Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

Читать онлайн книгу.

Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


Скачать книгу
dir da ein? Hmmm? Ich hör´ dich gar nicht mehr! Vielleicht müsstet ihr erstmal darüber nachdenken, bevor ihr mir Empfehlungen gebt! Niemand ist mehr am Leben von denen. NIEMAND!!!“ Tildas Stimme überschlug sich. „Ich – mach – da – nicht – mit! Verstehst du mich, Mam? Ich – mach – da – nicht – mit!“

      Am anderen Ende der Leitung hörte man ein kurzes rascheln und knacken. Dann war die Stimme ihres Vaters zu hören. Er sagte beschwichtigend: „Mädchen, jetzt reg dich doch nicht so auf. Du bist doch ein kluges Kind. Meine Tochter. Im Grunde genommen ist das ja alles nicht verkehrt, was du da sagst. Aber solange du keine bessere Idee hast, würden wir dir empfehlen, die herkömmliche Therapie zu machen. Wir leben ja, Gott sei Dank, hier in einem Land, wo das möglich ist. In vielen anderen Ländern scheitert das ja häufig schon an den Kosten.“ Tilda entgegnete ihm aufgebracht: „Ja, Paps. Das stimmt. Das kann ich nicht bestreiten. Aber es geht doch hier gar nicht um die Kosten! Es geht darum, dass man nicht alles machen muss, was einem von der modernen Medizin angeboten wird! Manches von diesen Angeboten sind keine Segnungen, an denen jeder teilhaben kann! Manche dieser Angebote können einen Patienten auch ins Verderben stürzen. Das sieht man häufig erst hinterher.“ Sie schniefte: „Ich will mich nicht mit euch streiten. Das führt doch zu nichts. Den Krebs habe nun mal ich. Und deshalb entscheide ich, was ich tun werde. Meine Chancen aus Sicht der Onkologie sind Null, ob mit oder ohne Chemo. Die kann ich übrigens immer noch machen, wenn ich zurückkomme. Die läuft mir nicht weg. In drei Wochen will das Krankenhaus auch noch Geld an mir verdienen, keine Sorge!“ Tilda lachte bitter. „Ihr beiden, wenn Ihr was für mich tun wollt, dann könnt Ihr am Dienstag zum Flughafen kommen und mir eine gute Reise wünschen. Würdet ihr das bitte tun?“ Ihr Vater seufzte nur und ihre Mutter rief von weiter hinten mit schriller Stimme: „Aber Kind, nun sei doch nicht so uneinsichtig…….!!!“ Während sie ihre Mutter im Hintergrund immer noch weiterreden hörte, sie sagte gerade irgendwas von Unvernunft, beendete Tilda mit ihrem Vater kurzentschlossen das Gespräch.

      Später, nachdem sie im Internet ihr ESTA-Formular für ihre Einreise in die USA ausgefüllt hatte und bereits nach einigen Minuten eine Bestätigung der US-Behörden erhalten hatte, kam auch Ludwig wieder aus dem Arbeitszimmer heraus. Es war ganz offensichtlich, dass er den Raum als Deckung benutzt hatte, um sich dort zu verkriechen. Seine wasserblauen Augen musterte Tilda einen kurzen Moment lang, um herauszufinden, wie ihr Gemütszustand war. Anscheinend wollte er daraus Schlussfolgerungen ziehen, wie das Telefonat mit ihren Eltern verlaufen war. Tilda jedoch ging schnurstracks an ihm vorbei und würdigte ihn keines Blickes. Ehe sie die Badezimmertür hinter sich schloss, um zu duschen, konnte sie sich nicht verkneifen, ihm ein: „Vielen Dank, du Verräter!“ entgegen zu zischeln. Sie verriegelte geräuschvoll die Badezimmertür hinter sich und hörte Ludwig noch jenseits der Tür sagen: „Es war nur ein Versuch von mir! Versteh mich bitte, ich musste das tun!“ Tilda ignorierte seine Rechtfertigung. Sie fragte sich wütend, auf welcher Seite er eigentlich stand. Während sie den warmen Wasserstrahl auf ihrem Körper spürte und minutenlang ganz still darunter stand, kamen ihr die Begebenheiten des Tages noch einmal in den Sinn.

      Und wenn sie nun tatsächlich nur noch vier Monate oder sogar weniger zu leben hatte, wie es die Prognose der Ärzte für sie aussagte? Dann würde es Mitte oder Ende September sein. Im September würde demnach alles, was noch von ihr übrig blieb, in eine kleine Urne passen. Sie stand da wie erstarrt. Sollte das etwa ihr Leben gewesen sein? Sollte das alles gewesen sein? Es war eine Vorstellung, die Tilda die Tränen in die Augen trieb. Unter dem Wasserregen der Dusche war das bedeutungslos. Und letzten Endes: Ein Menschenleben mehr oder weniger auf dieser Welt, wen kümmerte das schon wirklich. Das fiel doch gar nicht auf. Für ihre Eltern würde es sicher furchtbar sein. Natürlich! Aber immerhin hätten sie dann noch Doro. Und Doro war am Leben! Noch dazu hatten sie durch Doro auch drei Enkelkinder, die sie liebten. Wenn der Herbst kam, dann würde sie vielleicht tatsächlich gehen müssen. Vielleicht auch schon vorher. Wer konnte das sagen? Jetzt, wo Tilda diesen Umstand realistisch betrachtete, was ihr wirklich schwer fiel, war ihr eines klar: Ihre prognostizierte Lebenserwartung, die sie jetzt noch hatte, traf doch nur auf sie zu, wenn sie die empfohlene Therapie machte. Nur für diesen Fall konnten die Mediziner in der Klinik eine Prognose stellen. Fast alle Patienten mit ihrer Diagnose hatten die übliche Therapie gemacht. Manche aus Überzeugung, mache aus Angst und manche aus Verzweiflung. Aber immer war es dieselbe Voraussetzung, die da in die Statistik einfloss. Eine Therapie, die die Patienten von vornherein aller weiteren Chancen beraubte, weil sie das Immunsystem zerstörte oder zumindest so stark beschädigte, dass es selbst mit der Hilfe anderer, geeigneter Maßnahmen meist keine Heilung mehr gab. Es war eine Sackgasse in die alle sehenden Auges hineinrannten, bis sie dort unweigerlich zugrunde gingen. Es schien tatsächlich kaum jemanden zu geben, der sich wiedersetzte.

