Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Читать онлайн книгу.und es war wieder so schwül wie am Abend vorher.
Zwei Nachtfalter flatterten durch den Hof und über die Schultern Frank Aschenbrenners, und wie er sie mit den Augen verfolgte, sah er, daß ein Fenster oben erleuchtet war, und er wußte aus früherer Zeit, daß dies Venis Fenster war. Dann sah er zwei Schatten droben. Da in der Nähe ein alter Birnbaum stand, kletterte er rasch daran hinauf, und bald konnte er in die Kammer hineinschauen, wo der Leutnant saß und die junge Veni umschlungen hielt. Sie sträubte sich nicht, nein, sie ergab sich seiner Umarmung, sie suchte seine Umarmung, sie hatte das Gesicht an seiner Brust verborgen. Das ist aber schnell gegangen, dachte der Soldat in seinem Stumpfsinn, und der Ast, auf dem er saß, wollte schier brechen. Die reifen Früchte des Baumes schienen um ihn herumzutanzen; unten lief eine Katze über den Hof und stieß ein klagendes und sehnsüchtiges Geschrei aus; eine Fledermaus schwirrte vorbei. Jetzt löschte der Leutnant das Licht aus, und Frank starrte noch immer und wußte nicht wie lange, da auf einmal erscholl die Trommel, die die Kompagnie zum Appell rief. Oho, dachte Frank Aschenbrenner und brach zornig einen Zweig mitten durch, gönnen sie uns nicht mal die Rast? Das bedeutet Nachtübung – Brigadebefehl ... und er lachte höhnisch vor sich hin, stieg herab vom Baum, trottete nach Haus, wo die beiden Eltern mit Bangen auf ihn warteten, und begann sich marschfertig zu machen wie die andern auch.
Das ganze Dorf war in Bewegung. Die Korporalschaften ordneten sich, und in den Gesichtern der Mannschaft lag ein düsterer Verdruß. Schwer und schleppend setzten sich die Züge in Bewegung, um sich zu sammeln und der Mond stieg groß und glühend über der Landschaft auf, eine halbvollendete Scheibe. Der Hauptmann ritt vor die Front und feuerte in einer pathetischen Ansprache die Soldaten an. In kurzen Zügen gab er dann den Plan des nächtlichen Manövers kund. Die Ordre ging vom Armeekorps aus: die dritte Brigade sollte den Waldrand von Heumödern besetzen und die Position bis Tagesanbruch zu halten versuchen. Die Offiziere orientierten sich auf ihren Karten und die Korporäle machten sich Notizen, weniger weil es notwendig war, als um ihr waches und unermüdetes Interesse deutlich zu zeigen. Während all dem standen die Dorfbewohner schweigend um die Kompagnie und beobachteten neugierig das fremdartige Thun. Die Nacht war voll von einer bedrückenden Schwülnis, über den Feldern lagerte ein seltsamer Dunst, und heimliche Lichter schienen oft aufzublitzen unter dem schweren Mantel der Nacht. Endlich wurde der Marschbefehl erteilt, und dumpf und echolos ertönten die gleichmäßigen Schritte der Kolonne auf der Dorfstraße. Hinter ihnen lag der See; stumm und langen Schleiern gleich glitten zarte Nebel über die glatte Fläche. Es war wie eine geheime Empörung unter den Leuten, die aus ihrer Nachtruhe aufgescheucht, neuen Müdigkeiten und Erschöpfungen preisgegeben waren. Die Vorgesetzten fühlten es, daß hier ein Geist der Widersetzlichkeit zu Gast war, jener stumme Unwille, der wie ein mühsam eingedämmtes Feuer weiterlodert und weiterlodert, bis er alle ergriffen hat und der vernünftigen Zurückhaltung unfähig macht. Weithin glänzte die Landschaft in der Nacht und der zitternde, dämmerige Mondschein beleuchtete etwas gespenstisch die bewegliche Schlange, die auf der Chaussee fortschlich, langsam und anscheinend ohne Ziel, wie eine seltsame Maschinerie. Die Gewehrläufe und die Knöpfe der Uniformen blitzten sanft, und keiner in der Kolonne hatte Lust zu plaudern. Nur wenn einer im Marsch nachließ und den Schritt verlor, wurde ein boshaftes Murren laut und die ganze stille Empörung der Gequälten kehrte sich gegen den frühzeitig ermatteten Kameraden. Viele hatten sich offenbar schon die Füße wund gelaufen, denn ihr Gang war zag und vorsichtig; sie traten nur noch mit der Sohle des Stiefels auf, und manche waren wund zwischen den Schenkeln und schritten mit gespreizten Beinen dahin.
Auf dem langen Marsch bis zum Wald von Heumödern vereinigten sich die zwölf Kompagnien des Regiments; kurz vor Erreichung des Zieles traf das andere Regiment ein, und die Brigade konnte nun plangemäß das Terrain besetzen. Lautlos ging all dies vor sich, der Mond stieg immer höher und ein schwüler, leichter Wind kam von der Seegegend her. Gedämpfte Kommandorufe: ausschwärmen! langsam! hinlegen! zurück! u. s. w. störten den Nachtfrieden des Waldes. Und Frank Aschenbrenner wollte sich eben niederlegen, beglückt, daß er nun endlich ruhen könne und unfähig, an etwas anderes zu denken als an diese zerstörende Müdigkeit, die den Körper förmlich aushöhlte; da vernahm er, wie man ihn und zwei Kameraden dazu bestimmte, mit dem Leutnant von Gerlach einen Patrouillengang anzutreten. Er dachte nicht mehr an seine Erschöpfung. Er hätte lachen mögen, und die Begierde, jemandem seine Befriedigung mitzuteilen, überkam ihn; die seltsame Fügung des Zufalls, die gerade ihn mit dem Leutnant auf einen einsamen Wachtposten stellte, veranlaßte ihn nicht einmal zum Nachdenken, sondern machte ihn nur froh und erwartungsvoll.
