Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser

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Wachtmeister Studer - Friedrich C.  Glauser


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      »So syg das gsy«, nick­te Stu­der. Er stand auf, beug­te sich wie­der über den Schreib­tisch. Die aus­ge­leg­ten Kar­ten hat­ten es ihm an­ge­tan.

      »Und was habe es für eine Be­wandt­nis mit den Kar­ten?«

      Ma­rie Cle­man stütz­te die Hän­de auf das Fens­ter­brett und saß leicht auf dem vor­sprin­gen­den Ab­satz, wäh­rend ihre Fuß­spit­zen den Rand des ab­ge­schab­ten Tep­pichs be­rühr­ten. Dün­ne Fes­seln hat­te das Mäd­chen!…

      Die Kar­ten! Das sei eben das Elend ge­we­sen! Da­rum sei sie von der Mut­ter fort, er­klär­te Ma­rie. »Ach!«, seufz­te sie, »es ist nicht mehr zum Aus­hal­ten ge­we­sen, der gan­ze Schwin­del! Die Dienst­mäd­chen, die zehn Fran­ken zahl­ten, um zu wis­sen, ob der Schatz ih­nen treu sei; die Kauf­leu­te, die Rat woll­ten für eine Spe­ku­la­ti­on; die Po­li­ti­ker, de­nen die Mut­ter be­stä­ti­gen muss­te, dass sie wie­der ge­wählt wür­den… Und zum Schluss kam noch der Bank­di­rek­tor. Aber die­ser Herr kam we­gen mir. Und wis­sen Sie, On­kel Stu­der, ich glaub’, die Mut­ter schi­en nicht ein­mal et­was da­ge­gen zu ha­ben, dass ich mit dem Bank­di­rek­tor… Da bin ich ei­nes Ta­ges ab­ge­reist…«

      Stu­der war auf­ge­fah­ren. Er stand dem Meit­schi ge­gen­über. Wie hat­te ihn die Ma­rie ge­nannt? On­kel Stu­der? Das ver­schlug ihm den Atem… Aber, b’hüe­tis, was war da­bei? Er hat­te das Meit­schi ge­duzt, nach al­ter Ber­ner Ma­nier. Hat­te da die Ma­rie nicht eben­falls das Recht auf eine ge­wis­se Fa­mi­lia­ri­tät? On­kel Stu­der! Es wärm­te… Ex­akt wie Bät­zi­was­ser.

      »Wenn du schon«, sag­te Stu­der, und sei­ne Stim­me klang ein we­nig hei­ser, »On­kel sagst, dann sag we­nigs­tens: Vet­ter Ja­kob. On­kel! Das sa­gen die Schwa­ben…«

      Ma­rie war rot ge­wor­den. Sie blick­te dem Wacht­meis­ter ins Ge­sicht und sie hat­te eine be­son­de­re Art, die Leu­te an­zu­se­hen: nicht ei­gent­lich prü­fend, mehr er­staunt – ru­hig er­staunt, hät­te man es nen­nen kön­nen. Stu­der fand, die­se Art des An­schau­ens pas­se zu dem Mäd­chen. Aber er konn­te sich vor­stel­len, dass sie an­de­ren Leu­ten auf die Ner­ven fiel.

      »Gut! Also!«, sag­te Ma­rie. »Vet­ter Ja­kob!« Und gab dem Wacht­meis­ter die Hand. Die Hand war klein, kräf­tig. Stu­der räus­per­te sich.

      »Du bist ab­ge­reist… schön. Nach Pa­ris hat mir dein On­kel er­zählt. Mit wem?«

      »Mit dem ehe­ma­li­gen Se­kre­tär mei­nes Va­ters. Kol­ler hieß er. Er kam uns ein­mal be­su­chen und er­zähl­te, er habe sich selbst­stän­dig ge­macht und brau­che je­man­den, zu dem er Ver­trau­en ha­ben kön­ne. Ob ich ihn be­glei­ten wol­le, als Ste­no­ty­pis­tin? Ich hat­te die Han­dels­schu­le be­sucht und sag­te ja…«

      Pelz­jackett, sei­de­ne St­rümp­fe, Wild­le­der­schu­he… Lang­te das Sa­lär ei­ner Se­kre­tä­rin für so teu­re An­schaf­fun­gen? Stu­der ver­grub die Hän­de in den Ho­sen­sä­cken. Ihm war ein we­nig trau­rig zu­mu­te; dar­um run­de­te er den Rücken und frag­te:

      »Wa­rum bist du jetzt auf ein­mal zur Mut­ter ge­fah­ren?«

      Wie­der der merk­wür­dig prü­fen­de Blick.

