Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor Storm

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Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band) - Theodor Storm


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denn seine Frau war mit ihr in einer Pension zusammen, wo Jenni auch noch nach Beendigung der eigentlichen Schuljahre blieb. – Ich selbst habe sie erst nach zehn Jahren wiedergesehen.

      Es war im letzten Juni. Ich hatte, wie du weißt, der reichen Gräfin die kleine Basilika in ihrem Dorfe gebaut und wurde zu guter Letzt noch von dem dort auftretenden Typhus ergriffen. Ich wurde gut gepflegt; aber ich war weit von der Heimat und der Mann mit den langen Knochenarmen hatte scharf nach mir ausgelangt. – Meine Mutter war damals, während mein Vater unter Tante Josephinens Fürsorge zurückblieb, zum Besuch auf dem Gute meines Bruders; dort war sie selbst erkrankt und hatte zu ihrem Schmerz die Pflege ihres Sohnes fremden Händen überlassen müssen. Jetzt aber waren wir beide wieder fast genesen und schon in den nächsten Tagen wollte ich die Heimreise antreten. Das Gut meines Bruders kannte ich noch nicht. Er hatte es kurz vor seiner Hochzeit aus dem Nachlaß eines Mannes gekauft, von dessen Vorfahr, einem reichen französischen Emigranten, das Herrenhaus gebaut und namentlich der dasselbe umgebende Park in großartiger Weise nach der Gartenkunst Lenotres angelegt sein sollte. Wie meine Mutter schrieb, war ein großer Teil desselben, der sogenannte Lusthain, noch wohl erhalten; sogar von jenen graziösen Statuen, zu denen die schönen Damen vom Hofe Ludwigs des Fünfzehnten das Modell gegeben, sollte noch hie und da an Teichen und stillen Plätzen eine zwischen den hohen Laubwänden wie in verzauberter Einsamkeit stehen.

      Kurz vor meiner Abreise kam noch ein Brief von meiner heitern Schwägerin: »Wenn Du bald kommst«, schrieb sie, »so können wir Kindergeschichten zusammen lesen. Ich habe lebendige Bilder dazu; auf dem einen ist eine Räuberbraut; sie hat ein schönes blasses Gesicht und rabenschwarzes Haar. Den Kopf hat sie gesenkt und blickt auf ihren Goldfinger; denn dort hat der Ring gesessen, den sie einst dem treulosen Räuber geschenkt hat.« Den Brief in der Hand, sprang ich auf und kramte zwischen meinen Sachen ein Elfenbeinkästchen hervor, in dem ich allerlei kleine Schätze zu bewahren pflegte. Dort lag auch Jennis Ring. Ein schwarzes Band war daran; denn ich hatte ihn, wie sich von selbst versteht, in der ersten Zeit nach jenem Abschiede ganz heimlich auf dem Herzen getragen. Dann war er zu andern Raritäten in das Kästchen gewandert, das ich auch schon seit lange besessen. Jetzt, als könne es nicht anders sein, tat ich, wie ich als Knabe getan hatte; mit einem Lächeln mich zugleich verspottend und entschuldigend, hing ich mir aufs neue den Ring um den Hals.

      Du solltest« – unterbrach sich Alfred – »auf deiner Rückfahrt den kleinen Umweg nicht scheuen! Das Gut liegt ja nur eine Meile von hier; und, wie Hans mir sagt, hast du ihnen schon seit lange deinen Besuch versprochen. Du würdest es in der Tat so finden, wie meine Mutter mir geschrieben. –

      Es war nachmittags am letzten Juni, als ich aus der Sonnenhitze des offenen Weges in den Schatten der Kastanienallee hineinfuhr, die zum Hofe hinaufführt; und bald hielt auch der Wagen vor einem schloßartigen Gebäude, das in dem sogenannten Kommodenstil erbaut und mit einem Schwulst von Ornamenten überladen war, aber dennoch in seinen hervorspringenden Profilen und in den tiefe Schatten werfenden Reliefs einen Eindruck großartiger verschollener Pracht auf mich hervorrief. Auf der Treppe empfingen mich Hans und seine Grete. Als wir durch den geräumigen Flur gingen, erhielt ich die Weisung, leise zu sprechen; denn unsere Mutter hielt noch ihre Mittagsruhe.

      Wir waren der Haustür gegenüber in einen großen hellen Saal getreten. Zwei offene Flügeltüren führten auf eine Terrasse; unterhalb dieser breitete sich ein Rasen aus von solchem Umfange, daß von allen Seiten wohl nur ein lauter Ruf herüberreichen mochte. Überall in der grünen Fläche zeigten sich üppige Gruppen hochstämmiger und niedriger Rosen, die eben jetzt in voller Blüte standen und die Luft mit Wohlgerüchen erfüllten. Dahinter war eine Gebüschpartie, die wie die Rasenanlage offenbar aus neuer Zeit stammte; jenseit derselben, aber schon in ziemlich weiter Ferne, erhob sich in der ganzen Breite des Gartens der »Lusthain« des ursprünglichen Begründers mit seinen steilen Laubwänden und regelrechten Einschnitten. Alles dies lag im Glanz der Nachmittagssonne vor mir.

