Das Geld. Emile Zola

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Das Geld - Emile Zola


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ausrechnete, daß der Altersunterschied zwischen ihnen nur vierzehn Jahre betrug, hatte sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er sie eines schönen Abends in die Arme nähme. Durfte er annehmen, daß sie seit zehn Jahren, seit ihrer erzwungenen Flucht aus dem Hause ihres Gatten, von dem sie mit ebensoviel Schlägen wie Zärtlichkeiten bedacht worden war, wie eine reisende Amazone gelebt hatte, ohne einen Mann anzusehen? Vielleicht hatten die Reisen sie geschützt. Indes wußte er, daß ein Kaufmann und Freund ihres Bruders, der in Beirut geblieben war und dessen Rückkehr nahe bevorstand, sie sehr geliebt hatte; um sie heiraten zu können, hatte er den Tod ihres Gatten herbeigesehnt, der wegen Säuferwahnsinn in ein Irrenhaus eingeliefert worden war. Offenbar hätte diese Heirat nur ein sehr entschuldbares, beinahe legitimes Verhältnis geregelt. Warum sollte er, Saccard, nun nicht der zweite sein, wo es ja schon einen gegeben haben mußte? Aber Saccard ließ es beim bloßen Gedanken bewenden, denn er fand sie so kameradschaftlich, daß das Weib oft gänzlich in den Hintergrund trat. Sooft er sie mit ihrer bewundernswerten Gestalt vorbeigehen sah, fragte er sich von neuem, was wohl geschehen würde, wenn er sie umarmte. Und er gab sich selbst die Antwort, daß sehr gewöhnliche, vielleicht ärgerliche Sachen passieren würden, und er verschob den Versuch auf später, drückte ihr nur, beglückt über ihre Herzlichkeit, kräftig die Hand.

      Dann war Frau Caroline plötzlich wieder sehr bekümmert. Eines Morgens kam sie niedergeschlagen, sehr blaß und mit verschwollenen Augen herunter. Er konnte nichts aus ihr herausbringen und fragte sie nicht weiter aus angesichts der Hartnäckigkeit, mit der sie behauptete, sie habe nichts, sie sei wie alle Tage. Erst am nächsten Tag begriff er, als er oben einen Brief fand, in dem die Heirat von Herrn Beaudoin mit der sehr jungen und unermeßlich reichen Tochter eines englischen Konsuls angezeigt wurde. Der Schlag mußte um so härter gewesen sein, als die Nachricht ohne jegliche Vorbereitung, sogar ohne ein Lebewohl, nur mit diesem banalen Brief eintraf. Das war ein richtiger Zusammenbruch im Dasein der unglücklichen Frau, der Verlust der fernen Hoffnung, an die sie sich in den Stunden des Unglücks klammerte. Und wie es der Zufall wollte, der abscheuliche Grausamkeiten bereithält, hatte sie gerade zwei Tage zuvor erfahren, daß ihr Gatte gestorben war, und achtundvierzig Stunden lang an die nahe bevorstehende Verwirklichung ihres Traums geglaubt. Ihr Leben stürzte zusammen, sie war vernichtet. Am gleichen Abend wartete noch eine weitere unangenehme Überraschung auf sie: als sie, ehe sie zum Schlafen hinaufging, wie gewöhnlich bei Saccard eintrat, um sich mit ihm über die Anordnungen für den folgenden Tag zu unterhalten, sprach er so teilnahmsvoll von ihrem Unglück, daß sie in Schluchzen ausbrach. Rührung überkam sie, ihre Willenskraft war wie gelähmt, und sie fand sich plötzlich in seinen Armen, sie gab sich ihm hin, freudlos für beide. Als sie wieder zu sich kam, begehrte sie nicht auf, aber sie war unendlich traurig. Warum hatte sie das geschehen lassen? Sie liebte diesen Mann nicht, und er liebte sie wohl auch nicht. Keineswegs schien er ihr in einem Alter und von einem Aussehen, die intimer Zärtlichkeit unwürdig wären. Gewiß war er keine Schönheit und auch nicht mehr jung, doch sein lebhaftes Mienenspiel, der Tatendrang seiner ganzen kleinen dunkelhäutigen Person nahmen sie für ihn ein; ohne ihn genau zu kennen, wollte sie ihn für gefällig, überdurchschnittlich intelligent und für fähig halten, die großen Unternehmungen ihres Bruders mit der üblichen Allerweltsehrlichkeit zu verwirklichen. Nur, was für ein blödsinniger Fehltritt! Sie, die so vernünftig, durch die harte Erfahrung so klug geworden, so voll Selbstbeherrschung war, mußte wie eine sentimentale Grisette in einem Tränenausbruch erliegen, ohne zu wissen, wie und warum! Das schlimmste war, daß sie spürte, wie er gleich ihr über das Abenteuer erstaunt und beinahe verärgert war. Als er sie zu trösten suchte, als er mit ihr über Herrn Beaudoin wie über einen einstigen Geliebten sprach, dessen gemeiner Verrat nur vergessen zu werden verdiente, und sie sich dagegen verwahrte und schwor, daß zwischen ihnen nie etwas gewesen sei, glaubte er zunächst, sie hätte aus weiblichem Stolz gelogen; aber sie wiederholte diesen Schwur mit soviel Nachdruck, und ihre Augen blickten dabei so schön, so klar und ehrlich, daß er schließlich von der Wahrheit ihrer Geschichte überzeugt war: wie sie sich aus Redlichkeit und Würde für ihren Hochzeitstag aufheben wollte und der Mann sich zwei Jahre lang geduldete, dann müde wurde und bei Gelegenheit eine andere heiratete, deren Jugend und Reichtum sich ihm allzu verführerisch darbot. Und das Merkwürdige daran war, daß diese Entdeckung, diese Überzeugung, die Saccard hätte in Leidenschaft versetzen müssen, ihn im Gegenteil beinahe verwirrte, so sehr begriff er die lächerliche Zufälligkeit seines unverhofften Glücks. Übrigens taten sie es nie wieder, da offenbar keiner von beiden Lust dazu verspürte.

