Die Zauberfabrik . Морган Райс
Читать онлайн книгу.ZWEI
Oliver erwachte voller Unruhe. Sein Körper war steif von der Nacht auf dem kalten, harten Fußboden. Die Decke war nicht annähernd dick genug, dass sie ihn warmgehalten hätte und jetzt saß ihm die Kälte tief in den Knochen. Er war überrascht, dass er überhaupt geschlafen hatte angesichts des kommenden Schultages.
Es war still im Haus. Die anderen schliefen noch. Der matte Sonnenaufgang, der sein Licht durch die Scheibe warf, hatte Oliver geweckt. Er stand auf und schaute nach draußen. Der Sturm hatte die ganze Straße verwüstet; Gartenzäune waren eingerissen, Briefkästen umgeworfen, Müll auf der Straße verteilt. Oliver sah zu dem dürren, schiefen Baum, neben dem er in der Nacht zuvor das freundliche Pärchen gesehen hatte. In ihm hatte sich die Hoffnung festgesetzt, dass er vielleicht gar nicht zu den Blues gehörte, sondern irgendwo auf dieser Welt seine wahren Eltern herumliefen.
Der Baum stand an derselben Stelle, auch wenn er im fahlen Tageslicht noch mickriger wirkte. Von dem Pärchen gab es jedoch keine Spur.
Oliver schüttelte den Kopf. Er musste sie sich wirklich eingebildet haben. Jeder, der einen Bruder wie Chris hatte, wünschte sich vermutlich eine andere Familie.
Da er noch etwas Zeit für sich hatte, bevor die anderen wach wurden, zog er seinen Koffer zu sich. Er öffnete ihn und betrachtete all die kleinen Zahnräder, Drähte, Hebel und Knöpfe, die er für seine Erfindungen gesammelt hatte. Als sein Blick auf die Steinschleuder fiel, lächelte er zufrieden. Noch immer konnte er kaum glauben, dass ihr erster Einsatz ein voller Erfolg gewesen war. Dabei war es nicht einmal Olivers wichtigste Erfindung. Bei Weitem nicht. Seine größte Erfindung war ein bisschen komplizierter und viel bedeutsamer – Oliver arbeitete an etwas, das ihn unsichtbar machte.
Theoretisch war es möglich. Er hatte viel darüber gelesen. Es bedurfte nur zwei wichtiger Komponenten um ein Objekt unsichtbar zu machen. Erstens musste das Licht so um das Objekt herum gebrochen werden, dass es keinen Schatten mehr warf – ähnlich wie bei einem Pool, in dem der Schatten des Schwimmers am Beckenboden merkwürdig gedrungen wirkte. Und zweitens musste man die Lichtreflektion des Objekts eliminieren.
Auf dem Papier erschien das Problem gar nicht unlösbar, aber Oliver war sich bewusst, dass es in der dreidimensionalen Wirklichkeit nicht so einfach war, sonst hätte ja bereits jemand anderes eine Lösung gefunden. Doch das würde ihn nicht davon abhalten, es wenigstens zu versuchen. Wenn er seinem jämmerlichen Leben entkommen wollte, brauchte er diese Erfindung, so lange es auch dauern mochte.
Er griff in seinen Koffer und beförderte eine ganze Sammlung von Materialien heraus, die negativ lichtbrechende Eigenschaften besaßen. Leider hatte er das richtige Material noch nicht gefunden. Dann holte er die kleinen Spiralen aus dünnem Draht, die er zur Erzeugung elektromagnetischer Wellen brauchte, um das Licht auf unnatürliche Weise zu brechen. Leider waren keine dabei, die dünn genug waren. Die Spiralen mussten kleiner als vierzig Nanometer sein, damit es funktionierte. Und das war kleiner, als das menschliche Auge erfassen konnte. Doch Oliver war sich ganz sicher, dass er eines Tages jemanden treffen würde, der ihm helfen würde, die richtigen Materialien zu finden und seine Erfindung herzustellen.
In diesem Moment erschallte der Wecker von Olivers Eltern. Schnell packte er seine Einzelteile ein, bevor Chris aufwachen und zu ihm herunterpoltern würde. Wenn Chris je von seiner Arbeit Wind bekäme, würde er ganz sicher alles zerstören.
Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass Chris sich bald neue Quälereien einfallen lassen würde. Daher beeilte sich Oliver, etwas zu essen in den Bauch zu bekommen.
Er ging an dem kaputten Tisch vorbei in die Küche. Die meisten Regale waren leer. Seine Familie hatte seit dem Umzug noch nicht die Gelegenheit gehabt, frische Lebensmittel einzukaufen. Aber Oliver fand eine Schachtel Frühstücksflocken, die den Umzug überlebt hatte, und eine angebrochene Flasche Milch. Schnell bereitete er sich eine Schüssel zu und schlang sie hinein. Gerade rechtzeitig. Nur wenige Augenblicke später kamen seine Eltern in die Küche.
