Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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– et­was, über das man er­rö­tet, von dem man schweigt, das ei­nem aber den­noch mit selt­sa­mem Rück­ver­lan­gen das Blut er­hitzt.

      Am­bro­si­us gab Rosa die nö­ti­gen Ver­hal­tungs­maß­re­geln für den Abend. Um neun Uhr soll­te Ida an der Hin­ter­trep­pe der Herz­schen Woh­nung Ro­sas klei­nen Hand­kof­fer in Empfang neh­men. Rosa selbst soll­te – auf ei­nem an­de­ren Wege als Ida – sich durch den Stadt­gar­ten zur Brücke be­ge­ben, und in der Nähe des Brücken­kru­ges woll­te Am­bro­si­us mit dem Wa­gen sie er­war­ten. Der Plan war ein­fach ge­nug. »Und dann, Amby – kön­nen wir end­lich fort«, rief Rosa in der lei­den­schaft­lich of­fe­nen Freu­de ei­nes Kin­des, dem man ein längst ver­spro­che­nes Ver­gnü­gen end­lich ge­währt. So schie­den sie, um sich erst am Abend beim Brücken­kru­ge wie­der­zu­se­hen.

      Da der Vor­mit­tag noch lang war, be­schloss Rosa, einen Gang durch die Stadt zu ma­chen – zum letz­ten Mal – das ge­hört sich so. Die Ta­ges­zeit war güns­tig, denn eben erst hat­ten die Kir­chen­glo­cken den Got­tes­dienst ein­ge­läu­tet. Nicht als ob Rosa sich vor ei­ner Be­geg­nung mit Sal­ly oder Er­nes­ti­ne Klappe­kahl ge­fürch­tet hät­te! Nein! Will man aber Ab­schied von sei­ner Hei­mat neh­men, so be­darf man der Ein­sam­keit, nicht wahr?

      Die Stra­ßen und der Markt­platz wa­ren leer, wie stets zur Kir­chen­zeit, nur in der Fer­ne sah Rosa das alte Fräu­lein Kat­ter ein­her­trip­peln; ihr At­las­man­tel glänz­te in der Son­ne, der Dachs folg­te ihr – breit­bei­nig und ver­stimmt – ab und zu die Nase in die Gos­se ste­ckend. Sie hat­ten sich heu­te bei­de mit dem Kirch­gang ver­spä­tet.

      Die große, gelb an­ge­stri­che­ne Türe des Lan­in­schen La­dens war ge­sperrt, selbst der Mohr auf dem Schil­de da­vor schi­en zu schlum­mern. Oh, welch eine ver­ächt­lich blö­de Träg­heit brü­te­te über die­sem Hau­se. Rosa konn­te es sich deut­lich vor­stel­len, wie es dort heu­te zu­ge­hen wür­de: Die Zim­mer vol­ler Sup­pen­ge­ruch – Herr La­nin voll fa­der Ge­schich­ten, Frau La­nin mit ih­rem lan­gen, wei­chen Mun­de be­stän­dig gäh­nend – und Sal­ly – – mein Gott, die Arme! Und wäh­rend Rosa vor die­sem Hau­se stand, stieg wie­der die Freu­de – groß und un­ru­hig in ihr auf. Sie brauch­te die­ses Le­ben nicht mehr zu tei­len.

      Sie ging wei­ter – über­all die­sel­be Stil­le. Die Häu­ser wa­ren wohl­ver­schlos­sen und wie aus­ge­stor­ben, nur in den Kü­chen hör­te man es klap­pern, oder hier und da stand eine Dienst­magd, die das Haus be­wa­chen soll­te, un­ter dem Hof­tor, die Haa­re feucht an die Schlä­fen ge­kämmt, das Ka­mi­sol frisch ge­wa­schen, und sprach mit ei­nem Bur­schen. Die klei­nen Er­eig­nis­se, die sich in der Stil­le der Kir­chen­zeit ab­spie­len, das Ki­chern un­ter den To­ren, das heim­li­che, ver­gnüg­te Trei­ben un­be­auf­sich­tig­ter Dienst­bo­ten und Kin­der hat­ten Rosa frü­her, wenn sie sich auf dem Gan­ge in die Kir­che ver­spä­te­te, ein neu­gie­ri­ges In­ter­es­se ein­ge­flö­ßt. Heu­te kam plötz­lich ein wun­der­li­ches Ver­ste­hen über sie, das sie quäl­te und ihr miss­fiel. Die­se di­cken, hoch­bu­si­gen Mäg­de, die­se plum­pen, un­rein­li­chen Bur­schen, sie hat­ten zwi­schen Kes­sel und Pfan­ne, zwi­schen Kohl­strün­ken und Salat­blät­tern ihre Lie­bes­ge­schich­ten. Rosa be­griff nun, was sie woll­ten, was sie trie­ben, und es schi­en ihr, als wür­de ihr ei­ge­nes Schick­sal da­durch ent­weiht. Die­ses auf­dring­li­che Klar­se­hen mach­te sie trau­rig; sie seufz­te; sie hat­te sich man­ches doch schö­ner ge­dacht!

