Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

Читать онлайн книгу.

Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


Скачать книгу
deren Existenz von der Medizin und von den Medien gern totgeschwiegen, ja regelrecht bestritten wurden? Produzierte ihr Körper deshalb diese Tumore? Niemand wusste eine Antwort darauf. Und selbst wenn es eine gab, so wurde sie sicher vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten.

      Als ihre Eltern gegangen waren schrieb Tilda eine sms an Conny:

      „Komme morgen nicht, bin krankgeschrieben. Sieht schlecht aus. Es ist Krebs. Suche nach einem Ausweg. Schlaf gut! Tilda.“

      Es dauerte keine zwei Minuten und sie konnte Connys Antwort lesen:

      „Mist! Wenn Du meine Hilfe brauchst, dann kannst Du zu jederzeit auf mich zählen. Du findest einen Weg. Ich weiß es einfach. Conny.“

      Mit starrem Blick hatte Tilda die Nachricht ihrer Freundin gelesen. Auch wenn sie sich erst vor fünf Jahren kennengelernt hatten, als sie in Bergedorf angefangen hatte zu arbeiten, so war ihr Verhältnis doch so eng, als ob sie sich schon seit ihrer Kindheit kannten. Dabei war es ganz und gar nicht so, dass sie ständig zusammenklebten und alle Dinge gemeinsam tun mussten. Es war mehr wie eine stille Übereinkunft zwischen ihnen, eine Art Gleichklang der Seelen. Diese Freundschaft hätte sogar unterschiedliche Meinungen zu entscheidenden Dingen des Lebens verkraftet.

      Als Tilda irgendwann an diesem Abend ins Bett ging, war sie vollkommen erschöpft. Dabei hatte sie nichts anderes getan, als sich letztlich darüber klar zu werden, dass sie auf gar keinen Fall sterben wollte. Der nächste Tag stand schon in den Startlöchern. Die Kette ihrer Arztbesuche war erst am Beginn. Zuerst würde ihr Hausarzt Dr. Umlauf an die Reihe kommen, der eigentlich Ludwigs Hausarzt war. Und dann ging es weiter. Ihre Krankschreibung musste verlängert werden. Und vielleicht hatte dieser Dr. Umlauf noch eine Idee, was sie sonst noch gegen den Krebs unternehmen konnte. Vielleicht gab es noch etwas ganz anderes, das sie tun konnte.

      Am Vormittag im Krankenhaus war Tilda deutlich geworden, dass sie dort natürlich nur die Arten von Therapien verordnet bekommen würde, die dort auch zur Ausführung kamen. Krankenhäuser waren keine Wohlfahrtsinstitute. Das hatte sie begriffen. Krankenhäuser mussten und wollten Geld verdienen. Es waren Fabriken. Jeder Patient, der sich für eine alternative Therapie interessierte, war dort gewöhnlich einer zu viel. Ihr war klargeworden, dass sie vom Krankenhaus aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Rettendes zu erwarten hatte. Dort war das, was ihr als Patientin zustand, ganz klar umrissen. Das Krankenhaus würden ihr die üblichen Chemotherapie-Zyklen verabreichen, vielleicht auch noch eine Reihe von Bestrahlungen für notwendig halten und sie dann in ihren letzten Stunden auf der Intensivstation mit Morphium ruhig stellen oder sie für die letzten Tage in ein Hospiz überweisen. Egal wie die Dinge auch standen. Tilda war sich ganz sicher, dass sie nicht so enden wollte wie die anderen Krebspatienten, die diesen Weg in den Abgrund brav mitgegangen waren.

      Das Übliche mit sich machen zu lassen kam in ihren Augen einer Art Selbstaufgabe gleich. Warum sollten die üblichen Maßnahmen bei ihr andere Resultate hervorbringen, als bei denen, die sie bereits hinter sich hatten? Was war mit den kritischen Stimmen, auch unter den Ärzten, die meinten, dass Chemotherapie überhaupt nicht gegen Krebs half, sondern nur zusätzlich das Immunsystem der Patienten zerstörte und den Körper vergiftete? Sie hatte darüber gelesen.

      In der Dunkelheit des Schlafzimmers ballte sie ihre Hände unter der Decke entschlossen zu Fäusten. Es war ihr zu wenig, nur zu versuchen, ihren Tod um ein paar Wochen hinauszuschieben, um dann mit Palliativ-Maßnahmen schmerzfrei zugrunde zu gehen. Sie wollte gesund werden, ganz und gar wieder gesund! Sie wollte leben und nicht nur für ein paar Wochen länger.

      Fragen über Fragen, die unbeantwortet waren, beschäftigten sie. Was nützten ihr ein paar Wochen mehr, wenn sie danach ohnehin gehen musste? Was war, wenn es stimmte, dass Patienten nie wieder völlig gesund werden konnten, wenn sie erst einmal Chemotherapie hinter sich hatten? War das die Wahrheit? Was war mit den Spätfolgen dieser Art von Behandlung? Und woran starben die Krebspatienten nun tatsächlich? Starben sie am Krebs oder starben sie an den Folgen der Chemotherapie? Starben sie vielleicht auch an den Folgen der Bestrahlungen? Tilda war hilflos. Wäre ihre Zustimmung zu einer solchen Behandlung nicht so gesehen die Wahl zwischen Pest oder Cholera, eine Art Verschlimmbesserung ihres momentanen Zustandes?

