Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

Читать онлайн книгу.

Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


Скачать книгу
zu, wie ungestüm sich das Kind in ihrem Innern bewegte, als könne es die Zeit nicht erwarten, um ans Licht zu gelangen. »Hab’ nur Geduld, Traumseelchen,« flüsterte Sara, »bald werden wir auf die Reise gehen, und du wirst ein herrliches Bett bekommen bei deinem Vater, das ist der schönste Mann.« Sie schlief ein und schlief ruhig bis in den Tag, der so finster und stürmisch war, daß es sich hier in der Zelle nur um weniges von der Nacht unterschied. Am Nachmittag kamen einige Leute in ihre Zelle, der Lord Oberrichter und ein schottischer Edelmann, ein Vetter des Ermordeten. Er hatte in seinen Zügen eine Ähnlichkeit mit Francis Rhymer, aber besonders erregte er Saras Aufmerksamkeit durch einen Blick des Erbarmens, der anders als des Pfaffen Blick bis in die Nieren drang. Sara breitete die Arme aus, und ein schneller Krampf zuckte über ihr Gesicht. »Nur einmal laßt mich noch den Mund an meinen goldenen Becher drücken!« rief sie über und über schaudernd aus; aber niemand verstand sie, man glaubte, sie fasle oder rede irr.

      Um sechs Uhr kam der Ausrufer nach Newgate, der im Hof die Namen derjenigen verlas, die am nächsten Morgen sterben sollten. Ein gewisser Chambers, der sich in der gegenüberliegenden Zelle befand, ein höchst grausamer Mörder, bat Sara, sie möge doch um Gottes willen acht geben, ob sein Name vorkomme. Sara stellte sich ans Fenster und hörte zu; gleich nach ihrem eigenen kam der Name Chambers. Sie beschloß, es dem Unglücklichen zu verheimlichen, damit er eine ruhige Nacht habe, aber er erfuhr es doch. Der Wärter kam auf seiner letzten Runde. Ohne Mühe erreichte es Sara, daß er sie hinübergehen ließ zu dem weinenden Mörder. Sie fragte ihn, ob sie mit ihm beten solle. »Ja, Sara!« rief er, »von ganzem Herzen.« Sie begann inbrünstig mit ihm zu beten, und tief in die Nacht hinein lagen sie auf den Knieen, bis alles Licht ausgebrannt war. Ohne daß sie es gewahr wurden, kamen die anderen Todgeweihten, denen der Wärter die Türen geöffnet hatte, und beteten mit. Wie auf eine Heilige blickten sie auf Sara, und je näher die bittere Stunde kam, je mehr fühlten sie ihre Seelen entlastet. Die Wärter vergaßen des Schlafes in dieser Nacht und dachten, nun seien auch einmal des Himmels Heerscharen eingezogen in die Hölle von Newgate.

      Der Morgen graute und die Hellebardiere erschienen, um die Verurteilten nach Fleetstreet an den Galgen zu führen. Fünf Männer waren es: ein Mörder, zwei Brandstifter, ein Hochverräter und ein meuterischer Matrose. Sie zogen singend über den Hof des Gefängnisses und nahmen Sara in ihre Mitte. Damit sie durch den Regen nicht litte, zog Chambers seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Die beiden Brandstifter gingen ihr zur Seite und beteuerten, daß sie den Tod nicht fürchteten. So kamen sie vor dem Blutgerüste an. Sara durfte zuerst hinansteigen. Selbst der rohe Pöbel, der sich auf dem Schauplatz versammelt hatte, starrte in schweigender Ergriffenheit empor und keiner vergaß den jubelnd-totbereiten Ausdruck ihres Antlitzes. Als der Strick um ihren schlanken Hals gelegt wurde, glaubten viele zu sehen, daß sie einen Kuß in die Luft hauchte. Auch die Sonne befreite sich für einen Augenblick aus Wolkendunst und schaute zu.

      Nicht im Wirklichen und Greifbaren spielt sich das entscheidende Leben der Menschen ab. Das Tiefste, woran der Sterbliche seine Seele bindet, ist Rauch, ist Traum. So werden Glück und Unglück zu bloßen Namen.

      Clarissa Mirabel

       Inhaltsverzeichnis

      In der kleinen Stadt Rhodez, die im Westen der Sevennen liegt und vom Flusse Aveyron bespült wird, wohnte der Advokat Fualdes, ein unbedeutender Mann, weder gut noch böse. Trotz seinem vorgerückten Alter hatte er sich erst unlängst von den Geschäften zurückgezogen, und seine Vermögensumstände waren so zerrüttet, daß er im Anfang des Jahres achtzehnhundertsiebzehn seine Domäne La Morne veräußern mußte. Mit dem Erlös wollte er sich an einem stillen Fleck des Landes zur Ruhe setzen und von seiner Rente leben. Eines Abends, es war der neunzehnte März, erhielt er vom Käufer des Gutes, dem Präsidenten Seguret, den Rest der Kaufgelder in Papieren und Wechseln ausbezahlt und nachdem er die Dokumente in seinem Schreibtisch verschlossen hatte, verließ er das Haus und sagte der Wirtschafterin, er müsse noch einmal nach La Morne hinüber, um mit dem Pächter einige notwendige Abmachungen zu treffen.

