Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein
Читать онлайн книгу.aus denen die bekannten drei deutschen Hauptstämme seiner Zeit hervorgingen. Also jedenfalls sind die Germanen Nachkommen von Tuisco und Mannus. Von Mannus meint Jakob Grimm: „Kein Name kann deutscher klingen“. Aber was er ideell bedeutet, darüber besteht schon Streit. Der große Mythologe schreibt ihm einen tieferen Sinn zu: als „ein denkendes, seiner bewußtes Wesen“ bezeichnend. „Mannus aber ist der erste Helde, der Gottessohn und aller Menschen Vater“, und er parallelisiert ihn mit dem indischen Manus, der nach einer Version, auf Brahmas Geheiß, alle Geschöpfe, Götter, Asuren und Menschen schaffen sollte und alle Welten, Bewegliches und Unbewegliches. Dann wäre also der germanische Mannus etwas sehr Hohes. Aber wie paßt der Vater Tuisco dazu, der selbst aus der Erde hervorgegangen, also eine Art Erdgeist ist? Der Name ist nicht sicher, es bestehen infolgedessen auch viele Deutungen für den Gott. Die höchste geht auf den Himmel und setzt den Gott, dem Sinn und der Stellung nach, dem Uranos, dem Namen nach (Tivisco, Tuisco) dem Zeus an die Seite. Die Erde spielt dann die Rolle der Gaia, die auch Uranos und Pontos geboren haben soll. Die niedrigste wählt natürlich Lippert. Eine mögliche Lesart ist nämlich auch Tiusco. Grimm stellt sie mit Tivisco zusammen, was eben jene höchste Bedeutung ergibt. Lippert findet etymologisch als Bedeutung „Geist“ angemessener. Und indem Mannus einfach als „Mann“ erklärt wird, ist Tiu sein Schutzgeist, und somit der aller Germanen, und Tiusco bedeutet ein „Geistwesen“, wie Mannisco ein „Mannwesen“, ein „Mensch“. Damit wären wir wieder auf den Ahnen und dessen Seele gekommen.
Tacitus sagt ferner: „Deorum maxime Mercurium colunt.“ Es wäre eine ganz anmutende Hypothese des genannten Forschers, daß dieser Merkur ein Viehschutzgeist ist, da ein Teil der Germanen noch nomadische Viehzucht betrieb, und dieser Deutung von seiten der griechischen und römischen älteren Mythologie keine Schwierigkeiten entgegenstehen. Aber Cäsar erzählt auch von den Kelten, daß ihr höchster Gott Merkur gewesen sei, und die Kelten waren keine nomadischen Viehzüchter. Herodot teilt mit, daß die Thrakerkönige am meisten Hermes verehren und von ihm abzustammen behaupten. Auch hier wird man Viehzucht als Motiv nicht annehmen können. Indessen gibt vielleicht Cäsar selbst die Erklärung: „Hunc omnium inventorem artium ferunt, hunc viarum atque itinerum ducem, hunc ad quaestus pecuniae mercaturasque habere vim maximam arbitrantur“. Und da Tacitus zur Einführung Merkurs bei den Germanen genau derselben Formel sich bedient wie Cäsar zu der bei den Kelten (nur deorum statt deum), so wird er wohl auch an Cäsars Erklärung gedacht haben. Bekanntlich wird seit Paulus Diaconus Wotan für Merkur genommen, und auf diesen paßt Cäsars Erklärung einigermaßen, die sich auf einen Erfindungs-, Wege- und Handelsgott bezieht. Tacitus mag auch noch gewußt haben, daß Wotan auch Tote (erschlagene Helden) in sein Reich geleitet, also als Psychopompos wirkt, und weiter, daß er auch Sturmgott ist, wie Hermes bei den Griechen ursprünglich einen Windgott bedeutete. Und daß Wotan der größte Gott war, würde auch stimmen; dem Merkur namentlich sollen Menschenopfer gebracht worden sein, wie Tacitus erzählt. Gleichwohl braucht darum Lipperts Ansicht noch nicht unrichtig zu sein, daß es sich um einen Ahnengott handelt, denn alles was aufgezählt ist, als in das Bereich dieses Merkur fallend, übertrifft nicht, was auch ein Naturmensch einem höchsten Fetisch zuschreibt. Ja, wenn wir sehen, wie Jakob Grimm mit so vielen Beispielen belegt hat, daß die Deutschen noch im Mittelalter die Neigung hatten, den „Wunsch“, in der umfassendsten Bedeutung, zu personifizieren, und daß Wotan auch Wunschgott ist, so wird man noch mehr auf die Seite Lipperts zu treten geneigt sein. Es kommt also darauf an, ob die Germanen dem Wotan-Merkur noch andere Eigenschaften zugeschrieben haben, die in das Hohe gehen und aus dem einfachen Seelen- und Ahnenglauben nicht mehr erklärt werden können.
