Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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sie ihm ihre Reisepläne tags zuvor schon angedeutet. Hatte er ihr nicht zugehört?

      Jetzt, da er merkte, dass sie das alles ohne ihn entschieden hatte, begann er, Tilda Vorwürfe zu machen. Durch´s Telefon herrschte er sie barsch an: „Du spielst mit deinem Leben, Tilda! Das ist einfach unverantwortlich!“ Er schnappte nach Luft und fuhr heftig fort. „So viel Unverstand! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch jetzt nicht verreisen, als wenn nichts wäre! Ich versteh´ dich nicht! Das ist doch irre, was du da machst! Bist du denn lebensmüde?“

      Er bemerkte jedoch bald, dass seine Einschüchterungen nicht die gewünschte Wirkung erzielten. Tilda war offenbar nicht zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Wütend legte er auf.

      Irritiert starrte sie auf ihr Telefon. Sie hatte von ihm keine Beifallsbekundungen erwartet, aber auf keinen Fall Anschuldigungen und Vorwürfe. Dennoch stand ihre Entscheidung fest. Als Ludwig am Nachmittag nach Hause kam, wirkte er beleidigt und wortkarg. Tilda erkannte das sofort an seinem Gesichtsausdruck, als er zur Tür hereinkam. Immer, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, sprach er nicht mit ihr oder nur so wenig wie möglich. Kaum hatte er seine Jacke im Flur aufgehängt, hielt er Tilda an beiden Schultern fest und starrte sie mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit an. Während er ihr in die Augen sah, presste er aggressiv hervor: „Bist du denn verrückt geworden? Wenn Du jetzt fliegst, dann wirst du sterben!“ Er schluchzte merkwürdig auf. „Du wirst sterben, wenn du dich nicht behandeln lässt! Begreifst du das denn nicht? Geht das nicht in deinen Dickschädel?“

      Ein wenig tat er Tilda sogar leid, weil er sich so aufregte. Beschwichtigend schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. „Aber Schatz, ich sterbe doch sowieso! Auch wenn ich Chemotherapie mache!“ Sie versuchte zu lächeln, aber das misslang. Kurze Zeit rang sie um ihre Fassung, bevor sie mit Tränen in den Augen fortfuhr: „Du! Du bist der, der nichts begreift! Es ist eine Palliativbehandlung, die ich bekommen soll! Palliativ – verstehst du, was das heißt? Sie rechnen nicht damit, dass ich es schaffen kann. Für die Onkologen bin ich tot! Tot! Toooooot!“ Ludwig ließ hilflos die Arme sinken. Er suchte nach Worten. „Aber…… vielleicht geschieht doch noch ein Wunder……und die Chemo hilft dir?!“, stammelte er. Er war vollkommen überfordert mit dem, was geschah. Tilda löste ihre Arme langsam von seinem Hals und sah ihm in seine angstgeweiteten, blauen Augen. So aufgelöst hatte sie ihn bisher noch nie gesehen. Mit fester Stimme erklärte sie dann entschlossen: „Nein, Ludwig. Auf ein Wunder werde ich nicht hoffen. Ich weiß, dass ich handeln muss. Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Aber ich werde es herausfinden. Dafür brauche Abstand.“ Ein wenig leiser fügte sie hinzu: „Ich bin doch kein krebskranker Lemming, der sich mit den vielen anderen krebskranken Lemmingen in den Abgrund stürzt, bloß weil all die anderen das tun!“

      Resigniert ließ Ludwig sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und griff sich an die Stirn. Dann flüsterte er mit brüchiger Stimme: „Schatz, ich kann dir nichts vorschreiben. Das ist klar. Aber ich bitte dich inständig: Bleib hier und mach die Chemotherapie! Vielleicht bist du eine von den Wenigen, die damit wieder gesund werden!“ Tilda setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. „Warum sollte gerade ich diejenige sein, die es damit schafft? Selbst wenn mir das helfen sollte, die Überlebenszeit bei Krebs über 5 Jahre hinaus ist so gering, dass du noch nicht einmal zuverlässige Statistiken darüber finden kannst! Und wenn man doch irgendetwas findet, dann ist das alles bloß geschönt und entspricht nicht der Realität. Wer kann das kontrollieren? Tatsache ist doch, dass jeder vierte Mensch in Deutschland an Krebs stirbt. Krebs ist damit die zweithäufigste Todesursache bei uns in Deutschland.“ Sie legte ihre Stirn in nachdenkliche Falten und fügte hinzu: „Das sind einfach verheerende Zahlen. Und weißt du, dass achtzig Prozent aller Ärzte selbst keine Chemo machen würden, wenn sie Krebs hätten? Mindestens achtzig Prozent! Das sind zumindest die, die das bei den Befragungen zugegeben haben. So sieht die Realität aus, Luddi!“ Herausfordernd blickte sie Ludwig an und strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Ihre blauen Augen funkelten dunkel und angriffslustig, während sie weitersprach: „Ja, alle die ich kenne, sind tot! Davon lebt keiner mehr. Und die haben alle haben ihre Chemotherapie durchgezogen. Ich kenne nur zwei Frauen, die den Krebs überlebt haben. Und das ohne Chemo! Aber die beiden hatten Brustkrebs. Das ist sicher nicht vergleichbar. Bei Brustkrebs sind die Zahlen viel besser. Aber vielleicht haben sie auch überlebt, weil sie keine Chemo gemacht haben. Oder weil ihre Tumoren in Wahrheit gutartig waren. Wer weiß das schon.“

