Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor Storm
Читать онлайн книгу.Mein Bruder war in sein Zimmer gegangen, um noch einige Geschäfte zu besorgen. Die Türflügel nach der Terrasse standen offen und ließen der Abendkühle freien Zugang; wir konnten von unserm Sitze aus über den dunkeln Baumgruppen die Sterne in dem tiefblauen Nachthimmel sehen.
Grete und Jenni versenkten sich in ihre Pensionserinnerungen; sie plauderten lebhaft, ich brauchte nur zuzuhören. So saßen wir lange Zeit. Als aber Grete ausrief: »Das war doch eine glückliche Zeit!« senkte Jenni schweigend den Kopf; so tief, daß ich auf den Scheitel ihres glänzenden Haares sah.
Dann stand sie auf und ging nach der offenen Gartentür, wo sie auf der Schwelle stehenblieb; und da in diesem Augenblick mein Bruder seine Frau zu sich ins Nebenzimmer rief, so trat ich zu ihr. Draußen hatte indes die Mondnacht den Garten in ihren weichen Duft gehüllt; hie und da auf dem Rasen leuchtete eine Rose aus der Dämmerung hervor, deren Kelch dem Strahle des eben aufgehenden Lichtes zugewendet war. Jenseit des Bosketts sah man einen Teil der hohen Laubwände des Lusthains in bläulicher Beleuchtung, während die hineinführenden Gänge schwarz und geheimnisvoll dazwischenstanden. Weder Jenni noch ich versuchten ein Gespräch, aber es war mir süß, so schweigend neben ihr zu stehen und in die ahnungsreiche Nacht hinauszublicken.
Nur einmal sagte ich: »Eines vermisse ich noch an dir; wo sind denn deine schönen Teufeleien geblieben?«
Und sie erwiderte: »Ja, Alfred« – und an ihrer Stimme hörte ich, daß sie lächelte – »wenn wir die Tante Josephine hier hätten! Vielleicht« – setzte sie plötzlich ernst hinzu – »gebrauche ich meine Gedanken anderswie.«
Ich antwortete nicht darauf. Wie gestern schlugen fern und nah die Nachtigallen; wenn sie schwiegen, war es so still, daß ich meinte, von den Sternen herab den Tau auf die Rosen fallen zu hören. Wie lange das gedauert, weiß ich nicht. Plötzlich aber richtete Jenni sich auf und sagte: »Gute Nacht, Alfred!« und reichte mir die Hand.
Ich hätte sie gern zurückgehalten; aber ich sagte nur: »Gib mir noch einmal die Hand! – Nein, hier in meine linke!«
»Da hast du sie. Weshalb aber denn in die linke?«
»Weshalb, Jenni? – Die brauche ich den andern nicht zu geben.«
Und fort war sie; und in den Büschen schlugen noch immerzu die Nachtigallen.
Die Perlenschnur dieser Tage wurde unterbrochen; der nächste wenigstens war ohne Glanz für mich; denn – und so stand es schon mit mir – Jenni war fort; wie sie gesagt hatte, um einen längst bestimmten Besuch auf einem Nachbargute zu machen. Sie war frühmorgens mit der Post gefahren, die auf dem Wege nach hier dort, wie auch an dem Gute meines Bruders vorbeifährt; ihre Rückkunft war erst spät abends zu erwarten.
Den Vormittag hatte ich auf dem Zimmer meiner Mutter in stillem Austausch von Gedanken und Zukunftsplänen zugebracht; am Nachmittag war ich mit meinem Bruder auf die Felder, nach seinen Wiesen, Heiden und Mergelgruben gegangen; dann hatte Grete mir ihre lustige Verlobungsgeschichte erzählt; aber je mehr der Abend dunkelte, desto mehr verlor ich die Ruhe, den Worten meiner Freunde zuzuhören. – Als meine Mutter in ihr Schlafzimmer gegangen war, lehnte ich in der offenen Gartentür, wo ich gestern neben Jenni gestanden hatte; und wieder sah ich über den Rasen weg jenseit des Bosketts die ferne Buchenwand des Lusthains in dem bläulichen Duft der Mondscheinbeleuchtung. Durch Zufall war ich immer noch nicht hineingekommen; jetzt aber lockten mich noch mehr als gestern die tiefen Schatten, durch welche sich die Eingänge kenntlich machten. Mir war, als müsse in jenem Labyrinth von Laub und Schatten das süßeste Geheimnis der Sommernacht verborgen sein. Ich sah in den Saal zurück, ob mich jemand bemerkte; dann stieg ich leise von der Terrasse in den Garten hinab. Der Mond war eben hinter den Kronen der Eichen und Kastanien heraufgestiegen, welche denselben nach Osten hin begrenzen. Ich ging an dieser Seite, die noch ganz im Schatten lag, um den Rasen; eine Rose, die ich im Vorübergehen brach, war schon feucht von Tau. Dem Hause gegenüber gelangte ich in das Boskett. Breite Steige schlangen sich scheinbar regellos zwischen Gebüschen und kleineren Rasenpartien; hier und dort leuchtete noch ein Jasmin mit seinen weißen Blüten aus dem Dunkel. Nach einer Weile trat ich auf einen sehr breiten, quer vor mir liegenden Weg hinaus, jenseit dessen sich majestätisch und hell vom Mond beleuchtet die Laubwände der alten Gartenkunst erhoben. Ich stand einen Augenblick und sah daran empor; ich konnte jedes Blatt erkennen; mitunter schwirrte über mir ein großer Käfer oder ein Schmetterling aus dem Laubgewirr in die lichte Nacht hinaus. Mir gegenüber führte ein Gang in das Innere; ob es derselbe war, dessen Dunkel mich zuvor von der Terrasse aus gelockt, konnte ich nicht entscheiden; denn das Gebüsch verwehrte mir den Rückblick nach dem Herrenhause.
