Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser

Читать онлайн книгу.

Wachtmeister Studer - Friedrich C.  Glauser


Скачать книгу
der al­ten Frau im Schlafrock… Der Wacht­meis­ter stand und starr­te auf das Mes­sing­schild: »Jo­se­pha Cle­man-Hor­nuss. Wit­we.«

      Dann lud er Ma­rie zu ei­nem Kaf­fee ein. Das schi­en ihm das Ver­nünf­tigs­te…

      Die erste Frau

      Bald nach Ol­ten be­gann es zu schnei­en. Stu­der saß im Spei­se­wa­gen und sah durch die Schei­ben. Die Hü­gel, die vor­beig­lit­ten, wa­ren weich hin­ter dem wei­ßen Vor­hang, der so re­gel­mä­ßig-un­un­ter­bro­chen fiel, dass er be­we­gungs­los schien…

      Vor dem Wacht­meis­ter stand blau­es Kaf­fee­ge­schirr und da­ne­ben in Reich­wei­te eine Kar­af­fe mit Kirsch. Stu­der wand­te die Bli­cke vom Fens­ter ab und dem neu­en Ring­buch zu, das auf­ge­schla­gen vor ihm lag. Er hielt den Blei­stift zwi­schen Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger und schrieb in sei­ner win­zi­gen Schrift, de­ren Buch­sta­ben selbst­stän­dig ne­ben­ein­an­der stan­den, wie beim Grie­chi­schen:

      »Cle­man-Hor­nuss Jo­se­pha, Wit­we, 55 Jah­re alt. Gas­ver­gif­tung. Selbst­mord? Da­ge­gen spre­chen: schie­fe Stel­lung des Haup­t­hahns am Gas­mes­ser. Feh­len der Schlüs­sel zur Woh­nungs­tür und zum Gar­ten­tor, auf­ge­spreng­te Schub­la­de am Schreib­tisch… Und der Te­le­fon­an­ruf.«

      Der Te­le­fon­an­ruf! Stu­der auf sei­nem Platz im Spei­se­wa­gen des Schnell­zu­ges Ba­sel-Bern hör­te die Stim­me wie­der – und wie da­mals im Wohn­raum der Wit­we Cle­man-Hor­nuss kam sie ihm be­kannt vor. Sie er­in­ner­te ihn an eine an­de­re Stim­me, die er vor we­ni­gen Ta­gen ge­hört hat­te, in ei­ner klei­nen Bei­ze bei den Pa­ri­ser Markt­hal­len – das heißt der Ton der Stim­me war der glei­che, die Stimm­la­ge ähn­lich…

      Und be­trun­ken hat­te die Stim­me ge­tönt. Atem­los, wie bei ei­nem Mann, der hin­ter­ein­an­der ein paar Glä­ser Ko­gnak hin­un­ter­ge­schüt­tet hat. Ers­te Fra­ge: Was hat­te die­ser Be­trun­ke­ne mit sei­nem An­ruf bezweckt? Und die zwei­te: Wo hat­te sich Pa­ter Matt­hi­as vom Or­den der Wei­ßen Vä­ter in die­ser Zeit auf­ge­hal­ten? In wel­cher Kir­che hat­te er sei­ne Mor­gen­mes­se ge­le­sen? In je­ner Ze­ment­kir­che, die von den Bas­lern das »See­len­si­lo« ge­tauft wor­den war?

      Stu­der starr­te ge­dan­ken­ver­lo­ren zum Fens­ter hin­aus, streck­te die Hand aus, er­wi­sch­te statt des Kaf­fee­känn­lis die Kar­af­fe mit dem Kirsch, goss sei­ne Tas­se voll, führ­te sie zum Mund und merk­te den Irr­tum erst, als er die Tas­se schon ge­leert hat­te. Er sah auf, be­geg­ne­te dem Grin­sen des Kell­ners, grins­te freund­lich zu­rück, zuck­te mit den Ach­seln, hob die Kar­af­fe noch ein­mal, z’Trotz, leer­te den Rest des Schnap­ses in sei­ne Tas­se und be­gann eif­rig zu schrei­ben.

      »Cle­man Alois Vic­tor. Geo­lo­ge im Diens­te der Ge­brü­der Man­nes­mann. Schür­fun­gen nach Blei, Sil­ber, Kup­fer. Sei­ne Bro­ther­ren wer­den 1915 in Ca­sab­lan­ca stand­recht­lich er­schos­sen, weil sie ei­ni­gen Deut­schen zur De­ser­ta­ti­on aus der Frem­den­le­gi­on ver­hol­fen ha­ben. Cle­man als De­nun­zi­ant! Cle­man kehrt 1916 nach der Schweiz zu­rück, reist aber im glei­chen Jah­re im Auf­trag der fran­zö­si­schen Re­gie­rung wie­der nach Marok­ko. In­spi­ziert die von den Ge­brü­dern Man­nes­mann im Sü­den des Lan­des er­stell­ten Blei­öfen. Wird im Juli 1917 schwer er­krankt mit ei­nem Flug­zeug nach Fez ge­bracht. Stirbt nach Aus­sa­gen der Toch­ter, die sich auf ein un­auf­find­ba­res Te­le­gramm stüt­zen, am 20. Juli all­dort. Hin­ter­lässt ge­rin­ge Erb­schaft. War zwei­mal ver­hei­ra­tet. Ers­te Frau lebt in Bern, sie­he An­ga­ben des Pa­ters. Scheint Ver­mö­gen zu be­sit­zen. Ist Schwes­ter der in Ba­sel ver­stor­be­nen Jo­se­pha Cle­man.«