      Er kam weder nach La Morne, noch kehrte er in seine Wohnung zurück. Am andern Morgen sah die Frau eines Schneiders aus dem Dorfe Aveyron seine Leiche in einer untiefen Stelle des Flusses liegen, rannte nach Rhodez und holte Leute herbei.

      Die felsige Böschung der Ufer war an jener Stelle senkrecht und über zwölf Meter hoch. Von dem schmalen Fußpfad, der aus Rhodez gegen die Weinberge führte, war ein großes Stück losgebröckelt; kein Zweifel, daß der unglückliche Mann dadurch in die Tiefe gestürzt war. Es hatte am Tage zuvor heftig geregnet, und das Erdreich oben war, nach dem Zeugnis einiger Winzer, schon längst locker gewesen. Auffallend erschien eine tief einschneidende Rißwunde am Hals des Toten; da aber aus dem Gestein des Abhangs überall scharfe schiefrige Platten hervorragten, erklärte sich eine solche Verletzung von selbst. Bei der Untersuchung der steilen Wand wurden keine Blutspuren an Stein und Erde gefunden; der Regen hatte alles abgewaschen.

      Die Kunde des Ereignisses verbreitete sich rasch, und den ganzen Tag über standen fortwährend zwei bis dreihundert Rhodezer, Männer, Weiber und Kinder, an beiden Ufern und starrten mit einem Ausdruck der Lüsternheit und des selbstgeschaffenen Gruselns in die Tiefe der Schlucht. Es wurde erwogen, ob nicht etwa ein Irrlicht den alten Mann verführt habe. Eine Frau wollte mit einem Hirten gesprochen und dieser Hirt wollte einen Hilferuf vernommen haben; allerdings war das schon gegen Mitternacht gewesen und Fualdes hatte um acht Uhr das Haus verlassen. Ein dicker Töpfer bestritt, daß die Finsternis so dicht gewesen sei wie alle glaubten; er selbst sei um neun Uhr von La Valette her über die Felder gegangen und da habe der Mond geschienen. Ihn wies der Zollaufseher unwillig zurecht und bedeutete ihm, daß gerade gestern Neumond gewesen sei, man brauche ja nur den Kalender aufzuschlagen. Jener zuckte die Achseln, als wolle er sagen, in solchen Zeitläuften sei sogar dem Kalender nicht zu trauen.

      Um die Dämmerungsstunde wanderten die Leute heimwärts, paarweise und in Gruppen, bald plaudernd, bald schweigend, bald streitend, bald geheimnistuerisch flüsternd. So wie argwöhnisch gemachte Hunde immer um dieselbe Stelle im Kreis herumrennen, schnappte ihre hungrige Begier nach neuer Erregung. Sie spähten mit aufmerksamen Augen vor sich hin, sie vernahmen mit wacheren Ohren jedes gesprochene Wort. Manche blickten einander mißtrauisch von der Seite an; wer Geld liegen hatte, versperrte seine Tür und überzählte es. Abends in den Weinkneipen wurde von den ungeheuern Reichtümer erzählt, die der geizige Fualdes im Lauf der Jahre aufgestapelt; das Gut La Morne habe er nur deswegen verkauft, weil er Scheu getragen, den Pächter Grammont, der sein Neffe war, mit den Rechtsmitteln zur Bezahlung der seit zwei Jahren fälligen Pachtsumme zu zwingen.

      Das geredete Wort blieb lauernd auf der Lippe stehen und riß ein noch halbgedachtes mit. Unter den Bürgern galt es als eine ausgemachte Sache, daß Fualdes, der liberale Protestant, der ehemalige Beamte des Kaiserreichs, mit Drohungen gegen sein Leben verfolgt worden sei. Die verdüsterten Gedanken spannen emsig an dem Gespinst der Furcht. Die noch an einen Unfall glaubten, verschwiegen ihre Gründe, sie mußten sich hüten, daß nicht Verdacht auf sie falle. Schon wurde eine Reihe von Verbündeten bezeichnet, der feindlichen, drohenden, übermütig gewordenen Partei der Legitimisten entstammend. Der dunkle Haß deutete auf die Jesuiten und ihre Millionen als Urheber der ungewissen Tat. Wie oft hatte die Gerechtigkeit gezaudert, wenn die Macht der Mächtigen den Verbrecher beschirmte!

      Die Frühlingssonne des nächsten Tages leuchtete in gespannte, aufgewühlte, suchende, zu langsamer Wildheit sich entflammende Gesichter. Die Royalisten fingen an, um Hab und Gut besorgt zu werden; um sich zu schützen, auch angesteckt vom allgemeinen Schauder, den das Unbekannte ausströmte, gaben sie zu, daß ein Frevel geschehen sei. Aber wie? und wo? und durch wen?

      Ein Schuster hat gewöhnlich ein besseres Gedächtnis und einen geschäftigeren Geist als andere Leute. Der Schuster Escarboeuf pflegte bisweilen in der Versperstunde seine Nachbarn und Getreuen um sich zu versammeln. Er erinnerte sich genau dessen, was der Doktor beim Leichenbefund gesagt hatte; er war daneben gestanden und hatte es Silbe für Silbe gehört. »Das sieht ja beinahe aus, als ob der Mann geschlachtet worden wäre«; dies waren die verwunderten Worte des Doktors gewesen, während er die Verletzung am Hals untersucht hatte. »Geschlachtet?


Скачать книгу