Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

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Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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Gottheitsanschauung so sehr widerstreben. Und wenn ein Themistokles oder gar ein Cäsar solche Opfer vollziehen, so kann man sich das zwar dadurch erklären, daß sie dem Drängen des Volkes (oder Heeres) nachgegeben haben. Aber auf dem Volke bleibt es doch haften. In der unheimlichen ersten Szene der Hekabe des Euripides sagt der Geist des Polydoros:

      Denn über seinem Grab erschien der Thetis Sohn,

      Der Fürst Achilleus hielt Achajas Heer zurück,

      Das nach der Heimat schon die Meeresruder schwang;

      Und meine Schwester fordert er, Polyxena,

      Als teures Grabesopfer sich und Ehrenlohn.

      Und dieses Opfer ward ihm ja, Achills Seele erhielt die Braut. Gleichwohl überhebt uns einer weiteren Untersuchung die Tatsache, daß, so menschlich oft die Götter an Leben, Betragen, Fühlen und Leidenschaften sich auch geben, sie doch wirkliche Götter darstellen, keineswegs potenzierte Menschen, wie man oft behauptet hat. Namentlich aber nicht Ahnen, wogegen schon die allgemeine Verehrung, die sie genießen, spricht. Wenn auch gefabelt wurde, Zeus sei König in Kreta gewesen, sei dort gestorben und liege dort begraben – nichts in dem Zeus, wie wir ihn kennen, erinnert daran. Apollon und Artemis sind Götter trotz ihrer Geburt von einem sterblichen Weibe. Das hängt mit der Entstehung der Mythen und Sagen zusammen, die nicht immer von religiösen Anschauungen veranlaßt ist. Ein Teil wird aus Vorgängen zwischen Menschen, namentlich in Fürstenhäusern, stammen, die zuerst bewußt und später, nachdem die Personen vergessen sind, unbewußt, auf Gottheiten übertragen wurden. Einen anderen Teil verdankt man der dichterischen Erfindung des Volkes und Einzelner. Noch ein anderer ist aus Personifizierung von Naturerscheinungen hervorgegangen. Sodann spielt eine große Rolle die Deutung der Gottheitennamen, die Volksetymologie, indem aus richtiger oder unrichtiger Übersetzung und Umschreibung des Namens Tätigkeiten und Wirkungen abgeleitet werden, an die sich naturgemäß Erzählungen anschließen. Weiter werden manche Sagen mehr oder minder geistreiche Redeblüten und erkünstelte Allegorie sein. Zuletzt dürften recht viele als Erklärung von Gebräuchen im Leben und im Kult, deren Ursprung und Bedeutung dem Gedächtnis entschwunden sind, und andere zur Begründung von Ansprüchen auf Menschen und Besitz erfunden sein. Wir haben in den griechischen Sagen und Mythen für alles Beispiele und ebenso in den Sagen und Mythen anderer Völker. Bei so großer Vielartigkeit des Entstehungsgrundes kann man nicht erwarten, ein einheitliches Bild zu bekommen. Und so enthalten die griechischen Sagen Schönes und Anmutendes neben Häßlichem und Abstoßendem, Hohes neben Niedrigem und Tieferdachtes neben Törichtem und Aberwitzigem. Bei Vielem aber tut man dem Volk mehr Ehre an, wenn man es aus naturmenschlichen Anschauungen ableitet als aus Allegorien oder Naturerklärungen, und wenn man davon absieht, von uns nicht mehr zu verstehende Weisheit zu behaupten, wie es früher Mode gewesen ist und auch gegenwärtig mitunter noch beliebt wird.

      Bei den Römern liegt der Seelenglaube noch offener als bei den Griechen. Die Inferi, in besonderer Bezeichnung Manes oder Lemures, sind ganz naturmenschlich gedachte Seelen Verstorbener, die unter der Erde weilen. Als Larven fügen sie dem Menschen Böses zu, als Lares familiares sorgen sie für die betreffende Familie. Bekanntlich schrieben die Römer allem, also auch Menschen, jedem einen Genius zu, der im Laufe der Zeit mehr und mehr Funktionen bekam und zuletzt alles vorstellte, wodurch der Mensch zu seinem Tun und Lassen im Leben bewegt wurde. Es war etwas Göttliches in diesen genii, und sie wurden demgemäß auch im Familienkreise oder, wenn es sich um die genii der Götter, der Machthaber oder die des Staates, der Stadt, des Ortes usf. handelte, öffentlich verehrt, und bei ihnen wurde auch geschworen. Ob man die Seelen der Menschen mit den genii zu identifizieren hat, weiß ich nicht; von manchen Forschern geschieht es. Jedenfalls haben wir es mit einem ausgedehnten Glauben und Kult zu tun, der, ob er sich auf die genii, inferi, manes, larvae, lares und welche Namen noch in Gebrauch sein mochten, bezog, sich dem allgemeinen Seelenglauben und Seelenkult eng anschließt. Die Seelen mußten im Tode versöhnt werden, was durch ganz bestimmte Zeremonien und Gaben geschah; sie hatten ein Anrecht auf fortgesetzte Verehrung – Cicero spricht von manium jura, den Rechten der Manen, – seitens der Angehörigen. Geschah das nicht, so irrten sie ruhelos auf der Erde umher und sannen und taten Böses. An drei Tagen im Jahre: 24. August, 5. Oktober und 8. November öffnete man den Seelen absichtlich die Pforte der Unterwelt, den mundus, das war ein in der Mitte der Ortschaft befindliches rundes Loch, mit einer Kuppel überwölbt, die eine mit einem Steine bedeckte Öffnung hatte. In diesen mundus tat man auch die allgemeinen Gaben für die Seelen, in ihn wurden auch Menschen gestürzt, „die zu Schutzgeistern der Stadt werden sollten.“ Da man einmal vergessen hatte, den Toten ihre Spenden zu geben, verließen sie ihre Gräber und man hörte sie durch die Straßen der Stadt und der Umgebung schwirren, bis man ihnen die Gaben an die Gräber brachte, erzählt Ovid. Und so konnten Zauberer auch die Seelen in die Oberwelt beschwören, wovon ja auch die Griechen soviel wußten.

