teil von ihm zurückgeblieben. Wenn ein Mensch geliebt wurde, kann nicht alles verlorengehen. Jeder von uns hat seine eigenen, ganz persönlichen Erinnerungen. Jeder von uns hat ihn anders erlebt, für jeden hat er etwas anderes bedeutet: Den Mann, den Vater, den Opa, den Onkel, den Bruder, den Freund. Jeder hat ein Stück seiner Persönlichkeit entdecken dürfen, jeder vermisst etwas anderes.

      Weißt Du, was ich mir wünsche, wirklich von Herzen wünsche, Papa? Dass der liebe Gott mir nie die Erinnerung an den Klang Deiner Stimme, an Dein Weinen, an Dein Fluchen, die Erinnerung an Dein leises Lächeln, an Deinen Gang, an Deine Hilflosigkeit, an Deine Stärke, und besonders die Erinnerung an die letzten Stunden mit Dir nimmt. Vor diesem Tag hätte ich Angst.

      Wir beide, Du und ich, haben schon vieles gemeistert im Leben. Jeder für sich - allein - oder einer mit dem anderen - gemeinsam. Wir waren schon ein tolles Team. Oder etwa nicht?

      Wie viele Momente voller Traurigkeit haben wir erlebt - durchlebt. Wie oft haben wir uns umarmt, stumm, nur die Tränen flossen. Wie viele frohe, glückliche Stunden haben wir gehabt - auch während Deiner schweren Krankheit.

      6. Kapitel

      Wie vielen Patienten ist von ihrem Arzt schon - mal mehr, mal weniger einfühlsam - gesagt worden:

      „Sie haben da einen bösartigen Tumor. Sie haben Krebs.“

      Bis heute waren diese Patienten stets `die anderen`. Bis heute waren wir davon nicht betroffen. Bis heute, da wurde wieder ein Patient mit der Tatsache konfrontiert, die sein und das Leben seiner Familie von Stund an verändern wird. Der Patient ist mein Vater. Der Tumor sitzt in der Lunge. Es ist der 22.03.1993.

      Jetzt - im nachhinein - bin ich mir sicher, dass alles schon viel früher begonnen hat. Schon sehr viel früher ... Nur hat damals keiner von uns an etwas Ernstes, an etwas Lebensbedrohliches gedacht.

      Warum eigentlich nicht?

      Anfang September 1992 erkrankt Vater an einer Grippe, die ihn - der nie wirklich `richtig` krank war - volle vierzehn Tage ans Bett fesselt. Ein Zustand, der neu ist für die Familie. Etwas, das erschreckt. Das kennen wir nicht an ihm, freiwillig bleibt er nicht so lange liegen. Es muss schlimm sein.

      Völlig kraftlos ist er, nicht in der Lage, auch nur für kurze Zeit das Bett zu verlassen. Sein Hausarzt, der ihn seit vielen Jahren kennt, verordnet Antibiotika und Paracetamol Tabletten, die üblichen Medikamente in so einem Fall. Damit wird es besser werden. Nach zwei Wochen kann er aufstehen, aber bis er sich richtig erholt hat, dauert es noch lange.

      Dann, Anfang Januar 1993, heißt es erneut: „Sie haben eine Virusgrippe. Aber es ist schließlich Winter, und erwischt hat es viele. Man kennt das ja. Jedes Jahr das gleiche. Dazu kommt bei Ihnen eine chronische Bronchitis, zurückzuführen auf Ihr starkes Rauchen.“

      Wieder sollen Antibiotika Linderung bringen. Wieder sind es die gleichen Symptome: Husten, der ihn Tag und Nacht quält, Fieber, Schüttelfrost, Schmerzen in der linken Brust, im linken Arm, Atemnot. Er fühlt sich matt, zerschlagen, hat absolut keinen Appetit. Nur eines lässt er auch während dieser Zeit nicht: Das Rauchen.

      Weniger zwar, aber 15 pro Tag werden es immer noch. Darüber kann man mit ihm nicht reden, und längst hat unsere Mutter es aufgegeben, ihn zu drängen, damit aufzuhören. Im Laufe der 39jährigen Ehe hat sie es mehr als einmal versucht - ohne Erfolg. Um nicht ständig Streitigkeiten heraufzubeschwören, hat sie es dann irgendwann bleiben lassen - schweren Herzens zwar - aber sicher besser so. Ein Problem, das vielen von uns vertraut ist.

