Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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sie sich so ge­freut, mit dem sie die bes­ten Ab­sich­ten ge­habt hat­te, war ihr vor der Nase weg­ge­schnappt wor­den, und zwar auf die schänd­lichs­te Wei­se. Ihr blieb nur ge­sit­te­te Lan­ge­wei­le. Die an­dern – die Schlech­ten hat­ten ihre Lie­bes- und Ent­füh­rungs­ge­schich­ten. Sal­ly konn­te an Rosa nicht ohne ein be­klem­men­des Neid­ge­fühl den­ken. Ihr Va­ter hat­te ja viel­leicht recht, wenn er sag­te, man müs­se sich die Ach­tung vor sich selbst, das Ge­fühl des ei­ge­nen Wer­tes be­wah­ren. Sal­ly kann­te ih­ren ei­ge­nen Wert ganz ge­nau, dass die an­dern ihn aber nicht er­kann­ten, das war bit­ter. Sie woll­te auch so et­was wie die an­dern Mäd­chen ha­ben, um je­den Preis! Sie hät­te es auf die Stra­ße hin­aus­ru­fen mö­gen. Die Stirn ge­gen die Fens­ter­schei­ben ge­drückt, dach­te sie nach. Con­rad Lurch war ent­las­sen wor­den, der Va­ter such­te einen Neu­en. Aber – weiß es Gott, wann der kom­men wür­de, und Sal­ly hat­te Eile.

      Ges­tern bei Klappe­kahl war ge­tanzt wor­den, weil sich, wie der Apo­the­ker sag­te, zu­fäl­lig doch ei­ni­ge jun­ge Leu­te zu­sam­men­ge­fun­den hat­ten, und mit Sal­ly hat­te Tod­dels auf­fal­lend häu­fig ge­tanzt. Ge­wiss, es war auf­fal­lend ge­we­sen, das gab selbst Er­nes­ti­ne zu, und die fand doch sonst nicht so leicht, dass je­mand an­de­rer als sie aus­ge­zeich­net wur­de. Und dann wäh­rend der Qua­dril­le hat­te Tod­dels die Au­gen so selt­sam in­nig ver­dreht. Er ver­dreh­te zwar im­mer die Au­gen, aber doch nicht so stark. Sich ver­nei­gend, hat­te Tod­dels ge­sagt: »Fräu­lein Sal­ly, Sie kom­men nie mehr zu uns ins Ge­schäft. Sie kau­fen nie mehr bei uns.« Worauf Sal­ly, den Kopf auf die Schul­ter nei­gend, wie sie das so hübsch ver­stand, geant­wor­tet hat­te: »Nein! Es macht sich nicht so. Ich weiß selbst nicht warum.« – Das war doch kei­ne ge­wöhn­li­che Qua­dril­le-Un­ter­hal­tung! Da­hin­ter steck­te mehr, steck­te et­was, das Sal­ly ge­ra­de jetzt her­bei­sehn­te.

      »Ich gehe zu Tod­dels ins Ge­schäft«, be­schloss sie.

      Sorg­sam setz­te sie sich vor dem Spie­gel den Hut auf, fuhr mit der Hand durch die dral­len Löck­chen, da­mit sie ihr frei­er, leb­haf­ter um die Ohren flat­ter­ten, und ihr Ge­sicht ganz nah an das Spie­gel­glas her­an­ste­ckend, mus­ter­te sie ihre Haut, ob nicht über Nacht ei­nes der bos­haft ro­ten Pünkt­chen ge­bo­ren wäre, die sie so sehr hass­te. Na­tür­lich, oben an der Na­sen­wur­zel sa­ßen ih­rer zwei. »Das ist ein Ekel!« mein­te Sal­ly, wand­te ih­rem Spie­gel­bil­de är­ger­lich den Rücken zu und ging hin­aus.

      Es weh­te eine küh­le, schar­fe Luft. Der Wind jag­te gel­be Herbst­blät­ter durch die Gas­sen. Die stren­ge Klar­heit des Him­mels, das har­te Licht der Son­nen­strah­len, die heu­te nicht wär­men woll­ten, stimm­ten Sal­ly trau­rig. Die Welt er­schi­en ihr lee­rer und ihr ei­ge­nes Le­ben öder als sonst. Ja, ja! Sie muss­te et­was für sich tun, oh, der Win­ter kam mit sei­nen lan­gen, fins­tern Nach­mit­tagen voll un­er­träg­li­cher Lan­ge­wei­le. Der Se­kre­tär ging vor­über und grüß­te. Sal­ly dank­te, neig­te den Kopf, mach­te ei­ni­ge klei­ne Bach­stel­zen­schrit­te. Das tat ihr wohl. Der Gruß, die­ses mäd­chen­haf­te Ver­nei­gen, das ge­wand­te Trip­peln ga­ben ihr ein an­ge­neh­mes Ge­fühl ih­rer jung­fräu­li­chen Rein­heit. So schüch­tern-zier­lich konn­te Rosa Herz si­cher­lich nicht mehr grü­ßen! Sal­ly fing wie­der an, ih­rer Tu­gend froh zu wer­den.

      Das Ge­schäfts­lo­kal des Herrn Pal­tow lag im tiefs­ten Frie­den da; ein lan­ger, schma­ler Raum vol­ler Son­nen­schein. Die großen Stücke blau­er, grü­ner, ro­ter Stof­fe füll­ten die Leis­ten bis zur De­cke hin­auf wie mit ei­ner Stu­fen­fol­ge sanft­ge­färb­ter Schat­ten, aus de­nen hier und da der hel­le Streif ei­nes Mus­sel­ins oder Lei­nen­stückes her­vor­leuch­te­te. Tod­dels schlief, den Kopf auf den La­den­tisch ge­stützt.