Einmal bemerkt nun Tacitus, die Germanen „schlössen weder die Götter zwischen Wände ein, noch stellten sie sie in menschlicher Gestalt dar, wegen der Größe der Himmlischen; Lichtungen und Haine heiligen sie ihnen. Und mit der Götter Namen nennen sie jenes Geheime, das sie nur mit Ehrfurcht (oder Scheu) sehen“. Ist das gesperrt Gedruckte aus dem Sinne der Germanen gesprochen, so muß der Streit als entschieden gelten. Allein es ist schon von vielen vermutet worden, daß Tacitus, was er hier von den Göttern sagt, aus seinen Ansichten geholt hat. Was wir sonst von den germanischen Götteranschauungen kennen, spricht nicht immer für so hohe Begriffe. Auch wissen wir, daß mindestens später die Germanen sehr wohl Bildnisse ihrer Gottheiten von Holz, Stein oder Metall besaßen; dafür sind sehr viele Zeugnisse vorhanden. Interessant ist, was Tacitus selbst von der Göttin Nerthus, die er als Mutter Erde bezeichnet, erzählt. Ihr Kultort (er wird in der Nähe von Rügen gesucht) ist ein jungfräulicher Hain, den niemand betreten darf außer dem Priester. Dort sei ein Wagen ganz mit einem Gewande (veste!) bedeckt. Der Priester glaubt, daß die Göttin sich darin befände. An ihrem Feste wird der Wagen von Kühen in Prozession herumgeführt, dann herrscht Freude und Friede ringsum, wohin die Göttin gelangt. Zuletzt führt der Priester die „vom Verkehr mit den Sterblichen gesättigte“ Göttin nach ihrem Tempel zurück. Dort werden alsbald „der Wagen, die Gewänder (vestes!) und, wenn du es glauben willst, die Gottheit selbst in einem geheimen See abgewaschen. Diener bedienen, die sofort der See verschlingt“. Hiernach muß der Wagen ein Kultobjekt enthalten, in dem die Göttin selbst weilt, da sie mit den Sterblichen verkehrt (konversiert, sagt sogar Tacitus) und davon ermüdet. Dieses Objekt erklärt Lippert für einen Fetisch. Daß hier ein weibliches Wesen in Betracht kommt, würde zwanglos aus der auch den Germanen früher bekannten Mutterfolge sich ergeben. Außerdem nahmen die Germanen in die Schlacht effigies et signa mit. Das sind nach Jakob Grimm figurierte Gegenstände, nach Lippert Seelenfetische und Gegenstände, die den Fetischen gehören. Von den von Tacitus ferner noch genannten Gottheiten finden sich Mars und Herkules überall, wo Krieg und Heldengeist herrscht, und Kastor und Pollux vertreten, vielleicht irgendein bemerkenswertes Brüderpaar. Doch weiß man mit diesem letzteren allerdings nichts anzufangen. Auch die Isis wird als von einem Teil der Sueven verehrt angeführt. Der Römer meint, ihr Dienst sei importiert, weil wie bei Isisfesten ein Schiff herumgeführt wird. Aber Jakob Grimm hat schon nachgewiesen, daß Umzüge mit Schiffen in Deutschland noch im Mittelalter geschahen, und er vermutet in Isis eine deutsche Göttin und in dem Schiff etwas Ähnliches wie im Wagen der Nerthus. Lippert weist noch auf das Totenschiff hin (S. 75). Gleichwohl kann man sich der Ansicht Jakob Grimms nicht verschließen, daß, da Tacitus so oft und bedeutend von Gott und Göttern der Germanen spricht, teils allgemeinen teils vaterländischen und häuslichen, dieses, zusammengehalten mit sonstigen Überlieferungen und Überlebseln, bloß einen Naturmenschenglauben nicht erlaubt. „Wie läßt sich,“ sagt er, „alles andere, was wir von der Sprache, der Freiheit, den Sitten und Tugenden der Germanen wissen, hinzugenommen, der Gedanke festhalten, sie hätten, in dumpfen Fetischismus versunken, sich vor Klötzen und Pfützen niedergeworfen und ihnen rohe Anbetung erwiesen?“ So niedrig meint es Lippert ja auch nicht, der Seelen- und Ahnenglaube kann sehr wohl mit einer geläuterten Ansicht von Welt und Leben bestehen. Und der Götterdienst der Germanen und die Totenbräuche bei ihnen waren keineswegs sehr harmlos; und letztere sind durchaus, wofür Jakob Grimm selbst viele Beispiele beibringt, auf naturmenschliche Anschauungen von der Seele begründet. Also werden wir wenigstens einen Einschlag von Seelen- und Ahnenglauben, und auch von Fetischismus (Lippert führt mehrere Beispiele an von Bäumen, denen selbst Opfer dargebracht wurden), in der Religion der Germanen nicht von der Hand weisen können. Wir wissen ja, daß z. B. die Franken, selbst nach Annahme des Christentums, noch Menschen beim Übergang über den Po geopfert und in diesen Fluß gestürzt haben, und ähnliche aus dem Seelen- und Fetischglauben fließende Greuel werden noch manche erzählt.
Von dem großen nordisch-germanischen Göttersaal ist nicht gesprochen. Daß er zum Teil auch den eigentlichen Germanen bekannt gewesen ist, darf nicht mehr bezweifelt werden, obwohl die Erzählungen der Edda sehr deutliche Spuren fortgeschrittenerer Kultur und Weltkenntnis, sowie des Einflusses des Christentums an sich tragen. Die nordischen Mythen verstärken den Eindruck, daß die Gesamtgermanen zwar eine höhere Naturreligion gehabt haben, etwa im Sinne der Griechen und Ägypter, daß aber auch viel Naturmenschliches vorhanden war. Von den Menschenopfern bei den Skandinaviern erzählt Adam von Bremen (elftes Jahrhundert) nach den Mitteilungen eines Swen Ulfsson, der sich zwölf Jahre an dem Hofe des Schwedenkönigs aufgehalten hat. Im Hain am Tempel zu Upsala, der Odin, Thor und Freyr geweiht war, hingen mitunter 70 und mehr geopferte Menschen neben Hunden und anderen Tieren. Von diesem Hain sagt der Genannte: „is enim locus tam est sacra gentilibus, ut singulae arbores ejus ex