Auf diesen Steigen, die ich nun betrat, war eine Einsamkeit, die mich auf Augenblicke mit einer traumhaften Angst erfüllte, als würde ich den Rückweg nicht zu finden wissen. Die Laubwände an beiden Seiten standen so dicht und waren so hoch, daß ich nur wie abgeschnitten ein Stückchen Himmel über mir erblickte. Wenn ich, wo sich zwei Gänge kreuzten, auf einen etwas freien Platz gelangte, so war mir immer, als müsse aus dem Schatten des gegenüberliegenden Ganges eine gepuderte Schöne in Reifrock und Kontusche am Arm eines Stutzers von anno 1750 in den Mondschein heraustreten. Aber es blieb alles still; nur mitunter hauchte die Nachtluft wie ein Atemzug durch die Blätter.
Nach einigen Kreuz-und Quergängen befand ich mich an dem Rande eines Wassers, das von meinem Standort aus etwa hundert Schritte lang und vielleicht halb so breit sein mochte, und von den es an allen Seiten umgebenden Laubwänden nur durch einen breiten Steig und einzelne am Ufer stehende Bäume getrennt war. Weiße Teichrosen schimmerten überall auf der schwarzen Tiefe; zwischen ihnen aber in der Mitte des Bassins auf einem Postamente, das sich nur eben über dem Wasser erhob, stand einsam und schweigend das Marmorbild der Venus. Eine lautlose Stille war an diesem Platze. Ich ging an den Ufern entlang, bis ich dem Kunstwerke so nahe als möglich gegenüberstand. Es war offenbar eine der schönsten Statuen aus der Zeit Louis Quinze. Den einen der nackten Füße hatte sie ausgestreckt, so daß er wie zum Hinabtauchen in die Flut nur eben über dem Wasser schwebte; die eine Hand stützte sich auf ein Felsstück, während die andere das schon gelöste Gewand über der Brust zusammenhielt. Das Antlitz vermochte ich von hier aus nicht zu sehen; denn sie hatte den Kopf zurückgewandt, als wolle sie sich vor unberufenen Lauschern sichern, ehe sie den enthüllten Leib den Wellen anvertraue.
Der Ausdruck der Bewegung war von so täuschendem Leben und dabei, während sich der untere Teil der Gestalt im Schatten befand, spielte das Mondlicht so weich und leuchtend um die marmorne Schulter, daß mir in der Tat war, als hätte ich mich in das Innerste eines verbotenen Heiligtums eingeschlichen. – Hinter mir an der Laubwand stand eine Holzbank. Von hier aus betrachtete ich noch lange das schöne Bild; und – ich weiß nicht, war es nur die Stimmung, in die ich durch den Anblick der Schönheit versetzt wurde, ich mußte im Hinschauen immer an Jenni denken.
Endlich stand ich auf und irrte wiederum aufs Geratewohl eine Zeitlang in den dunkeln Gängen umher. Unweit des Teiches, den ich eben verlassen, fand ich an einem mit niedrigem Gebüsch bewachsenen Platze auf marmornem Sockel noch den Überrest einer zweiten Statue. Es war ein muskulöser Männerfuß, der sehr wohl einem Polyphem gehört haben konnte; und so hatte der Vetter Philologe vielleicht nicht unrecht, der jenes Marmorbild für eine Galathea erklärt haben sollte, die vor der Eifersucht des ungeschlachten Göttersohns ins Meer entflieht.
Der Kunstmensch wurde in mir lebendig. Ob Galathea oder Venus – es reizte mich, selbst diese Frage zu entscheiden; und so wollte ich noch einmal zurück, um weniger träumerisch als vorhin zu betrachten. Aber so manchen Weg ich einschlug, es wollte mir nicht gelingen, den Teich wieder zu erreichen; endlich, da ich aus einem Seitenweg in einen breiten Laubgang einbog, sah ich am Ende desselben das Wasser glitzern, und bald meinte ich auch an derselben Stelle zu stehen, wo ich das erstemal an das Ufer getreten war. Es war seltsam, daß ich den Ort so hatte verfehlen können. Aber ich traute meinen Augen kaum; dort in der Mitte erhob sich zwar noch das Postament über dem Wasser; auch die Teichrosen schimmerten nach wie vor auf der schwarzen Tiefe; aber das Marmorbild, das dort gestanden, war verschwunden. Ich begriff das nicht, und starrte eine ganze Weile nach dem leeren Fleck. Als ich der Länge nach über den Teich hinblickte, sah ich drüben am jenseitigen Ufer im Schatten der hohen Baumwand eine weiße Frauengestalt. Sie lehnte an einem Baume, der neben dem Wasser stand, und schien