Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Читать онлайн книгу.und gab es noch einen Mann auf Erden, der so hieß, so war er sicherlich nur der Schatten seiner selbst. Und obwohl sie das leblose Abbild von Philipps Leib täglich vor sich ruhen sah, verlor sie die Erinnerung an ihn und wußte nicht mehr, wie er aussah und wie er sprach, wußte nicht mehr von der Farbe seiner Augen und der Form seiner Hände und es ward ihr bang und banger, als sie so seinen Namen durch die Länder schleppte, nichts weiter als seinen Namen. Die Finsternis in ihr verlor gleichsam ihre Grenzen, überdeckte Himmel, Erde und Wasser, erfüllte die Schöpfung mit eisiger, bodenloser Trauer.
In den rhätischen Gebirgen erkrankte Jan Dalaunes und blieb in einem Dorf zurück. Erst im Savoyischen holte der ergebene Mann die Herrin wieder ein und kam gerade recht, um die Söldner und Diener zu ermutigen und anzufeuern, als sie sich weigerten, am Abend über einen verschneiten Paß zu wandern.
Es war ein schauriges Unwetter, als sie die Höhen erreichten. Die Vordersten verloren den Weg und sanken tief in den Schnee. Einige blieben ermattet liegen, schliefen ein und erfroren. Die Fackeln verlöschten und zum Glück entdeckte der vorauseilende Jan Dalaunes die Hütte eines Hirten. Da fanden die Zuflucht, die sich noch retten konnten; der Sarg blieb draußen und wurde vom Schnee zugeweht.
Noch in der Nacht erwachte Jan Dalaunes, tastete sich zur Tür des vom schlechten Atem der Schläfer erfüllten Raums und trat hinaus. Angst um die Herrin hatte seinen Schlummer verscheucht.
Der Himmel war klar und die Sterne funkelten in erhabener Pracht und Ruhe. Über einem fernen Schneefeld herauf bog sich die Milchstraße über das dunkelblaue Gewölbe wie erstarrter Rauch. Zwischen zwei mächtigen Felszacken glitzerte grünlich das Eis, gähnten ungeheure Spalten. Bisweilen kam ein schneidend kalter Windstoß und wirbelte den Schnee zu dünnen leuchtenden Säulen empor. Es herrschte ein Schweigen, welches den Atem stocken ließ.
Im unsicheren Licht gewahrte Jan Dalaunes die Herrin. Sie saß auf einem niedrigen Holzblock, hatte die Arme um die Kniee geschlungen und starrte mit gefrorenem Blick in die gewaltige Stille. Sie schien die Kälte nicht zu spüren. Eine Pferdedecke umhüllte ihre Schultern.
»Ihr müsset krank werden, edle Donna,« sagte Jan Dalaunes, indem er sich näherte. Die Infantin antwortete nicht.
Der Falkner ging ins Haus zurück und klaubte Späne und Reisig zusammen. Dann kam er wieder und machte auf einer schneefreien Stelle Feuer an. Das Mitleiden mit der Herrin würgte ihm die Kehle und während er immer neues Holz in die aufprasselnden Flammen warf, war sein bärtiges Gesicht von Kummer förmlich verwüstet. Es drängten sich Worte auf seine Lippen: Verse, die er einmal gehört oder gelesen oder geträumt.
»Was sprecht Ihr da?« hörte er auf einmal die dunkle Stimme der Herrin. Ihr Gesicht hatte sich auf der schneebewehten Decke fremd und düster wie das Antlitz einer Sphinx ihm zugedreht. Er schüttelte befangen den Kopf und kniete vor dem Feuer hin. Nach einer Weile kehrten die seltsamen Worte traumhaft wallend wieder.
Wo des Nebels Silberbogen
über eine Gletscherwand
groß und feierlich gezogen,
dort liegt meiner Sehnsucht Land.
Sah ich eisige Gestalten,
schaudernd im gefrornen Strahl
grünkristallne Kerzen halten;
tanzen in dem weißen Saal.
Sah ich eine, die beklommen
nur des Mantels Saum bewegt,
und ihr Herz vom Tisch genommen,
der den ganzen Himmel trägt.
Wie im Schlaf hält sie die schwere
Purpurkugel sanft empor,
und es öffnet sich die Sphäre,
Gottes Arm streckt sich hervor.
Er empfängt des Lebens Schale,
jene aber steht beglückt,
schaut hinunter zu dem Tale,
wo ein Knabe Blumen pflückt.
Lautlos wälzte sich eine bläuliche Wolke von Schneestaub heran und entfernte sich wieder.
