Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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vor sich hin.

      Sie zwang sich, ihren Gedanken Struktur zu geben. In ihrem Kopf herrschte immer noch Chaos. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben so verwirrt gewesen zu sein. Vor allem nahm sie sich in diesem Augenblick eins ganz fest vor: Sie wollte sich nicht in ihren Entscheidungen beeinflussen lassen, von niemandem. Nicht von Ludwig, nicht von den Eltern und erst recht nicht von der Klinik, die mit diesen Behandlungen selbstverständlich auch viel Geld verdiente und deshalb ihrer Ansicht nach niemals objektiv beraten würde. Die Klinik war genauso objektiv wie ein Autoverkäufer in einem Autohaus, den man fragte, ob die Autos in der Ausstellung eine gute Wahl seien. Die Antwort wäre klar.

      Vielleicht tat sie manchen Ärzten damit Unrecht. Ganz frei von Zweifeln war sie in dieser Hinsicht nicht. Vielleicht war es einfach nur so, dass die Klinik schnell zur Chemotherapie drängte, weil es in der Tat das Einzige war, was die Medizin anbieten konnte. Dass das ihr Leben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht retten würde, und dass ihr das bei einer Palliativ-Therapie auch gar nicht erst in Aussicht gestellt wurde, war da schnell Nebensache. Ihr Tod interessierte niemanden von denen wirklich, die tagtäglich mit Krebs und seinen Folgen zu tun hatten. Vielleicht erwartete sie einfach zu viel.

      Schon am übernächsten Morgen machte sich Tilda auf den Weg ins Krankenhaus. Sie hatte gleich morgens einen Termin in der Chirurgie. Die Ambulanz hatte sie angerufen und es dringend gemacht. Tilda sollte einen Portkatheter bekommen. Einen dauerhaften Zugang in ihr Adersystem, damit sie ihre Medikamente über einen Tropf bekommen konnte. Das zumindest hatte ihr der Arzt am Telefon gesagt. Tilda machte sich zu Fuß auf den Weg zum Krankenhaus. Sie wollte eine Zeitlang für sich sein, wollte sich nicht von Ludwig fahren lassen und auch nicht selbst fahren. Es hatte einen großen Streit zwischen ihnen gegeben. Streit wegen ihrer Reisepläne nach Amerika. Ludwig hatte sie für vollkommen verrückt erklärt, in ihrem Zustand nach Arizona fliegen zu wollen. Er hatte das auch nicht zurückgenommen und beharrte darauf. Es sei eine Schnapsidee und einfach unverantwortlich, hatte er gebrüllt. Sie hatte sich gegen ihn zur Wehr gesetzt und am Ende hatten sie sich beide angeschrien.

      Ludwig hatte trotzdem darauf bestanden, dass sie ihn anrufen sollte, sobald sie fertig war und nach Hause gehen durfte. Dann wollte er sie abholen.

      Tilda verließ gegen 6.30 Uhr die Wohnung. Auf den Straßen war trotz der frühen Stunde der Berufsverkehr schon in vollem Gange. Sie wählte einen kleinen Umweg durch das Viertel, um nicht an der vielbefahrenen Straße entlanggehen zu müssen. Sie brauchte frische Luft. Außerdem war noch genug Zeit, so dass sie sich diesen kleinen Luxus erlauben konnte. Über so einen Portkatheter hatte sie sich inzwischen belesen. Der Port war als Dauerzugang in erster Linie dafür notwendig, um durch ihn die Chemotherapie in die Blutbahn zu verabreichen. Tilda wusste immer noch nicht, ob sie das Ding überhaupt brauchen würde. Sie war nach wie vor unentschlossen. Der Port sollte ihr irgendwo rechts unterhalb ihres Schlüsselbeines implantiert werden. Tilda hatte ein mulmiges Gefühl, als sie pünktlich kurz vor sieben Uhr die chirurgische Abteilung des Krankenhauses betrat. Auf den Fluren war es noch verhältnismäßig leer. Sie musste nicht lange warten.