      Vierzehn Tage lang war Frau Caroline schrecklich traurig. Die Lebenskraft, dieser Antrieb, der aus dem Leben eine Notwendigkeit und eine Freude macht, hatte sie verlassen. Sie ging zwar ihren vielfältigen Beschäftigungen nach, war aber irgendwie geistesabwesend, ohne sich über Sinn und Zweck der Dinge noch Täuschungen hinzugeben. Die menschliche Maschine arbeitete aus Verzweiflung über die Nichtigkeit allen Tuns. Ihre einzige Zerstreuung in diesem Schiffbruch ihrer Tapferkeit und Heiterkeit war es, alle ihre freien Stunden an einem Fenster des großen Arbeitszimmers zu verbringen, die Stirn an die Scheiben gepreßt und den Blick starr auf den Garten des Nachbarhauses geheftet, jenes Palais de Beauvilliers, dessen bittere Not und verborgenes Elend sie seit den ersten Tagen nach ihrem Einzug erraten hatte, obwohl man sich so verzweifelt bemühte, den Schein zu wahren. Dort gab es auch Wesen, die litten; ihr eigener Kummer war wie durchtränkt von diesen Tränen, und sie verfiel in tödliche Schwermut, so daß sie sich bisweilen gefühllos und tot im Schmerz der anderen vorkam.

      Diese Beauvilliers, denen früher in der Rue de Grenelle ein herrliches Palais gehörte, ganz zu schweigen von ihren riesigen Gütern in der Touraine41 und im Anjou42, besaßen in Paris nur noch dieses ehemalige Lusthaus, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts außerhalb der Stadt errichtet worden war; heute war es von den dunklen Häusern der Rue Saint-Lazare eingeschlossen. Die letzten schönen Bäume des Gartens standen dort wie in der Tiefe eines Brunnens, das Moos zerfraß die Stufen der zerbröckelnden, geborstenen Freitreppe. Man hätte meinen können, das Ganze sei ein Stück Natur im Gefängnis, ein ruhiger, trauriger Winkel von stummer Verzweiflung, in den die Sonne nur noch als grünliches Tageslicht hinabdrang, dessen Kälte die Schultern erstarren ließ. Und der erste Mensch, den Frau Caroline in diesem feuchten Kellerfrieden oben auf jener zerfallenen Freitreppe entdeckte, war die Gräfin Beauvilliers, eine große, magere Frau von sechzig Jahren, mit schlohweißem Haar, eine sehr vornehme, ein wenig altmodische Erscheinung. Mit der großen geraden Nase, den dünnen Lippen und dem ungemein langen Hals sah sie wie ein uralter Schwan von trauriger Sanftmut aus. Hinter ihr war fast gleichzeitig ihre Tochter erschienen, Alice de Beauvilliers, fünfundzwanzig Jahre alt, aber so kümmerlich, daß man sie ohne ihren schlechten Teint und ihr eingefallenes Gesicht für ein kleines Mädchen gehalten hätte. Der Mutter war sie wie aus dem Gesicht geschnitten, nur schmächtiger, ohne die aristokratische Vornehmheit, der Hals lang bis zur Häßlichkeit; sie besaß nichts weiter als den kläglichen Reiz eines aussterbenden großen Geschlechts. Die beiden Frauen lebten allein, seitdem der Sohn, Ferdinand de Beauvilliers, nach der von Lamoricière verlorenen Schlacht bei Castelfidardo43 bei den päpstlichen Zuaven44 diente. Wenn es nicht regnete, kamen sie täglich, eine hinter der anderen, aus dem Haus, stiegen die Freitreppe hinab und machten einen Gang um den schmalen Rasen in der Mitte, ohne ein Wort zu wechseln. Es gab nur Efeueinfassungen, Blumen wären nicht gewachsen oder vielleicht zu teuer gewesen. Und dieser langsame Verdauungsspaziergang der beiden blassen Frauen unter den hundertjährigen Bäumen, die so viele Feste gesehen hatten und denen nun die Bürgerhäuser aus der Nachbarschaft die Luft nahmen, war von so schmerzlicher Schwermut, als führten beide die Trauer um die alten toten Dinge spazieren.

      Frau Caroline, deren Teilnahme erwacht war, beobachtete ihre Nachbarinnen mit zärtlicher Sympathie, ohne böse Neugier; und da sie von ihrem Platz aus den Garten überblicken konnte, drang sie allmählich in das Leben der beiden Frauen ein, das diese mit eifersüchtiger Sorge nach der Straße zu verbergen wollten. Immer noch stand ein Pferd im Stall und ein Wagen in der Remise, ein alter Diener, der Kammerdiener, Kutscher und Concierge in einer Person war, versorgte beides; dann war noch eine Köchin da, die auch als Stubenmädchen diente. Doch wenn auch der Wagen, korrekt angespannt, aus dem Hauptportal fuhr und die Damen mit ihm ihre Besorgungen erledigten, wenn auch die Tafel bei den im Winter alle vierzehn Tage stattfindenden Diners, zu denen einige Freunde kamen, einen gewissen Luxus wahrte – mit welch langem Fasten, mit welch knausrigen Einsparungen zu jeder Stunde war dieser trügerische


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