Das Geld. Emile Zola

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Das Geld - Emile Zola


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Er ließ Caroline nach Beirut kommen, wo neue Schüler sie erwarteten, und stürzte sich in ein großes Unternehmen, das von einer französischen Gesellschaft gefördert wurde; es ging um die Trasse einer befahrbaren Straße von Beirut nach Damaskus, den ersten und einzigen Weg, der durch die Schluchten des Libanon führte. Sie blieben dort noch drei Jahre bis zur Fertigstellung der Straße; er besichtigte die Berge, unternahm eine zweimonatige Reise über den Taurus nach Konstantinopel, sie folgte ihm, sobald sie loskommen konnte, und machte sich seine Projekte zu eigen, dieses alte Land wiederzuerwecken, das unter der Asche der toten Kulturen schlummerte. Er hatte eine ganze Mappe gefüllt, die von Ideen und Plänen überquoll, und er verspürte die gebieterische Notwendigkeit, nach Frankreich zurückzukehren, wenn er diesen umfangreichen Unternehmungen Gestalt verleihen, Gesellschaften gründen und Kapital finden wollte. So kehrten sie nach neun Jahren Aufenthalt im Orient zurück. Aus Neugier reisten sie über Ägypten, wo die Arbeiten am Suezkanal sie begeisterten: in vier Jahren war aus dem Sand des Strandes von Port Said eine Stadt gewachsen, ein ganzes Volk war da am Werke, die menschlichen Ameisen hatten sich vervielfacht und veränderten das Antlitz der Erde. Aber in Paris erwartete Hamelin ein dauerndes Pech. Seit fünfzehn Monaten schlug er sich dort mit seinen Projekten herum, ohne mit seinem Glauben daran jemanden überzeugen zu können, denn er war zu bescheiden und nicht sehr redegewandt; und so war er in diesem zweiten Stockwerk des Palais dʼOrviedo gestrandet, in einer kleinen Fünfzimmerwohnung, die er für zwölfhundert Francs mietete, weiter vom Erfolg entfernt als einst, da er die Gebirge und die Ebenen Asiens durchstreift hatte. Ihre Ersparnisse waren rasch erschöpft, und die beiden Geschwister gerieten in große Geldverlegenheit.

      Und genau das erweckte Saccards Interesse, diese zunehmende Traurigkeit von Frau Caroline, deren schöne Heiterkeit sich verdüsterte, weil sie ihren Bruder mutlos werden sah. In ihrem Haushalt war sie ein wenig der Mann. Georges, der ihr äußerlich sehr ähnlich, nur schmächtiger war, konnte in der Arbeit ungewöhnlich ausdauernd sein; aber er vertiefte sich in seine Studien, bei denen man ihn keinesfalls stören durfte. Er hatte sich nie verheiraten wollen, weil er nicht das Bedürfnis dazu verspürte und seine Schwester anbetete – das genügte ihm. Vielleicht hatte er dann und wann eine Geliebte, die man nicht kannte. Und dieser alte Streber von der Ecole polytechnique, der großzügige Ideen hatte und einen so glühenden Eifer für alle seine Unternehmungen, war manchmal von so kindlicher Einfalt, daß man ihn für ein bißchen beschränkt halten konnte. Im engstirnigsten Katholizismus erzogen, hatte er sich seine Kinderreligion bewahrt und befolgte aus voller Überzeugung alle kirchlichen Vorschriften; seine Schwester dagegen hatte durch ihr vieles Lesen, durch die umfassende Bildung, die sie sich an seiner Seite in den langen Stunden erwarb, da er sich in seine technischen Arbeiten vertiefte, ihre geistige Unabhängigkeit zurückgewonnen. Sie beherrschte vier Sprachen, sie hatte die Nationalökonomen und die Philosophen gelesen und sich zeitweilig für die sozialistischen und evolutionistischen Theorien begeistert; dann aber war sie ruhiger geworden. Ihren Reisen, ihrem langen Aufenthalt in fernen Ländern vor allem verdankte sie eine große Toleranz und eine schöne Ausgeglichenheit und Weisheit. Wenn sie auch nicht mehr gläubig war, so hatte sie doch Achtung vor dem Glauben ihres Bruders. Beide hatten sich einmal darüber ausgesprochen und nie wieder davon angefangen. Bei all ihrer Schlichtheit und Gutmütigkeit war sie eine kluge Frau, begabt mit einem außergewöhnlichen Lebensmut und einer fröhlichen Tapferkeit, die den Grausamkeiten des Schicksals widerstand; nur ein einziger Kummer nagte an ihr, so sagte sie: kein Kind zu haben.

