Sieger, Besiegter, Sohn . Морган Райс

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Sieger, Besiegter, Sohn  - Морган Райс


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anstatt Haylon unter die Arme zu greifen. Sie fragte sich, was sie so verändert hatte.

      Doch die Antwort darauf war nicht schwer: Thanos.

      Jeva musste an ihn denken, während sie in Richtung ihrer Heimat segelte. Sie beobachtete die Seevögel, die in Scharen und auf die nächste Beute wartend über ihr kreisten. Bevor sie ihn getroffen hatte, war sie... nun, vielleicht nicht so wie alle gewesen, denn kaum jemand verspürte den Drang, den ganzen Weg nach Port Leeward und noch weiter zu spazieren. Dennoch hatte sie sich als eine von ihnen begriffen, war eine von ihnen gewesen. Sie hatte mit Sicherheit keine Angst empfunden.

      Sie hatte nicht unbedingt Angst um sich selbst, auch wenn sie sehr genau wusste, dass ihr eigenes Leben hier auf dem Spiel stand. Sie machte sich größere Sorgen um diejenigen, die sie auf Haylon zurückgelassen hatte, wenn sie es nicht zurückschaffte; zu Thanos.

      Das war ein weiterer Irrglaube. Die Lebenden hatten keinerlei Bedeutung, außer sie erfüllten die Wünsche der Toten. Wenn eine ganze Insel unter einer Besatzungsmacht ausgelöscht wurde, dann war dies eine ruhmvolle Ehre und nicht als ein bevorstehendes Desaster anzusehen. Das Leben war dazu da, die Wünsche der Toten zu erfüllen und selbst ein Ende zu finden, das in angemessener Weise ruhmvoll war. Die Sprecher der Toten hatten das sehr deutlich gemacht. Jeva hatte sogar selbst das Flüstern der Toten gehört, damals als der Rauch aus den Feuerstätten gequollen war.

      Sie segelte weiter, drängte diese Gedanken beiseite und spürte, wie die Wellen an dem Ruderbock rissen, mit dem sie das kleine Boot auf Heimatkurs hielt. Jetzt hörte sie andere Stimmen. Stimmen, die um Mitgefühl baten, darum Haylon zu retten und Thanos zu helfen.

      Sie hatte gesehen, wie er sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um selbstlos anderen zu helfen. Als sie selbst wie eine Galionsfigur auf einem Felldustschiff festgebunden darauf gewartet hatte, ausgepeitscht zu werden, war er gekommen, um sie zu retten. Als sie Seite an Seite gekämpft hatten, war sein Schild auf eine Weise, die ihr in ihrem Volk noch nie untergekommen war, auch das ihre gewesen.

      Sie hatte in Thanos etwas gesehen, das sie bewundern konnte. Vielleicht mehr als nur bewundern. Sie hatte in ihm jemanden gesehen, der in dieser Welt sein Bestes gab und nicht nur um eines ruhmvollen Todes willen. Die neuen Stimmen, die Jeva vernahm, sagten ihr, dass auch sie so Leben sollte und dass Haylon zu helfen, Teil davon sein würde.

      Das Problem war, dass Jeva wusste, dass diese Stimmen aus ihr selbst kamen. Sie hätte nicht so sehr auf sie hören sollen. Ihr Volk hätte das mit Sicherheit nicht getan.

      „Das, was von ihm übrig ist“, sagte Jeva und der Wind trug ihre Worte davon.

      Das Dorf ihres Stammes gab es nicht mehr. Jetzt würde sie zu einem anderen Versammlungsort fahren, um einen anderen Teil ihres Volkes um ihre Leben zu bitten. Jeva hob den Blick und beobachtete, wie der Wind das kleine Segel des Boots aufblähte, dann blickte sie auf das Spiel des Schaums auf dem Meereswasser; sie versuchte sich abzulenken und nicht an das zu denken, was es sie kosten würde, um das zu erreichen, was sie erreichen wollte. Dennoch tauchten die Worte in ihrem Kopf auf als wären sie unausweichlich wie das Ende des Lebens.

      Sie würde behaupten müssen, im Namen der Toten zu sprechen.

      Es hatte der Worte der Toten bedurft, um sie nach Delos zu holen, auch wenn Jeva und Thanos nicht behauptet hatten, in ihrem Namen zu sprechen. Doch Jeva durfte es in diesem Fall nicht den Sprechern überlassen. Die Chance, dass sie nein sagen würden, war zu groß und dann, was würde dann geschehen?

      Ihr Freund würde sterben. Das durfte sie nicht zulassen. Auch wenn es bedeutete, etwas Undenkbares zu tun.

      Jeva steuerte ihr Boot an Felsen und an den an ihnen zerschellten Wracks vorbei gen Ufer. Das war nicht der Strand in der Nähe ihrer alten Heimat, sondern ein anderer großer Versammlungsort weiter die Küste hinauf. Sie hatten sie Schiffswracks sorgfältig geplündert. Jeva grinste. Das machte sie ein klein wenig stolz.