      Tilda ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Orangensaft zurück. Sie stellte eins auf den Couchtisch vor Ludwig und trank selbst einen großen Schluck von ihrem Glas, bevor sie es neben das seine stellte. „Und was Margarete angeht, eine der Brustkrebs-Frauen“, griff sie erneut das Thema auf, „vielleicht war das wirklich gar kein Krebs bei ihr. Vielleicht waren es nur Zysten oder Verkalkungen oder was weiß ich. Jedenfalls das, was man vor wenigen Jahren noch als gutartig bezeichnet hätte. Das glaubt sie auch. Heute ist doch angeblich alles immer gleich Krebs! Die gutartigen Tumoren scheinen ausgestorben zu sein. Das ist mir schon länger aufgefallen. Findest du das nicht auch merkwürdig?“ Sie sah ihn fragend an und als er nicht antwortete, sprach sie weiter: „Aber wenn man alles zu Krebs erklärt, dann hat man statistisch gesehen natürlich bessere Überlebensraten. Klar!“ Da Ludwig immer noch nichts sagte, fuhr sie fort: „Vielleicht lebt Margarete deshalb noch, weil das in Wahrheit gutartige Tumore bei ihr waren. Oder sie lebt noch, weil sie keine Chemo gemacht hat.“ Sie schaute einen Moment lang still vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Ich glaube, sie war auch noch bei so einer Besprecherin. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie bei so einer Frau war!“

      Ludwig hob theatralisch die Hände: „Bei einer Besprecherin war sie? Heiliger Strohsack! Und an so einen Unfug glaubst Du?“, fragte er wütend. „Meine Eltern kennen in München eine Menge guter Ärzte. Das ist wenigstens was Reelles und nicht so ein Hokuspokus. Kriminell ist das! Besprecherin! Das ich nicht lache! Ich werde meine Eltern bitten, einen guten Onkologen für Dich zu finden, bei dem du dich vorstellen kannst. In München!“ Er trank einen Schluck und stellte sein Glas mit einem Knall wütend wieder zurück auf den Tisch, während er weitersprach: „Das sind studierte Leute, von denen du dir helfen lassen kannst.“ Er schlug mit der flachen Hand aufgebracht auf die hölzerne Tischplatte des Couchtisches, der das mit einem Ächzen quittierte. Der Orangensaft in den Gläsern zitterte. Tilda erhob sich entschlossen von der Couch. „Egal, Ludwig. Das bringt doch nichts. Was meinst du, was die Ärzte in München mit mir machen werden? Chemotherapie! Und zwar palliativ! Mach dir doch nichts vor! Du bist doch sonst immer so ein realistischer Mensch, wie du sagst!“

      Tilda ging zurück in die Küche. Von dort aus sah sie durch die geöffnete Wohnzimmertür, wie Ludwig immer noch zusammengesunken auf der Couch hockte. Einerseits tat er ihr leid. Andererseits war sie wütend auf ihn, weil er sie wie ein unverständiges, kleines Mädchen behandelte. Sie war zwar sechs Jahre jünger als er mit seinen sechsunddreißig, aber sie litt doch nicht plötzlich an Verblödung, weil sie Krebs hatte! Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Was wusste er schon davon, wie sie sich fühlte und was das Beste für sie war? Wie konnte er nur so blind sein, ihr genau das vorzuschlagen, was all die anderen verzweifelten Krebskranken auch schon erfolglos versucht hatten? Genau das, was die meisten von ihnen mit ihrem Leben bezahlt hatten. Tilda kochte innerlich vor Wut.

      Schlagartig spürte sie wieder dieses Unwohlsein in sich. Es war ihr, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. In ihrem Bauch baute sich erneut der dumpfe Druck auf, den sie seit Wochen kannte. Sie setzte sich erschöpft auf einen der Küchenstühle. Entmutigt starrte sie vor sich hin, konnte kaum einen Gedanken fassen. Sie fragte sich verzweifelt, ob diese Krankheit tatsächlich ihr Todesurteil sein sollte. Warum stritt Ludwig mit ihr über die Behandlung? War nicht der Grund dafür in Wahrheit der, dass er die Verantwortung für den weiteren Verlauf abgeben wollte, um besser damit zu Recht zu kommen? War es tatsächlich das? Natürlich wäre das vollständiger Unsinn, denn es gab doch gar keine Verantwortung für ihn in dieser Sache! Warum verstand er nicht, dass sie alles für besser hielt, als die übliche Therapie?

      Sie war enttäuscht von ihm. Dass Ludwig ihr in den Rücken gefallen war ließ ihr keine Ruhe. Langsam ging sie wieder hinüber zu ihm ins Wohnzimmer. Sein Gesicht wirkte verquollen, seine Augen gerötet. Er sah so aus, als ob er geweint hätte. Seit sie ihn kannte hatte sie ihn noch nicht ein einziges


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