      Einmal ergab es sich, daß Saccard Hamelin eine Gefälligkeit erweisen konnte, indem er ihm eine kleine Arbeit für eine Kommanditgesellschaft vermittelte, die für die Begutachtung einer neuen Maschine einen Ingenieur brauchte. Und so gelang es ihm, zu den Geschwistern ein vertrauliches Verhältnis zu gewinnen; fortan ging er häufig auf eine Stunde zu ihnen in den Salon hinauf, ihr einziges großes Zimmer, das sie in einen Arbeitsraum umgewandelt hatten. Dieser Raum wirkte völlig kahl, er war nur mit einem langen Zeichentisch, einem zweiten, mit Papieren beladenen kleineren Tisch und einem halben Dutzend Stühle möbliert. Auf dem Kamin stapelten sich die Bücher. Aber ein improvisierter Wandschmuck heiterte diese Leere auf: eine Reihe von Plänen und eine Folge heller Aquarelle, jedes Blatt mit vier Nägeln an der Wand befestigt. Das waren die Projekte aus Hamelins Mappe, die er so zur Schau stellte, seine in Syrien gemachten Aufzeichnungen, sein ganzes künftiges Vermögen; die Aquarelle stammten von Frau Caroline, Ansichten von dort unten, charakteristische Gestalten, Trachten – alles, was ihr auffiel, wenn sie ihren Bruder begleitete, hatte sie mit einem sehr persönlichen Sinn für Farben, doch ohne jeden künstlerischen Anspruch skizziert. Zwei breite Fenster, die auf den Garten des Palais Beauvilliers hinausgingen, ließen helles Licht auf diese kunterbunt durcheinander aufgehängten Zeichnungen fallen, die ein anderes Leben heraufbeschworen, den Traum einer in Staub zerfallenen antiken Gesellschaft, und die Entwürfe erweckten den Anschein, als wollten sie diese Gesellschaft mit festen, mathematischen Linien wiederaufrichten, sie gleichsam stützen mit dem soliden Gerüst der modernen Wissenschaft. Und wenn sich Saccard mit jenem Aufwand an Betriebsamkeit, der seinen Charme ausmachte, nützlich erwiesen hatte, versenkte er sich hingerissen in die Pläne und Aquarelle und bat unaufhörlich um neue Erklärungen. In seinem Kopf keimte schon ein ganzer großer Plan.

      Eines Morgens traf er Frau Caroline allein an, sie saß vor dem kleinen Tisch, den sie zu ihrem Schreibtisch gemacht hatte. Sie war todunglücklich, ihre Hände ruhten müßig zwischen den Papieren.

      »Was wollen Sie? Das nimmt bestimmt noch ein böses Ende ... Trotzdem verliere ich nicht den Mut. Aber es fehlt uns bald an allem zugleich, und was mir das Herz zerreißt, ist die Kraftlosigkeit, in die das Unglück meinen armen Bruder versetzt, denn er ist nur tapfer, hat nur Kraft bei der Arbeit ... Ich hatte daran gedacht, wieder irgendwo eine Stellung als Erzieherin anzunehmen, um ihm wenigstens zu helfen. Ich habe gesucht und nichts gefunden ... Aber ich kann doch nicht als Aufwartefrau gehen.«

      Nie hatte Saccard sie so fassungslos und niedergeschlagen gesehen.

      »Zum Teufel! Soweit sind Sie doch noch nicht!« rief er.

      Sie schüttelte den Kopf, war voller Bitternis über das Leben, das sie für gewöhnlich so mutig annahm, selbst wenn es sich als böse erwies. Und da Hamelin in diesem Augenblick nach Hause kam und die Nachricht von einem letzten Mißerfolg brachte, flossen ihr langsam dicke Tränen über die Wangen. Sie sprach nicht mehr, die Hände hatte sie, zu Fäusten geballt, auf den Tisch gelegt, und ihre Augen blickten verloren vor sich hin.

      »Wenn man bedenkt«, entfuhr es Hamelin, »daß es da unten Millionen gibt, die auf uns warten, und niemand hilft mir, sie zu gewinnen!«

      Saccard hatte sich vor einem Entwurf aufgepflanzt, der den Aufriß für einen inmitten großer Lagerhäuser gebauten Pavillon darstellte.

      »Was ist denn das?« fragte er.

      »Oh, das habe ich nur zum Spaß gemacht«, erklärte der Ingenieur. »Das ist der Entwurf für ein Wohnhaus da unten in Beirut, für den Direktor der Gesellschaft, von der ich immer träumte, Sie wissen ja, die Allgemeine Gesellschaft der vereinigten Dampfschiffahrtslinien.«

      Er wurde lebhaft, führte weitere Einzelheiten an. Während seines Aufenthalts im Orient hatte er festgestellt, wie mangelhaft das Transportwesen war. Die wenigen Reedereien mit Sitz in Marseille machten sich durch die Konkurrenz tot, kamen nicht auf die ausreichende Zahl von Schiffseinheiten, die mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet sind; daher war es eine seiner ersten Ideen, bevor er überhaupt an seine vielen anderen Unternehmungen dachte, diese Reedereien in einem Kartell zusammenzufassen, sie in einer großen, mit einem Millionenkapital versehenen Gesellschaft zu vereinigen, die das ganze Mittelmeer ausbeuten und beherrschen könnte, indem sie einen Linienverkehr nach allen Häfen Afrikas, Spaniens, Italiens, Griechenlands, Ägyptens, Asiens und bis ins Schwarze Meer hinein einrichtete. Dieser Plan zeugte von einem großen organisatorischen Spürsinn und zugleich von einem hohen staatsbürgerlichen Bewußtsein: damit war der Orient erobert und Frankreich zum Geschenk gemacht, ganz davon zu schweigen, daß auf diese Weise Syrien näher rückte, wo seinem Wirken noch ein weites Feld offenstand.

      »Die Kartelle«, murmelte Saccard, »da scheint heute die Zukunft zu liegen ... Das ist eine so mächtige Form des Zusammenschlusses! Drei oder vier kleine Einzelunternehmen, die sich nur knapp über Wasser halten, gelangen unausweichlich zu neuem Leben und zu neuer Blüte,


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