Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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Was wuss­te er von all die­sen Rück­sich­ten? Er ver­stand die gan­ze sitt­li­che Ent­rüs­tung nicht. Und doch heg­te er eine so tie­fe Ver­ach­tung sei­ner Ver­gan­gen­heit, dass er sei­ne An­sich­ten und An­schau­un­gen, die sich von je­ner Ver­gan­gen­heit doch nicht ganz los­ma­chen konn­ten, im vor­hin­ein für falsch und ge­mein hielt. Sein ei­ge­nes Ur­teil kas­sier­te er ohne zu zau­dern vor dem Ur­teil der ver­nünf­ti­gen, tu­gend­stol­zen Bür­ger, die nie um das täg­li­che Brot hat­ten tan­zen oder um einen lum­pi­gen Vor­schuss bei ei­nem lum­pi­gen Di­rek­tor hat­ten krie­chen müs­sen. Rosa muss­te fort, das war ge­wiss, und ne­ben dem Schmerz über die be­vor­ste­hen­de Tren­nung emp­fand Herr Herz auch leb­haf­te Furcht vor sei­ner Toch­ter. Wie soll­te er ihr sei­nen Ent­schluss mit­tei­len? Ab­ge­spannt, trau­rig, hung­rig und müde kehr­te er nach Hau­se zu­rück.

      Rosa saß in der Fens­ter­ni­sche des Wohn­zim­mers und näh­te. Sie trug ihr blau­es Sonn­tags­kleid; die Haa­re hin­gen nicht wie sonst über den Rücken nie­der, son­dern wa­ren auf­ge­steckt und mit ei­nem blau­en Ban­de ge­schmückt, das Herr Herz noch nicht kann­te, und wie sie ru­hig auf ihre Ar­beit nie­der­ge­beugt da­saß, er­schi­en sie ih­rem Va­ter schö­ner und äl­ter als sonst. Das war nicht mehr Rosa, das Kind. Über die­ser blon­den Ge­stalt lag eine erns­te Jung­fräu­lich­keit, die den Bal­let­tän­zer über­rasch­te und ein­schüch­ter­te; er wag­te nicht so recht mit sei­nem Be­richt her­aus­zu­rück­en und ging un­s­tet im Zim­mer auf und ab. Rosa näh­te fort, als be­merk­te sie die Auf­re­gung ih­res Va­ters gar nicht. End­lich, als sie einen Fa­den über die Wachs­rol­le zog, blick­te sie mit ru­hi­gen, kla­ren Au­gen auf und frag­te: »Nun?«

      Herr Herz blieb ste­hen, zuck­te die Ach­seln: »Es ist noch nichts aus­ge­macht. Das heißt, ich muss zu­se­hen…«

      »Wen hast du ge­spro­chen?«

      »Alle Welt, La­nin, Klappe­kahl. Mein Gott, wo bin ich nicht al­les ge­we­sen!«

      »Was sag­ten sie?« – Herr Herz fand sei­ne Toch­ter zu ge­sam­melt, zu ru­hig, das ver­wirr­te ihn. »Ge­sagt ha­ben sie ge­nug. Aber – was! Schließ­lich ist es auch gleich­gül­tig, was sie ge­sagt ha­ben. Wir wer­den uns schon selbst hel­fen.«

      »Reist Am­bro­si­us ab?«

      »Ja – mor­gen; La­nin sagt das we­nigs­tens.«

      »Und sie wol­len alle, ich soll nach Russ­land fort?«

      »Ja – sie ha­ben alle da­von ge­spro­chen.« Die schma­len, tro­ckenen Lip­pen des al­ten Man­nes beb­ten. »Und, lie­bes Kind, was kann ich tun? Wenn die schlech­ten Leu­te dich hier quä­len, wenn sie dir das Le­ben un­mög­lich ma­chen – – nimm Ver­nunft an – Rosa – Kind.« Jetzt wein­te er. »Du musst viel­leicht doch fort.«

      Still hör­te Rosa zu, nur ein we­nig blei­cher wur­de sie. Jetzt biss sie ener­gisch das Ende ei­nes Fa­dens ab, um ihn in die Na­del zu fä­deln, und sag­te lei­se: »Gut, ich wer­de ge­hen.« Dann näh­te sie.

      Ver­blüfft schau­te Herr Herz sein Kind an. Was war denn pas­siert? Die blas­se, er­ge­be­ne Rosa ward ihm un­heim­lich; er ver­stand sie nicht mehr. Al­les gab sie auf und woll­te ge­hen?

      Ag­nes Stock­mai­er kün­dig­te mit Gra­bes­s­tim­me an, die Sup­pe war­te. Rosa fal­te­te ihre Ar­beit zu­sam­men, glät­te­te sich mit den Hand­flä­chen das Haar und trat zu ih­rem Va­ter: »Komm«, sag­te sie und um­schlang ihn; »sei nicht be­trübt, es wird al­les gut wer­den.« Da­bei lä­chel­te sie ein so ver­stän­di­ges, tröst­li­ches Lä­cheln, dass es dem al­ten Bal­let­tän­zer warm ums Herz wur­de und er be­wun­dernd zu sei­ner Toch­ter sag­te: »Weißt du, Kind, wie du heu­te aus­schaust? Wie eine Ma­don­na.«

      Siebzehntes Kapitel

      Die Über­zeu­gung, dass al­les gut wer­den wür­de, hat­te sich Rosa nicht ohne Kampf er­run­gen. Mit­ten in der Nacht war sie end­lich zur Klar­heit, wie sie mein­te, über ihre Lage und zu ei­nem fes­ten Ent­schluss ge­langt.

