Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
Читать онлайн книгу.Ohne deutliches Traumbild hatte sie doch das Gefühl gehabt, als lege sie mühelos ein beträchtliches Stück Leben zurück, sie ward eben mit fortgetragen. Jetzt, aus diesem Traumweben herausgerissen, schaute sie erstaunt um sich. Derselbe eintönige Singsang der Grillen, dasselbe sachte, zitternde Licht auf dem Abhange, derselbe verhängnisvolle Tag, den sie im Traum längst überstanden hatte, wartete auf sie. Mutlos ließ Rosa die Hände in das Gras sinken. Sie fühlte sich zu träge, ihre Geschichte von neuem aufzunehmen.
Früher, wenn sie ihre Schulaufgaben des Abends nicht beenden konnte, ließ sie sich von Agnes am nächsten Morgen ganz früh wecken, um das Versäumte nachzuholen. Wenn aber Agnes in der dunklen Winterfrühe an Rosas Bett trat und sie aufrüttelte, dann erschien ihr der Schlaf das höchste Gut. »Agnes«, flehte sie, »lass mich nur noch fünf Minuten schlafen.« Oh, diese kostbare Frist! Aber das Gewissen regte sich doch. Es träumte Rosa, sie verließ das Bett, kleidete sich an, begann den französischen Aufsatz zu schreiben. Wie leicht das ging! Jetzt war er fertig! »Rosa steh auf! Du bringst sonst den Aufsatz bis acht Uhr nicht fertig«, tönte Agnes’ Stimme in den schönen Traum hinein, denn nur Traum war es gewesen; das mühselige Aufstehen, das Frieren vor der Waschschüssel standen noch bevor; der ganze Aufsatz war noch zu schreiben!
An diese trüben Morgenstunden musste Rosa denken, und sie lächelte; die Schule und ihre Qual waren jedoch für immer vorüber. Sie sprang auf, der Abschied von der Heimat hatte sie weich gestimmt, das war hübsch und natürlich, nun war es aber auch genug. Die Freude an ihrer Liebe, ihrem bunten Schicksal wollte sie sich nicht verkümmern lassen. So wie es war, war es gut; so hatte sie es sich gewünscht. Sie war fest entschlossen, glücklich zu sein. Jeder Zweifel, der in ihr aufstieg, ward gewaltsam niedergedrückt. Sie wollte nicht enttäuscht und elend sein! – – –
Auf dem Marktplatze vor dem Laninschen Hause standen Fräulein Klappekahl und Fräulein Lanin in ihren schönen Sonntagskleidern und mit ihren neuen Herbsthüten. Sally faltete die Hände über dem schwarzen Gesangbuch und schüttelte im Eifer des Gesprächs die Locken. »Die heutige Predigt hat mir so recht das Herz aufgewühlt«, sagte sie, gewiss; wie oft hatte sie das nicht schon zu Rosa gesagt – dort an derselben Ecke!
Als Rosa an ihnen steif und hochmütig vorüberging, schlug Sally die Augen nieder, drückte das Gesangbuch fest an den Busen und sagte sehr laut: »Armes, verlornes Schaf!« Ernestine Klappekahl aber wandte ihren Blick von Rosa nicht ab. Rosa freute sich darüber. Hatte sie es doch selbst erfahren, mit welch heißem Interesse man aus dem Gefängnis bürgerlicher Zucht herausschaut auf alles, an dem etwas von den verbotenen, furchtbaren Dingen hängen mag, an die ein ordentliches Mädchen nicht denken darf. Ja – die lange dünne Ernestine beneidete das verlorene Schaf.
Zu Hause fand Rosa ihren Vater bleich und kummervoll im Lehnstuhl sitzen. Das verdroß sie; fasste er denn die Sache noch immer nicht richtig auf? Missmutig warf sie sich in einen Sessel und schlug mit den Handflächen auf die Armlehnen. »Ich habe also heute mit der Schank gesprochen«, bemerkte Herr Herz schüchtern.