      In den ent­leg­ne­ren Stadt­tei­len – am Fluss – sah es we­ni­ger fei­er­täg­lich aus. Die ar­men Leu­te hat­ten noch nicht Zeit ge­fun­den, ihre gu­ten Klei­der an­zu­le­gen. Frau­en mit un­ge­kämm­tem, wirr auf das miss­mu­ti­ge Ge­sicht her­ab­hän­gen­dem Haar stan­den in den en­gen Ho­fräu­men und wu­schen Er­däp­fel oder Salat. Nack­te Kin­der spran­gen zwi­schen den Schwei­nen und Hüh­nern um­her. Hin­ter den mor­schen Bret­ter­zäu­nen lang­ten küm­mer­li­che Ap­fel­bäu­me mit ih­rem ecki­gen Ge­zwei­ge auf die Stra­ße hin­aus. Wei­ter hin­ab wur­den die Häu­ser sel­te­ner. Kar­tof­fel­fel­der und Wei­de­land zo­gen sich am Flus­sufer hin; ma­ge­re Pfer­de stan­den dort; die Hufe tief im ro­ten Hei­de­kraut, hiel­ten sie im Gra­sen inne und nick­ten sin­nend mit den Köp­fen. Am Ran­de des steil ab­fal­len­den Ufers woll­te Rosa aus­ru­hen; sie leg­te sich nie­der, den Leib im Gra­se, mit den Fü­ßen in der Luft um­her­schla­gend, den Kopf in die Hän­de ge­stützt, und biss an ei­nem Halm. Un­ten lag der Son­nen­schein, ein blan­kes Zit­tern auf dem träg rin­nen­den Was­ser des Flus­ses.

      Rosa blick­te dem Rin­nen des Was­sers nach. Kla­re, fest­um­ris­se­ne Ge­dan­ken woll­ten in ih­rem Kop­fe nicht mehr stand­hal­ten, nur ein woh­li­ges Auf- und Ab­flu­ten von Bil­dern und Emp­fin­dun­gen reg­te sich in ihr. Sie ka­men und bra­chen wie­der ab, wie das Gei­gen der Feld­gril­len rings­um im Gra­se – und es lag über ih­nen ich weiß nicht welch un­kla­re Trau­rig­keit, die einen selt­sa­men Frie­den in sich barg. Die Er­eig­nis­se der letz­ten Tage, die­ses be­stän­di­ge sich selbst Mut zu­spre­chen, das Rin­gen mit un­an­ge­neh­men Ge­dan­ken hat­ten Rosa müde ge­macht, das fühl­te sie plötz­lich. Hier, am warm be­schie­ne­nen Ab­hange, kam eine läh­men­de Er­schlaf­fung über sie, die Kraft fehl­te ihr, ab­zu­weh­ren, fest­zu­hal­ten, sie muss­te die Hän­de in den Schoß le­gen und ach­sel­zu­ckend sa­gen: »Es gehe, wie es geht.«

      Wie das nur al­les so kom­men konn­te. Un­merk­lich war es her­an­ge­kro­chen – nun war es da. Na­tür­lich muss­te es so sein! Aber noch stand es fremd vor ihr wie et­was, an dem sie nicht teil­hat­te – sie, die fried­li­che Schank­sche Schü­le­rin, die je­den Mor­gen ihre große Map­pe durch die Schul­stra­ße ge­schleppt hat­te. Rosa Herz, die nie die fran­zö­si­schen Fa­beln her­sa­gen konn­te und vor dem be­vor­ste­hen­den Gou­ver­nan­tenex­amen zit­ter­te, Rosa, die stun­den­lang zum Fens­ter hin­aus­schau­te und sich über das Ge­ki­cher auf dem Kir­chen­platz ihre kin­di­schen Ge­dan­ken mach­te, die sich um zehn Uhr nie­der­leg­te und vom Bett aus das schrä­ge, mond­be­glänz­te Dach des Pfarr­hau­ses an­starr­te, bis ihr die Au­gen zu­fie­len, die­se ganz ge­wöhn­li­che Rosa lieb­te nun und ward ge­liebt; die­se Rosa war jetzt die Per­son, vor der die Leu­te, die sie so gut kann­te wie ihr Werk­tags­kleid, ein Kreuz schlu­gen. Fräu­lein Kat­ter, der Dok­tor, Er­nes­ti­ne, sie hiel­ten sie für ein schlech­tes Mäd­chen, mit dem man nicht spre­chen darf. Sie war das ver­führ­te Mäd­chen; ver­führt – die­ses Wort, das sie frü­her nicht aus­spre­chen durf­te, weil es un­pas­send war, nun ge­hör­te es zu ihr, sie war jetzt eine un­pas­sen­de Per­son. Was wohl Ma­ri­an­ne dar­über den­ken moch­te? Und ob sie in der Schu­le nur ganz heim­lich von Rosa spre­chen durf­ten, wie man sich sonst die dum­men Ge­schich­ten er­zähl­te, über die man er­rö­te­te und ki­cher­te? Rosa drück­te die Au­gen­li­der zu­sam­men und wieg­te ih­ren Kopf schläf­rig hin und her. Sie gräm­te sich über die­se Din­ge nicht, aber auch die Freu­de, in die sie sich hin­ein­ge­re­det hat­te, war fort. Wer so da­lie­gen könn­te und ab­war­ten. Es fließt ja doch vor­über, wie dort un­ten, im­mer zu, man braucht nur stil­le­zu­hal­ten. Dem mü­den Mäd­chen ge­fiel die­ser Ge­dan­ke. Die läs­ti­ge Ar­beit, selbst am Le­ben mit­zu­wir­ken, schi­en un­nö­tig, es fließt ja oh­ne­hin vor­über! Im traum­haf­ten Durchein­an­der­wo­gen der Vor­stel­lun­gen folg­te Rosa mit den Bli­cken dem Strom, als ge­hö­re er zu ihr, als hin­ge für sie et­was von dem Rin­nen die­ses Was­sers ab – fort – die Ufer ent­lang, an dem großen Stein hin, wo klei­ne


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