      Her­zo­gen­buch­see… Es hat­te auf­ge­hört zu schnei­en. Die tro­ckene Hit­ze im Wa­gen mach­te schläf­rig und Stu­der träum­te vor sich hin…

      Frem­den­le­gi­on! Marok­ko! Die Sehn­sucht nach den fer­nen Län­dern und ih­rer Bunt­heit, die, schüch­tern nur, sich ge­mel­det hat­te, da­mals, bei Pa­ter Matt­hias’ Er­zäh­lung, sie wuchs in Stu­ders Brust. Ja, in der Brust! Es war ein son­der­bar zie­hen­des Ge­fühl, die un­be­kann­ten Wel­ten lock­ten und Bil­der stie­gen auf – ganz wach träum­te man sie. Unend­lich breit war die Wüs­te, Ka­me­le trab­ten durch ih­ren gold­gel­ben Sand, Men­schen, braun­häu­ti­ge, in wal­len­den Ge­wän­dern, schrit­ten ma­je­stä­tisch durch blen­dend­wei­ße Städ­te. Von ei­ner Räu­ber­ban­de wur­de Ma­rie ge­raubt – wie ge­lang­te Ma­rie plötz­lich in den Traum? – sie wur­de ge­raubt und man durf­te sie be­frei­en. »Dan­ke, Vet­ter Ja­kob!«, sag­te sie. Das war Glück! Das war et­was an­de­res als das ewi­ge Rap­port­schrei­ben im Amts­haus z’Bärn, im klei­nen Büro, das nach Staub und Bo­den­öl ro­ch… Dort un­ten gab es an­de­re Gerü­che – frem­de, un­be­kann­te. Und in des Wacht­meis­ters Kopf stie­gen Erin­ne­run­gen auf: an das »Hohe Lied Sa­lo­mo­nis«, an die Mär­chen aus Tau­send­und­ei­ner Nacht…

      Vi­el­leicht, viel­leicht war dies wirk­lich der große Fall…

      Vi­el­leicht, viel­leicht wur­de man of­fi­zi­ös nach Marok­ko ent­sandt…

      Auf alle Fäl­le emp­fahl es sich, gleich mor­gen zu frü­he­s­ter Stun­de in die Ge­rech­tig­keits­gas­se Nr. 44 zu ge­hen, um die ge­schie­de­ne Frau des Geo­lo­gen aus­zu­fra­gen…

      Burg­dor­f… Stu­der leer­te den Rest des kal­ten Kaf­fees in sei­ne Tas­se, trank das Ge­misch, fand sei­nen Ge­schmack ab­scheu­lich und rief: »Zah­len!« Der Kell­ner grins­te wie­der ver­trau­lich. Aber Stu­der war es nicht mehr ums La­chen zu tun. Er konn­te Ma­rie nicht ver­ges­sen, die mit dem Se­kre­tär Kol­ler nach Pa­ris ge­reist war, – Pelz­jackett, sei­de­ne St­rümp­fe, Wild­le­der­schu­he! – Es war nicht zu leug­nen, dass er Ma­rie lieb­ge­won­nen hat­te… Es war ihm, als habe er eine Toch­ter wie­der­ge­fun­den. Denn sei­ne Toch­ter hat­te vor ei­nem Jahr einen Land­jä­ger aus dem Thur­gau ge­hei­ra­tet – nun war sie Mut­ter, und dem Wacht­meis­ter war es, als habe er sie end­gül­tig ver­lo­ren. All die­se un­kla­ren Emp­fin­dun­gen wa­ren wohl schuld, dass er dem ver­trau­li­chen Kell­ner nur zwan­zig Rap­pen Trink­geld gab.

      Sei­ne Lau­ne bes­ser­te sich auch nicht, als er in Bern aus­stieg. Die Woh­nung auf dem Kir­chen­feld war leer – Stu­der hat­te kei­ne Lust, den Ofen zu hei­zen. Er ging ins Café, um dort Bil­lard zu spie­len, be­such­te her­nach ein Kino und är­ger­te sich über den Fil­m… Spä­ter trank er ir­gend­wo ein paar große Hel­le, aber auch die be­ka­men ihm nicht. So leg­te er sich denn ge­gen elf Uhr mit ei­nem zünf­ti­gen Kopf­weh zu Bett. Er konn­te lan­ge nicht ein­schla­fen.

      Die alte Frau mit der War­ze ne­ben dem lin­ken Na­sen­flü­gel, die so ru­hig und ge­löst in ih­rem grü­nen Lehn­stuhl saß, ne­ben dem zweiflam­mi­gen Gas­réchaud, kam in der Dun­kel­heit zu Be­such… Ma­rie tauch­te auf, ver­schwand. Dann war der Sil­ves­ter­abend da, Kom­mis­sär Ma­de­lin und das Le­xi­kon Go­do­frey… Be­son­ders die­ser Go­do­frey, der mit sei­ner Horn­bril­le ei­ner noch nicht flüg­gen Eule glich, ließ sich nicht ver­trei­ben… »Pour ma­da­me!«, sag­te Go­do­frey und reich­te eine Gans­le­ber­ter­ri­ne durchs Wag­gon­fens­ter… Aber da wur­de die Ter­ri­ne rie­sig groß, grün und fest und gri­mas­sie­rend hock­te sie oben auf ei­nem Wand­brett und war ein Gas­zäh­ler – ein Kopf war die­ser ver­damm­te Gas­zäh­ler, ein Trau­mun­ge­tüm, das mit sei­nem


Скачать книгу