      Der Arzt in der Chirurgie war offensichtlich Afrikaner. Sein Name, mit dem er sich Tilda vorstellte und der auf die Tasche seines weißen Kittels mit blauem Garn gestickt war, war fast unaussprechlich. Der Mann mochte wohl etwa 35 Jahre alt sein. Das war sehr schwer zu schätzen. Seine Haut war dunkelbraun, fast schwarz, genauso wie sein Haar. Es war sehr kurz geschnitten und vollkommen kraus. Seine Augen schienen in Öl zu schwimmen. Das Weiß wirkte gelblich und seine Iris war beinahe so dunkelbraun wie seine Haut. Er war auffallend groß und sehr schlank. Er hatte wunderschöne weiße Zähne und machte einen freundlichen Eindruck. Sein Händedruck war warm und verbindlich. Hinderlich war, dass er nicht gut Deutsch sprach und so verstand Tilda nicht alles von dem, was er ihr erklärte. Weiter erschwerend kam hinzu, dass er immer wieder lateinische Fachbegriffe benutzte, die sie nicht kannte. Tilda war so beunruhigt und aufgeregt, dass sie ohnehin schon Schwierigkeiten hatte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier und das Behandlungszimmer, in dem die grelle Neon-Deckenbeleuchtung eingeschaltet war, wirkte kalt und sachlich und machte sie noch nervöser. Dieser afrikanische Arzt sollte offenbar mit ihr das Aufklärungsgespräch über die im Anschluss bevorstehende Operation führen. Die ambulante Operation, die für das Setzen des Portkatheters notwendig war. Tilda war eingeschüchtert und traute sich kaum noch einmal nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden hatte. Offenbar wegen seiner eingeschränkten Kenntnisse der deutschen Sprache stand ihm eine zierliche, burschikos wirkende Schwester in grüner Kleidung zur Seite, die zwischen dreißig und vierzig Jahre alt war. Sie hatte die Ausstrahlung einer zähen, durchtrainierten Soldatin. Wegen ihrer geringen Größe wirkte sie wie ein Zwerg gegen ihn. Ihr ohnehin schon kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war auf der linken Kopfseite fast vollständig abrasiert. Ihre dunkelbraunen Augen mit den starken Brauen darüber blickten unterkühlt und sachlich. Sie hielt ihre Hände ständig hinter ihrem Rücken verschränkt, so als habe sie etwas zu verbergen. Ihre Nasenflügel bebten, wenn sie atmete. Der afrikanische Arzt gestikulierte während seinen Erklärungen mit den Händen, wohl um das Gesagte verständlicher zu machen. Es war ihm offenbar bewusst, dass die Patienten Schwierigkeiten hatten, ihn zu verstehen. Während er sprach, versuchte Tilda den eingestickten Namen auf seinem weißen Kittel in Gedanken auszusprechen. „Dr. Abubakar Omntumbu“ stand da. Sie fragte sich, woher dieser Mann kam. Die kleine grüne Zwergen-Krankenschwester neben ihm wartete immer ab, bis er seine Ausführungen beendet hatte, und es eine kleine Pause gab. Dann begann sie, die Informationen für Tilda noch einmal zusammen zu fassen. Alles, was Tilda verstanden hatte war, dass ihr Portkatheter eine Kammer mit einer dicken Silikonmembran war, an die der Schlauch angeschlossen werden sollte, der mit dem Gemcitabin-Tropf, der chemischen Keule, verbunden wurde. Von dort aus würde also das Gift in ihre Blutbahn gelangen. Der Arzt erklärte ihr, dass dieser dauerhafte Zugang zu ihrem Blutsystem praktisch wäre, um ihr nicht jedes Mal erneut eine Kanüle in den Arm stechen zu müssen, wenn sie zur Chemotherapie kam. Er erwähnte dabei auch, dass es möglich sei, dass dieser Zugang verstopfen konnte. Der Arzt machte zur Erklärung eine Skizze mit einem silbernen Kugelschreiber aus dem eleganten, hölzernen Ständer auf seinem Schreibtisch. Er benutzte dazu den Schreibblock, der auf seinem Tisch dafür bereit lag und auf dem schon eine ähnliche Skizze zu sehen war. Er erklärte ihr, dass, wenn der Portkatheter nicht wieder frei zu bekommen war, ein neuer an einer anderen Stelle ihres Körpers eingesetzt werden musste. Das käme leider ab und zu vor, wie er beiläufig erwähnte. Tilda befürchtete im Stillen, dass das vermutlich davon abhing, wie lange der Patient mit seinem Krebs bei dieser aggressiven Therapie am Leben blieb.

      Der schwarze Chirurg blendete den Aspekt des Sterbens bei seinen Schilderungen aber vollkommen aus. Wahrscheinlich war für das Sterben in diesem Krankenhaus eine andere Abteilung zuständig. Überhaupt schien er die Maßnahmen, über die er Tilda aufklärte, nicht weiter dramatisch zu finden. Irgendwann gegen Ende seiner Ausführungen erwähnte er wie nebenbei, dass auch bei Palliativbehandlungen praktischerweise früher oder später alle Medikamente durch diesen Portkatheter gegeben werden konnten. Das würde vieles vereinfachen. Auch die regelmäßige Gabe der Schmerzmittel, wie beispielsweise des Morphins. Vor allem Patienten würden davon profitieren, so sagte er, die gegen Ende ihrer Erkrankung zu schwach waren, um ihre Medikamente auf andere Art und Weise einzunehmen. Tilda erstarrte innerlich bei seinen Worten. So direkt hatte das bisher noch niemand zu ihr gesagt. In ihrem Innern sträubte sich alles gegen das Gehörte. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Injektion bekommen, die dafür sorgte, dass ihr binnen Sekunden das Blut in den Adern gefror. In ihrem Kopf rauschte es. Sie schloss für einen kurzen Moment lang die Augen. Palliativ bedeutete ja in Wahrheit, dass es gar nicht mehr um den Versuch einer Heilung ging. Es ging nur noch um schmerzfreies Sterben. Sie wusste ja eigentlich selbst, dass das die bittere Wahrheit war. Alles in ihr bäumte sich bei diesem Gedanken auf. Tilda merkte, wie ihr übel wurde. Sie wollte nicht sterben.

      Merkwürdig entschlossen zwang sie sich zur Ruhe und erkundigte sich nach den Nebenwirkungen ihrer Chemotherapie. Dr. Omntumbu lächelte freundlich, so dass sie seine schneeweißen Zähne erneut sehen konnte. „Haarausfall, Blutbildveränderungen, Übelkeit und verschiedenes mehr“, gab er vage zur Antwort. Dann aber schüttelte er den Kopf, als er zu sprechen fortfuhr. All das würden ihr seine Kollegen von der Onkologie später noch erklären, sagte er. Sie würden es rechtzeitig tun,


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