Auch Zwerge werfen lange Schatten. Karl Kraus

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Auch Zwerge werfen lange Schatten - Karl  Kraus


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eine Frau zu heiraten, die vorher ein Verhältnis gehabt hat. Aber es ist Sitte, mit einer Frau ein Verhältnis zu haben, die vorher geheiratet hat.

      Eine Frau wird doch nicht soviel Rücksicht auf die Gesellschaft nehmen, dass sie den Ehebruch immer begeht, den ihr die Leute nachsagen?

      Das ist der Triumph der Sittlichkeit: Ein Dieb, der in ein Schlafzimmer gedrungen ist, behauptet, sein Schamgefühl sei verletzt worden, und erpresst durch Drohung mit der Anzeige wegen Unsittlichkeit die Unterlassung der Anzeige wegen Einbruchs.

      Die Moral ist ein Einbruchswerkzeug, welches den Vorzug hat, dass es nie am Tatort zurückgelassen wird.

      So will es die Gesellschaftsordnung: Wenn irgendwo ein Mord geschehen ist, wo zwei Leute auch zu einem Geschlechtsakt zusammengetroffen sind, so werden sie lieber den Verdacht des Mordes ertragen als den des Geschlechtsverkehrs.

      Die Sitte verlangt, dass ein Lustmörder den Mord zugebe, aber nicht die Lust.

      Die Unzucht mit Tieren ist verboten, das Schlachten von Tieren ist erlaubt. Aber hat man noch nicht bedacht, dass es ein Lustmord sein könnte?

      Die Unsittlichkeit kommt an den Tag und wirkt dennoch nicht abschreckend. Umso betrüblicher ist es, dass die Sittlichkeit, die im Staate waltet, nicht enthüllt wird und darum nicht vorbildlich wirken kann. Wenn man sie nicht hin und wieder in Form der Erpressung zu spüren bekäme, man wüsste rein nicht, dass sie auf der Welt ist.

      Auf die Frage, ob er denn wisse, was „unschicklich“ sei, hat einmal ein kleiner Junge geantwortet: „Unschicklich ist, wenn jemand dabei ist.“ Und der erwachsene Gesetzgeber möchte immer dabei sein!

      Enthaltsamkeit rächt sich immer. Bei dem einen erzeugt sie Pusteln, beim andern Sexualgesetze.

       Sittlichkeit und Kriminalität

      Wir können ruhig schlafen,

      weil man ins freie Feld der Lust

      den Paragrafen

      als Vogelscheuche stellt.

      Doch Warnung lockt den Flieger,

      die Scheuche schreckt den Schlaf;

      die Lust bleibt immer Sieger,

      ihr Schmuck der Paragraf!

      Es wäre eine interessante Statistik: Wie viel Leute durch Verbote dazu gebracht werden, sie zu übertreten. Wie viel Taten die Folgen der Strafen sind. Interessant wäre es, zu erfahren, ob mehr Kinderschändungen trotz oder wegen der Altersgrenze begangen werden.

      Keine Grenze verlockt mehr zum Schmuggeln als die Altersgrenze.

      Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.

      Ein Sittlichkeitsprozess ist die zielbewusste Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.

      Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.

      Die Sittenpolizei macht sich der Einmischung durch eine Amtshandlung schuldig.

      Sie richten, damit sie nicht gerichtet werden.

       Reinigung

      Verachtung der Prostitution?

      Die Huren schlimmer als Diebe?

      Lernt: Liebe nimmt nicht nur Lohn,

      Lohn gibt auch Liebe!

      Weh dem armen Mädchen, das auf dem Pfade des Lasters strauchelt!

      Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen, auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu beseitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei ungefährlich, wenn sie unter allen Kautelen der theologischen Wissenschaft durchgeführt werde.

      Es ist höchste Zeit, dass die Kinder die Eltern über die Geheimnisse des Geschlechtslebens aufklären.

      Zum Teufel mit dem Geschwätz über die sexuelle Aufklärung der Jugend! Sie erfolgt noch immer besser durch den Mitschüler, der im Lesebuch das Wort »Floren« anstreicht, als durch den Lehrer, der die Sache als eine staatliche Einrichtung erklärt, die so wichtig sei und so kompliziert wie das Steuerzahlen.

      Die Liebe als Naturwissenschaft! Das Verbot der Lust bleibt aufrecht, und nun wird uns auch die Romantik des Verbots verboten. Wir aber bitten: Wenn schon Christentum, dann lieber mit Weihrauch, Orgelklängen und Dunkel! Da bietet die Kirche etwas Ersatz für das, was sie nimmt.

      Jedes Gespräch über das Geschlecht ist eine geschlechtliche Handlung. Den Vater, der seinen Sohn aufklärt, dieses Ideal der Aufklärung, umgibt eine Aura von Blutschande.

      Nur wer ein Problem nicht durchlebt hat, wird imstande sein, einen Leitartikel daraus zu machen. Aber gegen jene unerschrockene Jugend, die heute auf dem Marktplatz Sexualfreiheit rekommandiert, muss man die Eltern und Lehrer in Schutz nehmen. Ihre Lebensfremdheit ist erlebt.

      Der Unmoralprotz ist dem Moralprotzen verwandter als die Unmoral der


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