      Tilda war bisher leider nichts wirklich Brauchbares als Alternative eingefallen. Zu wenige Menschen schienen sich dafür zu interessieren. Und wenn sie es doch taten, dann stellten sie ihre Erfahrungen der Allgemeinheit offenbar nicht zur Verfügung. Während immer noch das heiße Wasser aus der Dusche auf ihre Haut prasselte und Tilda versuchte, das zu genießen, starrte sie mit leeren Augen vor sich hin.

      Beim Abtrocknen fühlte sie sich schwindelig und schwach. Der Tag hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie setzte ich auf den Hocker aus hellem Holz, der im Badezimmer gleich neben dem großen Waschtisch stand. Die Anstrengungen forderten jetzt ihren Tribut. Tilda war trotzdem nicht unzufrieden. Auch wenn es einigen nicht passte, was sie tat. Sie hatte vieles erreicht und einiges entschieden an diesem Freitag. Das war alles in allem viel mehr, als sie in der Kürze der Zeit für möglich gehalten hatte. Jetzt war es Abend und sie hatte keinen Portkatheter, sie hatte mit Ludwig und mit ihren Eltern Klartext gesprochen und sie würde in Kürze zu Doro und ihrer Familie nach Arizona fliegen. Bei allem Schrecklichen, das in ihrem Leben gerade passierte, gab es auch Grund zur Freude. Tilda war zufrieden. Alles in allem war es doch ein guter Tag für sie gewesen.

      Spät am Abend schrieb Tilda Conny noch eine Nachricht. „Hi Conny, habe mir keinen Port setzen lassen. Mache keine Chemo. Fliege nächste Woche nach Arizona zu meiner Schwester. Grüß alle in der Schule von mir. Melde mich! Alles wird gut. Tilda“ Die Antwort kam augenblicklich: „Hi meine Süße, Du machst alles richtig. Ich bin auf Deiner Seite, habe aber große Angst um Dich. Du machst das schon. Du bist ein großes Mädchen! Ja, alles wird gut. Liebe Grüße, Conny“. Tilda fühlte sich erleichtert. Zumindest eine Freundin hatte sie, die ihr nichts auszureden versuchte und die ihr keine Vorhaltungen machte, obwohl sie selbst auch Angst hatte. Sie zögerte einen Moment. Dann schrieb sie Conny: „Ich habe auch große Angst.“, und schickte die Nachricht ab. Die Antwort von Conny kam genauso schnell, wie beim ersten Mal: „Ich weiß.“ Tilda stiegen wieder die Tränen in die Augen. Sie wusste schon, was sie an Conny hatte. Aber dieses stille Einvernehmen erfüllte sie trotz der Umstände mit großer Freude und Erleichterung. Es gab zum Glück Menschen in ihrem Leben, mit denen sie nicht alle Dinge lang und breit diskutieren, sie hin und her wälzen und sich rechtfertigen musste. Trotzdem war alles klar. Conny war schon immer ein ganz besonderer Mensch für sie gewesen, nicht nur wegen ihrer schrillen Outfits. Sie kannte sie jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Dabei war diese Ewigkeit realistisch betrachtet noch gar nicht so lang. Sie betrug nur ganze fünf Jahre.

      Tilda erinnerte sich jetzt an Connys langes, braunes Haar. Das war ihr damals zu allererst aufgefallen, als sie sie zum ersten Mal im Lehrerzimmer gesehen hatte. Und an ihr fröhliches, entspanntes Lachen. Und daran, dass sie mit ihrer Größe alle anderen Kolleginnen überragte. Als sie sich zum ersten Mal die Hand gegeben hatten und Tilda wegen Connys Größe ein wenig zu ihr aufschauen musste, hatte Conny grinsend gesagt: „Jetzt fragen sie mich aber bloß nicht, wie die Luft hier oben ist! Der alte Witz ist öde.“ Tilda hatte gelacht und einfach nur: „Nö!“ gesagt. Das Eis war gebrochen und dank Conny hatte Tilda sich viel schneller in ihren Arbeitsalltag als Lehrerin hineingefunden. Conny hatte ihr damals einiges erspart und sie in aller Freundschaft auch vor dem einen oder anderen Kollegen gewarnt. Das, was sie selbst an Erfahrungen gemacht hatte, stellte sie Tilda einfach so zur Verfügung. Als Begründung für dieses Verhalten hatte sie damals nur kurz gesagt: „Ich denke, wenn einer damit angeeckt ist, dann reicht´s! Und ich bin schon.“

      Conny war immer so lustig und unbeschwert, obwohl sie es in ihrem Leben bisher nicht leicht gehabt hatte. Eigentlich hatte sie eine ganz dramatische Geschichte


Скачать книгу