      »Wa­rum?«, wie­der­hol­te Ma­rie. »Weil der Kol­ler plötz­lich ver­schwun­den ist. Von ei­nem Tag auf den an­de­ren. Vor drei Mo­na­ten, drei­ein­halb. Genau: am fünf­zehn­ten Sep­tem­ber. Vier­tau­send Fran­zo­sen­fran­ken hat er mir zu­rück­ge­las­sen, und mit dem Geld hab’ ich ge­langt – bis Ende De­zem­ber. Da hab’ ich grad noch ge­nug ge­habt, um nach Ba­sel zu fah­ren.«

      »Wa­rum bist du nicht mit dei­nem On­kel ge­fah­ren?«

      »Er hat al­lein fah­ren wol­len.«

      »Hast du das Ver­schwin­den an­ge­zeigt?«

      »Ja. Auf der Po­li­zei. Sie hat die Pa­pie­re be­schlag­nahm­t… Ein ge­wis­ser Ma­de­lin hat sich um die Sa­che ge­küm­mert. Ein­mal hat er mich vor­ge­la­den…«

      Ein Satz!… Ein Satz!… War er nicht zu er­wi­schen, der Satz, den Kom­mis­sär Ma­de­lin ge­spro­chen hat­te, an je­nem Abend, da Stu­der ihm das Te­le­gramm vom neu­en Ja­kob­li ge­zeigt hat­te? Was hat­te Ma­de­lin da zum le­ben­di­gen Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon Go­do­frey ge­spro­chen:

      »… Es stimmt et­was nicht mit den Pa­pie­ren des Kol­ler…« Das war es. Han­del­te es sich um den glei­chen Kol­ler?

      Stu­der frag­te:

      »Wo hat dei­ne Mut­ter die An­den­ken an dei­nen Va­ter auf­be­wahrt?«

      »Im Schreib­tisch«, er­wi­der­te Ma­rie und wand­te dem Rau­me wie­der den Rücken zu. »In der zweit­un­ters­ten Schub­la­de.«

      In der zweit­un­ters­ten Schub­la­de…

      Sie war leer. Doch das al­lein wäre nicht all­zu auf­fäl­lig ge­we­sen.

      Auf­fäl­lig aber war, dass der Ein­bre­cher, der sie auf­ge­bro­chen hat­te, sorg­sam ein ab­ge­split­ter­tes Stück Holz wie­der ein­ge­setzt hat­te. Stu­der schob die lee­re Schub­la­de zu, dann folg­te er dem Bei­spiel sei­nes Vor­gän­gers und pass­te das Holz­stück­chen ge­nau an sei­nen Platz. Er rich­te­te sich auf, zog sein Nas­tuch aus der Ta­sche, beug­te sich noch ein­mal zur Schub­la­de her­ab und rieb dort al­les sau­ber. Dazu mur­mel­te er: »Man kann nie wis­sen…«

      »Fin­den Sie et­was, Vet­ter Ja­kob?«, frag­te Ma­rie, ohne sich um­zu­wen­den.

      »Die Mut­ter hat’s wohl an ei­nem an­de­ren Ort ver­räum­t…«, brumm­te Stu­der. Und lau­ter füg­te er hin­zu: »Die ers­te Frau dei­nes Va­ters wohnt also in Bern und heißt…« Stu­der schlug sein No­tiz­buch auf, aber Ma­rie kam ihm zu­vor:

      »Hor­nuss heißt sie, So­phie Hor­nuss, Ge­rech­tig­keits­gas­se 44. Sie war die äl­te­re Schwes­ter mei­ner Mut­ter und ei­gent­lich mei­ne Tan­te, wenn Sie so wol­len…«

      »G’spä­ßi­ge Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se«, stell­te Stu­der tro­cken fest.

      Ma­rie lä­chel­te. Dann ver­schwand das Lä­cheln und ihre Au­gen wur­den dun­kel und trau­rig. – Das habe sie manch­mal auch ge­fun­den, mein­te sie, und Stu­der schalt sich einen Du­bel, weil sei­ne dum­me Be­mer­kung dem Meit­schi si­cher Kum­mer ge­macht hat­te…

      Im Flur ka­men Schrit­te nä­her. Die auf­ge­spreng­te Tür kreisch­te in ih­ren An­geln und eine Stim­me er­kun­dig­te sich, ob hier je­mand Selbst­mord be­gan­gen habe. – Es müs­se wohl hier sein, sag­te eine zwei­te Stim­me, es ste­he ja am Tür­pfos­ten! Cle­man! Und füg­te hin­zu: »Äbe joo«, und da habe man die Be­sche­rung.

      Stu­der kehr­te in die klei­ne Kü­che zu­rück und stieß dort mit ei­nem Uni­for­mier­ten zu­sam­men. Der Stoß war weich, denn der Sa­ni­täts­po­li­zist war dick, ro­sig und glatt wie ein Säug­ling. Er schi­en stän­dig ein Gäh­nen un­ter­drücken zu müs­sen, über­schüt­te­te den Wacht­meis­ter mit ei­nem Schwall von Fra­gen, die tap­fer mit »jä« und »joo« ge­würzt wa­ren. Au­ßer­dem gur­gel­te der Mann mit den »R« wie mit Mund­was­ser, an­statt sie or­dent­lich, wie sons­ti­ge Schwei­zer Chris­ten­menschen, mit der Zun­ge ge­gen den Vor­der­gau­men zu rol­len. Der Herr Ge­richts­arzt war alt und sein Schnauz vom vie­len Zi­ga­ret­ten­rau­chen


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