»So!« erwiderte Rosa gleichgültig, dann aber erhob sie sich plötzlich; sie durfte diese jammervolle Stimmung nicht andauern lassen. Sie kniete bei ihrem Vater nieder, stützte ihren Kopf auf sein Knie und begann zu sprechen: »Weißt du, Papa, heute reden wir nicht davon. Morgen ist Montag, das ist ohnehin ein widerwärtiger Tag. Da können wir über die dummen Geschichten sprechen. Heute möchte ich Ruhe haben.«
»Gewiss, mein Kind!« erwiderte Herr Herz schnell. »Ich habe dich nicht quälen wollen; meiner Kleinen wehtun – ich – das wär kurios!« Er lachte, wie über einen lustigen, widersinnigen Einfall. »Heute also lassen wir das alles; was haben wir denn für Eile? Heute bleiben wir gemütlich beieinander – hier – in unserer Festung.« Er streichelte die Hände seiner Tochter und schaute sie liebevoll an. Ach, dass das Leben solch ein zuwidres, hartes Ding ist und selbst so schönen Wesen wie seiner Rosa die leidigen Schmerzen nicht erspart! »Lassen wir’s also gut sein. Heute das Vergnügen, morgen das Geschäft.«
Rosa ward es so weich um das Herz, dass sie am liebsten geweint hätte, das Wort »morgen« jedoch erschreckte sie. »Um Gottes willen, dass dieser schreckliche Montag der Auseinandersetzungen sie nur ja nicht hier findet!« schrie es in ihr auf, und schnellentschlossen sprach sie von der Klappekahlschen Gesellschaft: »Du gehst ja heute zu Klappekahl.«
»Ah so – ja. Klappekahl sprach heute wieder davon. Ich denke aber, ich bleibe zu Hause, wie?«
»Du müsstest doch vielleicht hin«, wandte Rosa ein.
»Warum – Kind? Ich bin nicht in der Stimmung. Bleiben wir beieinander, solange es geht.«
Rosa musste sich abwenden, als sie leise darauf erwiderte: »Besser wäre es doch, du gingst hin. Wir müssen tun, als wäre nichts geschehen.«
Herr Herz verstand seine Tochter nicht recht, er sah aber, wie schwer es ihr ward, ihren Vorschlag vorzubringen, und hätte darum am liebsten gleich alles erraten. »Ja – ja; natürlich! Vielleicht muss ich doch hin. – Nur weiß ich nicht recht… Ich dachte es mir so hübsch, den heutigen Abend mit dir zu verbringen. Wir wären so lustig wie möglich, und ginge es mit der Lustigkeit nicht, so wäre ich doch wenigstens bei dir.« Rosas Augenbrauen zuckten ungeduldig. – »Aber, du meinst – – Nun gut, ich gehe hin.« Er seufzte und machte ein betrübtes Gesicht. Rosa versuchte ihn zu trösten: »Siehst du, wir dürfen nicht tun – als – als – schämten wir uns. Und dann – ich habe heute nacht nicht schlafen können und daher Kopfweh. Ich wollte mich früh niederlegen. Du wärst also doch allein. Morgen aber…« Sie musste schnell ans Fenster gehen und hinausschauen. Nun ward Herr Herz besorgt. Was? Rosa war krank? Natürlich musste sie sich früh niederlegen. Und – wo blieb das Essen? Hunger erhöht das Kopfweh. Er rief nach Agnes, nach der Suppe.
Nach dem Mittagessen brach wieder einer jener stillen Nachmittage an, wie Rosa deren so viele erlebt hatte; der letzte – sagte sich Rosa heute.
Herr Herz schlummerte in seinem Sessel. Goldene Lichter zitterten über die Wand und den Fußboden hin; der Wind schüttelte an den Vorhängen. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Im Stadtgarten spielte die Musik, und zuweilen drang ein lustiges Aufschmettern der Hörner bis in die Herzsche Wohnung. Gegenüber, scharf von dem Rücken des Raserschen Daches abgeschnitten, stand das Stück tiefblauen Himmels, das Rosa stets blauer als der übrige Himmel erschienen war; die Schwalben schossen darüber hin und sandten sich ihre schrillen, lustigfreien Rufe zu.
Rosa lag im Fenster und schaute zu, wie die Leute zum Stadtgarten strömten. Lauter bekannte Gesichter, Menschen, die Rosa von Kindheit