      Ver­le­gen blieb Sal­ly an der Türe ste­hen. Auch hier, wo sie das schö­ne Er­eig­nis ih­res Le­bens such­te, fand sie die­sel­be öde, all­täg­li­che Stil­le, der sie im Lan­in­schen Wohn­zim­mer ent­flo­hen war. Ent­täuscht woll­te sie um­keh­ren, als Tod­dels er­wach­te, sich has­tig auf­rich­te­te und ihr, vom Schlaf ein we­nig ent­stellt, zu­lä­chel­te.

      »Oh, Fräu­lein La­nin! Welch sel­te­ne Ehre! Wo­mit kann ich die­nen?«

      Und die Hand zart an die Lip­pen le­gend, gähn­te er dis­kret.

      »Ich stö­re«, sag­te Sal­ly und mach­te ei­ni­ge un­schlüs­si­ge Schrit­te zum La­den­tisch hin. »Ich woll­te nur um einen hal­b­en Me­ter grü­nes Band bit­ten.«

      »Sie, Fräu­lein Sal­ly, kön­nen nie stö­ren«, er­wi­der­te der Kom­mis ga­lant und lang­te eine wei­ße Schach­tel un­ter dem La­den­tisch her­vor, öff­ne­te sie je­doch nicht, son­dern strei­chel­te sanft den De­ckel. »Sie sind recht grau­sam, Fräu­lein!« sag­te er ge­fühl­voll.

      »Ich? Wie­so?« Sal­ly war wie­der im rech­ten Fahr­was­ser der kur­z­en, be­deu­tungs­vol­len Re­dens­ar­ten, bei de­nen man den Kopf zur Sei­te neigt und un­ter den halb nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen­li­dern her­vor­schielt. Das war ihr Fach.

      »Ja – grau­sam«, fuhr Tod­dels fort und schob sich sei­ne Lo­cken zu­recht, die er im Schlaf zer­drückt hat­te. »Denn Sie ha­ben es mich gleich emp­fin­den las­sen, dass Sie mich schla­fend an­ge­trof­fen.« Sal­ly spiel­te nach­denk­lich mit ih­rem Por­te­mon­naie; Tod­dels aber seufz­te, sah zur De­cke em­por – er glaub­te, ent­schuld­bar zu sein. Fräu­lein La­nin ver­stand ihn viel­leicht. Sein Los war nicht glück­lich! O nein! Das ewi­ge Ei­ner­lei sei­ner Be­schäf­ti­gun­gen er­tö­te­te sei­nen Geist. Er lieb­te Li­te­ra­tur und Kunst; er schwärm­te da­für.

      »Be­son­ders Li­te­ra­tur!« schal­te­te Sal­ly ein und ver­such­te den De­ckel der Schach­tel auf­zu­he­ben. Tod­dels’ Hand aber lag fest auf ihm, wäh­rend er selbst aus­ein­an­der­setz­te, wie eng und be­schränkt sein Prin­zi­pal sei – voll klein­li­cher Schi­ka­nen. Wenn Tod­dels um ei­ni­ge Mi­nu­ten zu spät ins Ge­schäft kam, mein Gott – er las die Näch­te hin­durch –, gleich gab es eine Nase. Der ge­fühl­vol­le Mär­ty­rer­ton, in dem er bis­her ge­spro­chen hat­te, ging all­mäh­lich in das lei­se, has­ti­ge Flüs­tern ei­nes Un­ter­ge­be­nen über, der schlecht von sei­nem Herrn spricht. Sal­ly nick­te mit­lei­dig. Ging es ihr denn bes­ser? Ward sie viel­leicht ver­stan­den? Ach, sie be­griff es mit je­dem Tage mehr, dass das Le­ben nur ein Pos­sen­spiel sei! Ja, Tod­dels gab ihr recht. Er war auch Pes­si­mist. Er glaub­te ans Nir­va­na. »Und ich glau­be an die Lie­be«, ver­setz­te Sal­ly und öff­ne­te ihr Por­te­mon­naie. An die Lie­be? Oh, an die glaub­te er auch; na­tür­lich! Er kniff die Au­gen­li­der zu­sam­men und lä­chel­te bei dem sü­ßen Wor­te. »Ja – ja«, sag­te er nach ei­ner klei­nen Pau­se und öff­ne­te müde die Schach­tel. »Grü­nes Band wün­schen Sie, Fräu­lein?«

      »Ja, grün ist mei­ne Lieb­lings­far­be, die Far­be der Hoff­nung«, ver­setz­te Sal­ly und prüf­te mit dem Fin­ger das Band in der Schach­tel.

      »Hoff­nung – na­tür­lich!« ent­geg­ne­te Tod­dels und be­fühl­te auch sei­ner­seits das Band. So stan­den sie über die Schach­tel ge­beugt und wuss­ten nichts rech­tes mehr zu sa­gen.

      End­lich ließ Tod­dels das Band fah­ren, und er fass­te be­hut­sam mit dem drit­ten und Zei­ge­fin­ger Sal­lys küh­le, spit­ze Fin­ger, als näh­me er mit ei­ner Zan­ge ein Stück Zu­cker. Sal­ly über­ließ steif ihre Fin­ger die­ser Zan­ge. Jetzt kam auch für sie die Poe­sie des Le­bens, das fühl­te sie


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