      Diesmal dauert es erheblich länger, bis Vater die Kraft hat, für einige Stunden aufzubleiben. So richtig beschwerdefrei wird er nicht. Oft sitzt er nachts auf der Bettkante oder wandert durch die Zimmer, weil er `so schlecht Luft kriegt`. Im Mai verschlechtert sich sein Zustand wieder. Sämtliche Beschwerden treten erneut verstärkt auf. Nun kann sich sein Arzt nicht mehr mit `wir haben Winter` und `eine Virusgrippe kann äußerst langwierig sein und sich schon mal gegen erprobte Arzneimittel resistent erweisen` herausreden. Mittlerweile glaubt er wohl selbst nicht mehr daran. Vater hat 20 Pfund an Gewicht verloren, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Jetzt endlich, nach fast acht Monaten, bekommt er die Überweisung zum Röntgenfacharzt. Jetzt endlich soll die Lunge durchleuchtet werden. Warum hat niemand von uns an das Naheliegendste gedacht? Warum nicht? Warum bloß nicht?

      Waren wir alle blind?

      Acht Monate hatte der Tumor, um zu wachsen. Die ganze lange Zeit ist nichts geschehen. Nichts, was ihn hätte stoppen können. Was hätten Antibiotika und Grippemittel gegen die anders gearteten Zellen ausrichten sollen?

      Das Resultat der Röntgenuntersuchung: „Da ist ein Schatten auf Ihrer Lunge. Das muss genauer abgeklärt werden. Sie müssen für einige Tage in die Klinik. Ambulant geht das nicht.“ Mit der Einweisung ins Kamillianer Krankenhaus kommt Vater nach Hause. Noch können wir uns etwas vormachen. Noch ist es nur ein Schatten auf der Lunge. Noch hat niemand das Wort ausgesprochen, dieses eine Wort ...

      Zwei Tage später ist ein Brett frei, früh morgens fahre ich Vater die kurze Strecke bis zur Klinik. Zur Anmeldung darf ich ihn nicht begleiten. „Fahr du nur zurück. Das schaffe ich schon alleine. Wer weiß, wie lange du hier warten müsstest. Du und Mutter, ihr kommt ja heute Nachmittag.“ Nimmt sich seine Tasche und ist raus aus dem Auto, bevor ich irgendetwas erwidern kann.

      Ziemlich überrumpelt bleibe ich zurück. Schaue ihm hinterher. Er ist nie ein Mensch gewesen, der seine Empfindungen zeigen oder darüber reden mochte. Und bevor ich sehen muss, wie sehr ihn die Sache mitnimmt, da schickt er mich lieber weg.

      Ich verstehe ihn.

      Das Reden, das wird er noch lernen, im Laufe der Zeit. Ich warte, bis er hinter der breiten Glastür verschwunden ist. Spüre seit langer Zeit wieder ein Gefühl von Zärtlichkeit für diesen Mann, der zwar biologisch mein Vater ist, der mir und meiner Schwester viele Jahre hindurch aber kein Vater war. Wir haben nebeneinander hergelebt, mehr nicht. Keiner hat den anderen an seinem Leben wirklich teilhaben lassen.

      Aber jetzt plötzlich weiß ich es: Wir werden uns wieder näherkommen, ganz allmählich, zaghaft, vorsichtig tastend. Wir werden sie wiederfinden: die alte, so lange zugeschüttete Vertrautheit. Die Gefühle füreinander, die früher einmal da waren und die solange keiner von uns mehr zulassen wollte - zulassen konnte.

      Ich weiß es.

      Auf dem Weg vom Wagen zur Glastür hat Vater eine halbe Zigarette geraucht. Es wird seine letzte gewesen sein. Nie mehr werden wir erleben, dass er sich eine anzündet. Ich sehe noch, wie er die angebrochene Schachtel in den Papierkorb rechts neben dem Eingang wirft. Dann schluckt das Halbdunkel der Eingangshalle seine Gestalt.

      Hier beginnt sein und unser Weg durch die Krankenhäuser und die Praxen unzähliger Ärzte. Unmöglich zu sagen, wie viele Stunden wir in den nun folgenden Monaten in Wartezimmern, Vorzimmern, Behandlungsräumen, auf Krankenhausfluren absitzen, ablaufen, abhoffen, abzittern werden.

      Hätten wir sie zählen sollen?

      Profis werden wir beide werden. Fachmenschen in Sachen Warten,


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