      Wäh­rend es rings­um still und fins­ter war und nur die Turm­uhr des Gym­na­si­ums ihr me­lan­cho­li­sches Bim­bam her­über­sand­te, hat­ten Furcht und Ver­zagt­heit Rosa er­grif­fen; Am­bro­si­us wird sie doch ver­las­sen. Die Schank und Lan­ins wer­den doch recht be­hal­ten, und al­les – al­les wird vor­über sein! Ihr Le­ben ge­stal­tet sich dann noch lee­rer und qual­vol­ler. Sie wird ver­ach­tet, ver­spot­tet. Nie­mand geht mit ihr um. Oder sie muss fort – in die Frem­de – muss Kin­der spa­zie­ren­füh­ren und wa­schen. O nein! Nie!

      Angst­voll saß Rosa in ih­rem Bet­te auf. Sie konn­te nicht so ohne wei­te­res ihre Hoff­nun­gen fah­ren­las­sen. End­lich muss­ten doch auch die Fest­ta­ge ih­res Le­bens kom­men! Wie­der zu den un­kla­ren, schwer­mü­ti­gen Träu­me­rei­en ei­nes ar­men Mäd­chens zu­rück­keh­ren, sich wie­der un­ter die Sit­ten­re­geln der Schank beu­gen; wie­der im­mer nur an­de­re be­nei­den, nur heim­lich wün­schen, das konn­te sie nicht. Al­les, was sich in ei­ner jun­gen See­le nach Ge­nuss sehnt, koch­te in Rosa auf. Fie­bernd und wei­nend bohr­te sie ih­ren Kopf in die Kis­sen und stöhn­te: »Amby – Amby!« Das arme Kind hielt Am­bro­si­us für die Ver­kör­pe­rung ih­res Glückes, für den Tür­hü­ter ih­res Pa­ra­die­ses. Mit ihm stand und fiel das Glück. – Er woll­te fort? – Gut, sie auch. Er lieb­te sie ja; er hat­te es ihr ver­spro­chen, sie in eine große Stadt zu brin­gen. Dort durf­te nie­mand sie stö­ren, dort – dort – wür­de das große, schö­ne, ein­zig ih­rer wür­di­ge Le­ben ih­nen weit die Tore öff­nen. Das war es! Der ein­zi­ge Aus­weg war ge­fun­den, und nun ar­bei­te­te sie ih­ren Plan aus. Ganz ge­nau; nichts ward ver­ges­sen. Die Rede, die sie Am­bro­si­us hal­ten woll­te, die Vor­wän­de, un­ter de­nen sie, am Abend der Flucht, den Va­ter ent­fer­nen wür­de, die Klei­der, die mit­zu­neh­men wa­ren – den Brief, den ihr Va­ter am Mor­gen nach der Flucht in ih­rem Zim­mer fin­den soll­te. – Al­les über­dach­te sie, und als die Son­ne ins Zim­mer schi­en, er­hob sich Rosa, nach der schlaflo­sen Nacht bleich und müde, aber ru­hig und ent­schlos­sen. Sie be­stell­te Am­bro­si­us für den Abend zum Tröd­ler. »Es hängt al­les da­von ab, dass ich dich heu­te sehe«, schrieb sie…

      Um die Zeit des Son­nen­un­ter­gan­ges ging Rosa fort. »Blei­be we­nigs­tens nicht zu lan­ge aus!« rief ihr Ag­nes nach. – We­nigs­tens! Das ver­droß Rosa. Es war wohl an der Zeit ab­zu­rei­sen; alle, selbst Ag­nes, ver­letz­ten sie und sag­ten ihr un­an­ge­neh­me Din­ge. – Von der Herz­schen Woh­nung bis zum Tröd­ler war es nicht weit, nur eine Stra­ße brauch­te man hin­ab­zu­ge­hen – und doch! – wie­viel Wi­der­wär­ti­ges sich auf solch ei­nem klei­nen Stück Weg er­eig­nen kann! Als Rosa aus dem Hau­se trat, ging der Se­kre­tär Fei­er­gro­schen an ihr vor­über.

      Er blieb ste­hen, lä­chel­te süß und sag­te »Gu­ten Abend«. Da­bei wink­te er mit der fla­chen Hand einen Gruß und nahm den Hut nicht ab.

      »Eine Un­ver­schämt­heit«, sag­te sich Rosa und dank­te nicht für den Gruß. Kaum war sie we­ni­ge Schrit­te ge­gan­gen, als La­nin und Klappe­kahl ihr ent­ge­gen ka­men; sie rich­te­te sich stramm auf, biss sich auf die Un­ter­lip­pe und mach­te ihr hoch­mü­ti­ges Ge­sicht. Die Her­ren wa­ren in ihr Ge­spräch ver­tieft und schri­en laut; als Rosa aber an ih­nen vor­über­ging, schwie­gen sie plötz­lich; Klappe­kahl wand­te sich ab und sag­te ein ge­dehn­tes Ja, das nicht zur Sa­che zu ge­hö­ren schi­en, La­nin aber sah das Mäd­chen scharf an und grüß­te nicht. Rosa ward rot


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