„Kaffee?“, fragte seine Mutter. Ihre Haare waren durcheinander und ihre Augen sahen müde aus.
Dad nickte nur. Seufzend sah er den kaputten Esstisch an. Dann holte er eine Rolle Klebeband und machte sich daran, das gebrochene Bein wieder zusammenzukleben.
„Dieses Bett bringt mich um“, stöhnte er und rieb sich den Rücken.
Oliver ärgerte sich. Wenigstens hatte er ein Bett! Er selbst musste auf dem Boden in einer kalten Ecke schlafen!
„Ich weiß nicht, wie ich den Tag im Callcenter überstehen soll“, jammerte Olivers Mutter, die mit zwei Tassen Kaffee zum Tisch kam. Vorsichtig stellte sie sie auf dem wackligen Tisch ab.
„Hast du einen neuen Job, Mom?“, fragte Oliver.
Für seine Eltern war es fast unmöglich, Vollzeit zu arbeiten, da sie ständig umziehen mussten. Und wenn sie gar keinen Job hatten, war es noch schwieriger für sie, den Alltag zu meistern. Wenn Mom eine Arbeit hatte, bedeutete das, dass sie etwas mehr Essen bekamen, bessere Kleidung und sogar ein bisschen Taschengeld. Dann konnte Oliver neue Teile für seine Erfindungen kaufen.
„Ja“, sagte sie lächelnd. „Wir haben beide neue Jobs gefunden. Aber wir haben lange Tage vor uns. Heute werden wir eingearbeitet, aber ab morgen müssen wir in der Spätschicht arbeiten. Das heißt, dass wir an den Nachmittagen nicht zu Hause sein können. Aber keine Sorge, Chris wird sich um dich kümmern.“
Olivers Magen war wie zugeschnürt. Lieber wäre er alleine zu Hause als mit Chris.
Wie auf sein Stichwort polterte Chris in die Küche. Er war an diesem Morgen der einzige Blue, der frisch und ausgeschlafen aussah. Er streckte sich und gähnte theatralisch. Dabei rutschte sein T-Shirt so hoch, dass sein blassrosa Bauchnabel zu sehen war.
„Guten Morgen, wunderbare Familie“, sagte er mit einem breiten Grinsen. Dann legte er seinen Arm um Olivers Kopf und zog ihn fest an sich. Was wie brüderliche Zuwendung aussah, war Olivers erste schmerzhafte Erfahrung des Tages. „Wie geht es dir, du Wurm? Freust du dich schon auf die Schule?“
Oliver bekam kaum noch Luft, so fest hatte Chris ihn im Schwitzkasten. Wie immer ignorierten seine Eltern die Schikane.
„Kann’s kaum… erwarten“, keuchte Oliver.
Dann ließ sein Bruder los und setzte sich.
Mom brachte einen Stapel Toast mit Butter und Stellte ihn mitten auf den Tisch. Dad nahm sich eine Scheibe und Chris die anderen. Damit war für Oliver nichts mehr übrig.
„Hey!“, rief Oliver. „Habt ihr das gesehen?“
Mom warf einen Blick auf den leeren Teller und seufzte. Dann sah sie Dad an. Offensichtlich erwartete sie, dass er das Problem löste, aber der zuckte nur mit den Schultern.
Oliver ballte die Fäuste. Es war so ungerecht! Wenn er das nicht schon geahnt hätte, wäre er dank seines Bruders wieder leer ausgegangen. Aber noch wütender machte ihn, dass seine Eltern sich nie für ihn einsetzten. Nein, sie schienen nicht einmal zu bemerken, wie oft er hungern musste.
„Lauft ihr zusammen zur Schule?“, fragte Mom, die damit das Thema beendete.
„Geht nicht“, sagte Chris mit vollem Mund. „Wenn ich mit diesem Troll gesehen werde, will niemand mehr mit mir befreundet sein.“
Dad hob den Kopf. Einen Augenblick dachte Oliver, dass er Chris für die ständigen Beleidigungen zurechtweisen würde, aber dann entschied er sich dagegen, seufzte und blickte wieder auf seinen Teller.
Oliver knirschte mit den Zähnen, um seine Wut unter Kontrolle zu halten.
„Mir egal“, sagte er. „Ist mir eh lieber, wenn du hundert Meter Sicherheitsabstand hältst.“
Chris lachte dreckig.
„Ach Jungs, seid doch nicht so…“, sagte Mom schwach.
Als die Eltern nicht hinschauten, hob Chris wieder einmal drohend die Faust.
Nach