Da sank Johannas Haupt etwas vorneüber. Wie um es zu halten, schlug sie die Hände vors Gesicht und gleichzeitig brach sie in ein furchtbares Weinen aus. Es klang wie der dumpfe Schlag eines Hammers gegen eine hohle Wand. Unwiderstehlich hatte sie der Schmerz um das eigene Leben, um die eigene vernichtete Seele ergriffen. Es war als sei ihr Herz bis jetzt durch einen künstlichen Mechanismus in Gang erhalten worden, der nun zu versagen drohte.
Sie fühlte die Kraft der Erinnerung völlig aus ihrer Seele entschwinden, sie spürte nur sich selbst, nur den eigenen unermeßlichen Jammer, es ergriff sie wie Flammen eines Scheiterhaufens, sie schrie und schlug um sich und als eine Wahnsinnige wurde sie von ihren Leuten zu Tal gebracht.
Der zertrümmerte Sarg mit dem sehr entstellten Leichnam ward erst viele Wochen später in einem Schneeloch aufgefunden, wo er hinabgestürzt war. Der Herzog von Savoyen ließ die sterblichen Reste des Fürsten nach Burgos schaffen. In einer Gruft der Kirche San Andrea fand endlich Philipps Körper seine irdische Ruhe.
Zwischen den Städten Palencia und Valladolid lag in unfruchtbarer Ebene das öde Schloß Tordesillas. In einem Turm dieses Schlosses lebte die wahnsinnige Infantin. Der Turm war rings von Wasser umgeben; die Zugbrücke war stets emporgezogen. Auf dem Wasser schwammen Schwäne.
Längst war Johanna Königin von Spanien, freilich nur dem Namen nach. Doch wurden in ihrem Namen alle Regierungshandlungen ausgeübt und die Dekrete gesiegelt. Aber diese Königin herrschte in Wirklichkeit bloß über ein Reich von Katzen. Der treue Jan Dalaunes war Majordom von Tordesillas. Täglich fuhr er auf einem Boot hinüber und sah zu, wenn die Herrin mit den Katzen spielte, als ob es ihre Kinder wären. Jedes der Tiere trug ein buntes Bändchen um den Hals und jedes hatte seinen Namen und seine Würde.
Gleichmäßig flossen die Jahre an Donna Johanna vorüber wie Wasser an einer steinernen Mauer. Lange, viele Jahre. Sie alle fanden die edle Frau versunken in ein Spiel, ja, nur in den kargen Abglanz eines Spiels, in dumpfer Unwissenheit von sich selbst, in niemals erleuchtetem Frieden.
Draußen in der Welt hatte sich mancherlei begeben. Der Knabe Carlos war zum Mann geworden, und die Fürsten hatten ihn zum römischen Kaiser gewählt. Er führte Kriege gegen die Ketzer und warf sie zu Boden. Er war stark in der Tat und stark im Wort. Sein ganzes Leben war ein Krieg: voller Blut, voller List. Heißdrängender Ehrgeiz lockte ihn von Enttäuschung zu Enttäuschung. Sein wahres Gesicht trug er verborgen hinter vielen andern Gesichtern. Er hatte viele Gesichter gegen die Menschen, aber sein Gesicht vor Gott war immer dasselbe: schwermütig und krank.
Einst war er ausgezogen mit einem weißgeschliffenen Schild, auf welchem das Wort strahlte: Nondum, noch nicht. Nachdem die Jahre verflossen waren und er alle Macht in Händen hielt, die einem Menschen gewährt sein kann, da sagte sein müder Verzicht: nicht mehr. Er war ein so gewaltiger Fürst, daß er zwei Weltkugeln im Wappen führen durfte, und seine Leute nannten ihn bloß »den Herrn«. Nichtsdestoweniger schien ihm die Ruhe eines Klosters über alles begehrenswert.
Als er fünfzig Jahre alt war, reiste er nach Santander und zog über Burgos nach Tordesillas.
Eines Tages im Herbst rasselte die Brücke über den Wassergraben und ein ansehnlicher Zug glänzender Herren betrat den halbverfallenen Hof. Der Kaiser allein ging hinauf.
Ungeachtet des sonnigen Tages herrschte im Zimmer Dämmerung; die beklemmende Luft roch nach Weihrauch und Räucher-Essenzen. Inmitten des Raums stand Johannas Bett und auf der morschen Damastdecke lagen Katzen: weiß und schwarz, alt und jung; andere hockten auf dem Sims, andere in einem Winkel oder auf Stühlen.
Donna Johanna hatte sich erhoben. Ihr schmales, fast runzelloses Gesicht mit dem hochgeschwungenen Munde erschien wie aus Holz geschnitzt. Neugierig blickte sie auf die schmächtige Gestalt im schwarzen Barett und mit dem roten, bis auf die Knie reichenden Spaniermantel; verwundert sah sie dies totenblaße, kalte, müde Angesicht.
Mit gravitätischem Schritt näherte sich