      Gleichfalls an Naturmenschliches erinnert die Verehrung des Feuers auf dem häuslichen Herde, das wie lebend behandelt wurde und Opfergaben empfing. Überhaupt hatte der Römer einen häuslichen Kultus – seinen Penaten, das sind eben die Seelen und das häusliche Feuer, gewidmet – der den öffentlichen an Bedeutung weit überragte und einen Kultus des Naturmenschen darstellte. Und gleiches gilt wohl auch von den Griechen. Wie rührend klingt das von der Sklavin mitgeteilte Gebet der zum Sterben bereiten Alkestis vor dem Herdfeuer als Göttin, um Schutz für die zu hinterlassenden Waisen:

      Laß nicht, wie ich nun, ihre Mutter, enden muß,

      Sie vor der Zeit hinsterben, sondern hochbeglückt

      Im väterlichen Lande laß froh ihr Leben fliehn.

      Die römische Religion ist ungemein zusammengesetzt: himmlische Götter, Feld-, Berg-, Wald-, Baum- und Quellgötter, Götter der Unterwelt, Götter fast für jedes Ereignis und für jede Handlung im Leben des Einzelnen und der Gesamtheit. Dazu die unzähligen Seelen- und Ahnengötter, denn die manes sind dii und können sogar den Himmel erreichen, wie die von Romulus und der Kaiser. Kaum ein Volk – vielleicht mit Ausnahme der Indier und Japaner – hat einen so gefüllten und so bunten Göttersaal. Und aus allem spricht eine Art Kindlichkeit und Natürlichkeit, wie aus einem veredelten Naturmenschenglauben. Wäre nicht so manches Kindische dabei und so manches Rohe, so mutete sie uns vielleicht mehr an als die glanzvolle griechische Mythe.

      Wie vorsichtig man bei den Ägyptern, wegen ihrer Unart, ihren Worten allerlei mystische Bedeutungen zu geben, mit Behauptungen sein muß, hat Brugsch in seiner „Religion und Mythologie der alten Ägypter“ erwiesen. Man kann die höchsten Ideen herauslesen, wo gar keine vorhanden sind, weil ein hohes Wort steht, das gleichwohl in gewöhnlichster Bedeutung benutzt ist. Und auch das Umgekehrte wird der Fall sein. Ein zweiter Umstand, der die Beurteilung der ägyptischen Anschauungen so sehr erschwert, ist die verblüffende Vorliebe für tierische Merkmale. Götter werden mit Frosch-, Schlangen-, Widder-, Schakal-, Katzen-, Sperber-, Falken- usf. -kopf, oder ganz tierisch als Käfer, Affen, Krokodile usw. dargestellt, mitunter sogar in Kombination mehrerer Tiere, wie Râ einmal in derselben Gestalt als Mensch, Frosch und Affe. Und das geschieht nicht bloß in Bildern, sondern auch in Texten: die Seele des Osiris ist der Bock von Mendes, die Seelen der Götter sind Krokodile, heißt es in einer Inschrift des Königs Seti I. Der Erdgott Qeb sagt von sich: ich pfeife wie der Falke und ich gackere wie die Gans. Vieles, vielleicht das meiste, wird symbolisch aufzufassen sein aus den Eigenschaften der Tiere oder auch aus ihrem Verhalten gegen die Naturerscheinungen. Manches muß aber auf theromorphe Anschauungen, auf Totemismus beruhen, da ja die Ägypter tatsächlich gewissen Tieren, nicht bloß dem bekannten Apis, Verehrung dargebracht und sie nach dem Tode mit Feierlichkeit begraben haben. Herodot, der sehr eingehend davon erzählt, weiß warum, aber er sagt es nicht aus Furcht vor den göttlichen Dingen. Einmal, wo er sich gehen läßt, teilt er ein höchst albernes Märchen über den Widderkopf des Amun (Zeus) mit: Zeus hätte ihn vorgesteckt, um sich nicht Herakles, der ihn durchaus sehen wollte, in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Wir können kaum etwas anderes annehmen als naturmenschliche Anschauung. Nach Brugsch aber müssen die Ägypter einen sehr hohen Gottesbegriff gehabt haben. Die Texte, die er anführt, sind entscheidend. Wir kommen später auf sie zurück. Daneben besaßen sie eine kosmogonische, schon Herodot bekannte, männlich-weibliche Vierheit, von der ich schon in meinem mehrmals genannten Buche gesprochen habe. Sodann eine Hauptgottheit und eine Neunheit von


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