Der Leutnant hatte die wichtige Aufgabe erhalten, die Stellung des Feindes an seinem linken Flügel auszukundschaften und marschierte nun mit seinen drei Leuten am Wald entlang und dann gegen die Ebene hinüber. Er verfolgte eine Zeitlang den Lauf des Zonhofer Baches, streifte das herzogliche Jagdrevier Birkenfeld und dann breitete sich ein weites flaches Land vor der müdhinschleichenden Patrouille aus. Durch Wiesenwege gings und durch den Rain der Felder, und bald war es so einsam rings, daß kein Baum und kein Strauch mehr zu sehen war. Und im Osten zogen weißliche, dünne Wolken empor, gefärbt vom Licht des Mondes; oft huschte ein scheuer Nachtvogel vorbei und die Grillen wurden laut und lauter: ein wechselloser Rhythmus, gleichsam die Melodie des Schweigens; dabei fielen den Soldaten ganz alte, fast vergessene Volkslieder ein und Jürg Kohlmann summte sogar die »stille Wacht« vor sich hin. Unfern von Obermödern war ein Kreuzweg, und am Wegweiser dort teilte Leutnant von Gerlach seine Patrouille: Jürg Kohlmann und Stephan Weyh sollten langsam und mit großer Vorsicht bis zur Staatsstraße vordringen, er selbst wollte mit Frank Aschenbrenner in nördlicher Richtung rekognoscieren. Frank lachte heiser, fast unhörbar vor sich hin. In seltsamer Glut starrten die Herbstzeitlosen aus den Wiesen, und der Mond wurde schon rot und neigte sich dem Horizonte zu. Die nachttaunassen Gräser feuchteten die Stiefel; die Sterne schienen mit den beiden Einsamen zu wandeln. Die Ebene schien gar kein Ende nehmen zu wollen: in sanften Linien malte sich der Horizont vom schwarzblauen Himmel ab, und bisweilen ragte ein Baum auf, die Dunkelheit wie ein Schwert durchschneidend. Plötzlich lachte Frank Aschenbrenner mit einem sonderbar glucksenden Lachen: der Leutnant blieb stehen und sah ihn an; es war ein unsicherer Blick, voll Schuldbewußtsein und Unmut. Frank erwiderte ihn furchtlos, ja, er bohrte seine Augen tief in die seines Leutnants; er preßte die Lippen zusammen und rührte sich nicht von der Stelle, bis der Leutnant sich umkehrte und wortlos weitermarschierte. Aber es war von diesem Augenblick an, wie wenn der junge Offizier die düsteren und haßerfüllten Augen seines Soldaten beständig auf sich ruhen gefühlt hätte, als ob er dabei einen körperlichen Schmerz empfände. Und dies Unbehagen nahm zu. Frank Aschenbrenner, todmüde und so erschöpft wie er noch nie im Leben gewesen war, kam gleichwohl nicht eigentlich zum Bewußtsein dieser Müdigkeit, sondern sein Kopf war ausgefüllt von einem einzigen Gedanken, der ihn weit über alles leibliche Ungemach hinwegtrug. Als der Leutnant vor einem mageren Weidengebüsch Halt machte, nahm Frank das Gewehr ab und hörte wie im Traum, daß ihm der Offizier befahl, niederzuknien und hinüberzuspähen nach der Chaussee, während er selbst sein Taschenbuch zog und sich anschickte, Notizen zu machen. Aber Frank gehorchte dem Befehl nicht, und der Leutnant that, als habe er es nicht bemerkt. Er schien vertieft in seine Beobachtungen; in Wirklichkeit empfand er eine unbestimmte, aber intensive Angst. Diese stille Nacht, der starke und heißblütige, von glühenden Instinkten erregte Mensch hinter ihm ließen ihn gar nicht zur Klarheit über seine wichtige militärische Mission kommen. Nicht als ob er sich gefürchtet hätte, aber es herrschte eine fremdartige Verwirrung in seinem Innern, die ihm nicht einmal zu einem bestimmten Befehl für den stummen Untergebenen Mut verlieh.
Die Landstraße erstreckte sich drüben, ein ein graues, dünnes Band, und jetzt sah der Leutnant eine feindliche Patrouille sich auf das ferne Dorf zu bewegen. »Wir müssen in die Schonung hinein,« sagte er mit leiser Stimme und deutete mit der Hand auf einen kleinen Fichtenhain, der sich hinter einer hügeligen Erhebung der nahen Wiesen ausbreitete. Wieder sah er dem Soldaten starr ins Gesicht, und diesmal zuckte er zusammen und drehte krampfhaft an seinem dünnen Bart. Frank folgte ihm: Vergangene Jahre blühten plötzlich auf in seiner Phantasie, das Liebesglück stiller Jugendzeit und das Glück, das selbst im Abschied lag, und seine Augen wurden nun groß; gleichsam verlangend sah er in die Nacht, voll Rachedurst und voll Durst nach Freiheit, die er so lange entbehrt hatte und deren Entbehrung ihm erst jetzt bewußt wurde. Er heftete den Blick, von Haß und Wildheit erfüllt auf den jungen Offizier, der es immer stärker empfand, welche Gefahr