      Boote kamen über das Wasser auf sie zu. Die meisten waren einfache Gefährte, Kanoes mit Auslegern, die gebaut worden waren, um diejenigen Schiffe abzufangen, die augenscheinlich nicht zur Flotte des Knochenvolks gehörten. Wenn Jeva nicht offensichtlich eine von ihnen gewesen wäre, dann hätte sie um ihr Leben bangen müssen. So scharrten sie sich um sie und lachten und scherzten auf eine Weise, die sie nicht an den Tag gelegt hätten, wenn sie eine Fremde gewesen wäre.

      „Ein schönes Boot, Schwester. Wie viele Männer musstest du dafür töten?“

      „Töten?“ fragte ein anderer. „Bei ihrem Anblick sind sie wahrscheinlich aus Angst freiwillig abgetreten!“

      „So hässlich wie du bist, würden sie auch sofort abtreten“, schoss Jeva zurück und der Mann stimmte in ihr Lachen mit ein. So wurden die Dinge hier nun einmal getan.

      Wie die Dinge getan wurden, war äußerst wichtig. Außenseitern mochte ihr Volk seltsam vorkommen, doch hatten sie ihre eigenen Regeln, ihren eigenen Verhaltenskodex. Jetzt war Jeva auf dem Weg zu ihnen, und wenn sie gleich behaupten würde, im Namen der Toten zu sprechen, dann würde sie eine der fundamentalsten dieser Regeln brechen. Sie riskierte damit aus der Gemeinschaft der Toten ausgeschlossen zu werden, getötet zu werden, ohne dass ihre Asche in die Feuerstätte gekippt wurde, um so aufgenommen zu werden.

      Sie steuerte ihr Boot ans Ufer, sprang heraus und zog es an den Strand. Dort warteten weitere Mitglieder ihres Volks. Ein Mädchen rannte mit einer Urne in der Hand auf sie zu und bot ihr eine Prise der Asche des Dorfes an. Jeva nahm davon und probierte. Symbolisch wurde sie so in die Dorfgemeinschaft, in die Gemeinschaft ihrer Ahnen aufgenommen.

      „Willkommen Priesterin“, sagte einer der Männer am Strand. Er war ein alter Mann mit papierdünner Haut und er begegnete Jeva wegen ihrer Male, die davon zeugten, dass sie den Ritus vollzogen hatte, mit Ehrerbietung. „Was führt eine Sprecherin der Toten an unsere Ufer?“

      Jeva stand da und dachte nach. Es schien so leicht, zu behaupten, dass sie im Namen jener sprach, die nicht mehr waren. Sie hatte ihren Teil der Visionen gesehen; als sie noch ein Mädchen gewesen war, hatte es jene gegeben, die ihr eine große Zukunft als Sprecherin der Toten vorausgesagt hatten. Einer der älteren Sprecher hatte verkündet, dass sie Worte sagen würde, die ihr gesamtes Volk bewegen würde.

      Wenn sie behauptete, dass die Toten sie hierher gerufen hatten, um ihnen mitzuteilen, auf Haylon zu kämpfen, dann würden sie es ohne zu zögern glauben. Sie würden sich ihrer geliehenen Autorität unterordnen, wo sie sich doch sonst so selten unterordneten.

      Wenn sie es tat, dann würde sie Haylon vielleicht tatsächlich retten können. Vielleicht würden sie so eine Chance haben, den Angriff der Felldustflotte abzuwehren. Vielleicht würden sie den Verteidigern der Insel zumindest etwas Zeit verschaffen. Vorausgesetzt sie log.

      Doch das konnte Jeva nicht. Es ging dabei nicht nur um die eigentliche Lüge, auch wenn sie diese als überaus furchtbar empfand. Es war auch nicht die Tatsache, dass sie gegen all das verstieß, was ihrem Volk in dieser Welt etwas bedeutete. Nein, es war die Tatsache, dass Thanos nicht gewollt hätte, dass sie so weit ging. Er hätte nicht gewollt, dass andere Menschen in ihren Tod gelockt oder dazu gezwungen wurden, sich Felldust entgegenzustellen, ohne über die wahren Beweggründe Bescheid zu wissen.

      „Priesterin?“ fragte der alte Mann. „Bist du gekommen, um im Namen der Toten zu sprechen?“

      Was hätte er sonst getan? Jeva kannte bereits die Antwort auf diese Frage, denn sie hatte gesehen, was er getan hatte als er das letzte Mal im Land ihres Volkes gewesen war. Und all das, was er seitdem getan hatte.

      „Nein“, sagte sie. „Ich bin nicht gekommen, um im Namen der Toten zu sprechen. Ich bin Jeva, und heute will ich im Namen der Lebenden sprechen.“

      KAPITEL VIER

      Irrien lief an den Leichen gefallener Krieger vorbei. Er blickte über das Blutbad, das seine Armeen angerichtet hatten, ohne die Zufriedenheit zu spüren, die er für gewöhnlich dabei empfand. Um ihn lagen die Männer des Nordens tot oder im Sterben, besiegt


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