      »Was sagst du zu unserm Paradiese?« fragte die junge Frau.

      »Was ich sage, Grete? – Wie lange hat denn dein Mann das Gut?«

      »Ich denke, seit letzten Mai zwei Jahre.«

      »Und dieser praktische Landwirt duldet eine solche Raumverschwendung?«

      »Ei was, tu nur nicht, als wenn du die Poesie allein gepachtet hättest!«

      Mein Bruder lachte. »Aber recht hat er, Grete! – Die Sache ist die, Alfred; ich darf mich nicht an diesen Herrlichkeiten vergreifen; das ist kontraktlich festgemacht.«

      »Gott sei gedankt!«

      »Von mir nicht. – Inmitten eines kleinen Wasserspiegels steht dort noch eine Venus im reinsten Stile Louis Quinze; ich hätte sie schon für schweres Geld verkaufen können; aber – wie gesagt!«

      In diesem Augenblick hatte Grete meine Hand erfaßt. »Sieh dich um!« rief sie.

      Und auf der Türschwelle mir gegenüber stand im weißen Sommerkleide eine Mädchengestalt, die ich nicht verkennen konnte. Das waren noch die fremdartigen Augen der westindischen Pflanzertochter; aber das schwarze, einst so widerspenstige Haar lag jetzt in einem glänzenden Knoten gefesselt, der fast zu schwer schien für den zarten Nacken.

      Ich ging ihr entgegen; aber ehe ich den Mund noch aufgetan, war meine heitere Schwägerin schon zwischen uns getreten. »Haltet einen Augenblick!« rief sie. »Ich sehe schon das ,Sie’ und ,Fräulein Jenni’ und alle unmöglichen Titel auf euern Lippen sitzen; und das stört mich in meinen Familiengefühlen. Darum besinnt euch erst einmal auf den alten Birnbaum!«

      Die eine Hand legte Jenni der Freundin auf den Mund, die andere streckte sie mir entgegen. »Willkommen, Alfred!« sagte sie.

      Ich hatte ihre Stimme seit vielen Jahren nicht gehört; um so tiefer traf mich der eigentümliche Akzent, mit dem sie ganz wie damals meinen Namen sprach. »Ich danke dir, Jenni«, sagte ich, »das klingt noch ganz wie in der Kinderzeit; aber du mußt diesen Namen lange nicht gesprochen haben.«

      »Ich bin keinem Alfred sonst begegnet«, erwiderte sie, »und du bist mir ja immer aus dem Wege gegangen.«

      Ehe ich noch diesem Vorwurf begegnen konnte, hatte Grete uns schon auseinandergedrängt.

      »Das wäre in Ordnung«, rief sie. »Und nun, Jenni, hilf mir den Kaffee besorgen; denn er hat einen langen Weg gemacht, und unsere Mutter wird auch gleich hier sein.«

      Das Wiedersehen mit dieser, als sie bald darauf eintrat, war ein erschütterndes. Sie hatte den Sohn schon verloren gegeben; nun hielt sie ihn leibhaftig in ihren Armen und liebkoste ihn und streichelte ihm die Wangen wie einem kleinen Kinde. In dem Augenblick, da ich mich aufrichtete, um meine Mutter zu einem Lehnstuhl zu führen, sah ich Jenni bleich und mit überquellenden Augen an einen Schrank gelehnt. Als wir an ihr vorübergingen, fuhr sie zusammen; eine Porzellanschale, die sie in der Hand hielt, fiel zu Boden und zerbrach. »Verzeih, verzeih mir, süße Grete!« rief sie und schlang den Arm um ihre Freundin.

      Diese führte sie sanft aus dem Zimmer.

      Mein Bruder lächelte. »Wie das gleich überkocht!« sagte er.

      »Sie hat ein teilnehmendes Herz, Hans!« bemerkte unsere Mutter, die ihr zärtlich nachgeblickt hatte.

      Grete war wieder hereingetreten. »Lassen wir sie einen Augenblick«, sagte sie; »das arme Kind war schon vorhin in Unruhe; ihr Vater hat geschrieben; er wird in den nächsten Tagen kommen, dann soll sie mit ihm nach Pyrmont.«

      Ich erfuhr nun, daß der reiche Kaufherr, der bis jetzt ohne eigene Wirtschaft gelebt, nach beendeter Badereise eine neuerbaute Wohnung zu beziehen und in diese seine Tochter als Dame des Hauses einzuführen beabsichtige. – Grete schien eben nicht seine Freundin. »Es ist Jennis Vater«, sagte sie; »aber – oh, ich könnte ihn hassen, diesen Mann, der mit gleichgültiger Hand Tausende für seine Tochter hingäbe, bei dem sie aber vergebens um das kleinste Tausendteilchen seiner eigenen werten Persönlichkeit betteln würde. – Ja, Hans«, fuhr sie fort, als ihr Mann ihr neckend und wie zur Beschwichtigung über das blonde Haar strich, »du solltest nur eine von den Antworten sehen, die Jenni auf ihre Briefe zu bekommen pflegt; ich wenigstens kann sie von Quittungen


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