      Es war dunkel im Zimmer. Ludwig schnarchte noch nicht. Das bedeutete, dass er noch wach war. Sie drehte sich zu ihm um. Seine Augen waren geöffnet. Sie glitzerten ein wenig in der Dunkelheit des Zimmers. Er nahm ihre Hand und hielt sie ganz fest. „Wir schaffen das!“ flüsterte er. „Wir schaffen das, Schatz!“ Tilda nickte zögernd. Zwei Tränen rannen in der Dunkelheit über ihre Wangen. Eine glühend heiße Welle bewegte sich von ihrem Kopf abwärts durch ihren Körper bis zu ihren Zehenspitzen. Ein sehr unangenehmes Gefühl war das. Tilda streckte ihre Füße unter der Bettdecke hervor, um sie ein wenig zu kühlen. In dieser Nacht war sie hier in ihrer Wohnung und bei Ludwig in Sicherheit. Morgen war ein neuer Tag. Morgen wollte sie mit ihrer Schwester telefonieren, wollte sie um Rat fragen. Die arme Doro! Die wusste noch nichts von der Katastrophe, mit der sie sich in Hamburg herumplagte. Oder wusste sie es doch schon? Hatten ihr die Eltern schon alles berichtet, nachdem sie vorhin von der Krisensitzung nach Hause gefahren waren? Tilda war sich nicht sicher, aber das würde sich morgen herausstellen. Was feststand war, dass sie am nächsten Tag zu Dr. Umlauf gehen musste. Gleich ganz früh würde sie hingehen, damit sie nicht so lange in seinem Wartezimmer sitzen musste. Vielleicht hatte er doch noch einen Rat für sie. Mit diesem Gedanken fiel Tilda in einen leichten Schlaf, aus dem sie immer wieder erwachte. Sie war aufgewühlt. Leise drehte sie sich auf die andere Seite, weg von Ludwig. Er schnarchte. Er hatte es gut.

      KAPITEL 3

      Pünktlich um 7.00 Uhr am nächsten Morgen traf Tilda in der Praxis von Dr. Umlauf ein. Die Schwester an der Rezeption begrüßte sie freundlich und nahm den Arztbrief entgegen, den Tilda aus der Onkologie mitgebracht hatte. Sie drehte ihn um und es war in diesem Moment offensichtlich, dass Tilda ihn bereits geöffnet hatte. Ein wenig vorwurfsvoll schaute die Schwester sie an, sagte aber nichts. Tilda fühlte sich wie ertappt. Sie errötete und ärgerte sich gleichzeitig darüber.

      Ein wenig verlegen erklärte sie: „Ich wollte lesen, was darin steht. Es ist meine Krankheit. Und ich wollte mir eine Kopie machen für meine Unterlagen.“ Die Schwester zuckte ein wenig pikiert die Achseln, als wäre ihr das plötzlich alles egal und sagte nur spitz: „Es ist ja ihr gutes Recht den Brief einzusehen. Den Befund hat ihre Krankenkasse bezahlt. Trotzdem ist es eigentlich nicht üblich. Briefgeheimnis.“ Tilda merkte genau, dass die Schwester sich übergangen fühlte, und dass sie mit dem Öffnen des Briefes offenbar das Ego der gesamten Praxis misshandelt hatte. Es war offensichtlich, dass die Frage wie ein tonnenschwerer Meteorit im Raum schwebte, wo es wohl hinführen würde, wenn jeder x-beliebige Patient seine Unterlagen selbst einsehen würde. Der Krankenschwester hinter der Anmeldung stand dieser Vorwurf förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie fragte sich wahrscheinlich im Stillen, was wohl dabei herauskommen würde, wenn sich die Patienten auch noch anmaßen würden, ihre Krankheiten selbst zu beurteilen.

      Die erste Lektion hatte Tilda an diesem Morgen also schon gelernt: Eigenmächtigkeiten schienen in dieser Praxis äußerst unbeliebt zu sein. Das passte zu Ludwig. Schließlich war Dr. Umlauf eigentlich sein Arzt. Ludwig liebte klare Regeln und eindeutige Festlegungen. Er mochte Vorschriften, die verbindlich waren. Das war wohl eine Berufskrankheit.

      Eigentlich hätte Tilda sich in diesem Moment ärgern wollen, aber sie fühlte sich nicht in der Lage dazu. In ihrem Innern war sie vollkommen ausgebrannt. Sie fühlte sich so schwach und so elend, dass sie noch nicht einmal mehr die Kraft für eine Auseinandersetzung mit dieser Krankenschwester gehabt hätte.

      Deshalb drehte sie sich einfach um und nahm wortlos im Wartezimmer Platz. Sie drückte ihre schweißnassen Handflächen zwischen ihren Knien krampfhaft aneinander, während sie wartete. Klamm waren sie und eiskalt. Es fühlte sich für sie an, als ob ihr Körper ihr gar nicht mehr gehörte, als ob sich alles nur noch in ihrem Kopf abspielte. Es schien ein riesiger Kopf auf einem frostigen, winzigen Körper zu sein. Tilda hatte das Gefühl, als würde ihr Gehirn unablässig und auf Hochtouren arbeiten, jedoch dabei zu keinem Ergebnis kommen. Der Rest ihres Körpers war starr wie der einer Mumie.

      Wenig später, gleich nach einem älteren Paar, das bis dahin in Illustrierten geblättert


Скачать книгу