Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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strit­ten. Herr Böhk be­haup­te­te, der Pfar­rer sei ein hoch­nä­si­ger Heuch­ler. Die Leb wi­der­sprach dem, sie zog die Mund­win­kel her­ab und sag­te spitz: »Um den Herrn Pfar­rer zu wür­di­gen, muss man Re­li­gi­on ha­ben, und die hat lei­der nicht je­der.«

      Das Mit­tags­mahl war heu­te reich­lich und fei­er­lich, die Un­ter­hal­tung dreh­te sich da­bei nur um Lei­chen­be­gäng­nis­se, und da­von ver­stand die Leb sehr viel. Rosa moch­te we­der es­sen noch spre­chen. Sie lehn­te den Kopf an die Wand und schloss die Au­gen. Wäh­rend sie so ver­harr­te, sah sie be­stän­dig die Ecke des blau­en Sar­ges un­ten im Gra­be, die wei­ßen Nar­zis­sen und den Son­nen­strahl, der dar­über hin­spiel­te, vor sich, und die­ses Bild er­reg­te in ihr das Ge­fühl tiefs­ter Ein­sam­keit. Sie be­gann sich um ihr Kind zu sor­gen wie um ein le­ben­des. Ver­ge­bens rief sie sich zur Ge­gen­wart zu­rück, sag­te sich: »Das Klei­ne ist tot. Die To­ten lie­gen alle un­ter der Erde – sind alle al­lein«; die Sor­ge ver­ließ sie doch nicht.

      Das Mahl war be­en­det. Gre­the räum­te den Tisch ab; die üb­ri­gen gin­gen in den Gar­ten hin­aus. »Las­sen wir sie al­lein; viel­leicht schläft sie«, flüs­ter­te Frau Böhk.

      Es war schon Abend, als Rosa er­schro­cken vom Sofa auf­fuhr. Das Zim­mer war fins­ter. Ne­ben­an in der Kü­che wur­de ge­spro­chen, aber noch ein an­de­res un­un­ter­bro­che­nes Tö­nen er­füll­te die Luft. Rosa rieb sich die Au­gen. Es war ihr, als hät­te sie et­was ver­säumt, sie dach­te nach. Ein Blitz er­hell­te das Ge­mach, der Don­ner krach­te, dass die Fens­ter­schei­ben klirr­ten, und große Trop­fen pras­sel­ten nie­der. Rosa sprang auf. »Mein ar­mer En­gel«, sprach sie vor sich hin. Sie muss­te zu ihm, es war stär­ker als sie. »Ein­mal will ich es noch bei mir ha­ben. Wer wird es wis­sen?« Sie schlich in ihre Kam­mer hin­auf, leg­te ih­ren Man­tel an und ver­barg ein Tuch und eine De­cke un­ter dem­sel­ben. Es war kein Un­recht, was sie vor­hat­te, aber die Böhk durf­te es nicht wis­sen. Als sie die Trep­pe hin­ab­stieg, stand die Heb­am­me im Flur und schi­en sie er­war­tet zu ha­ben. Sie mach­te ein erns­tes, stren­ges Ge­sicht und frag­te: »Wo­hin, lie­bes Fräu­lein?«

      »Ich woll­te hin­aus­ge­hen«, er­wi­der­te Rosa schüch­tern.

      »Blei­ben Sie lie­ber bei uns«, sag­te Frau Böhk, fass­te wie­der mit ih­ren ei­ser­nen Fin­gern Ro­sas Hand und führ­te sie in das Wohn­zim­mer. Dort nahm sie ihr Hut, Man­tel und die De­cke ab, ohne ein Wort zu spre­chen, als ver­stün­de sich al­les das von selbst. Die an­de­ren ka­men auch her­ein, um­stan­den Rosa und schau­ten sie ver­le­gen und er­staunt an, bis Frau Böhk drein­fuhr: »Was steht ihr? Nehmt et­was vor!«

      Sie durch­schau­ten sie alle, das fühl­te Rosa wohl. Frau Böhk muss­te es ih­nen ge­sagt ha­ben. Wie konn­te die­se es aber wis­sen? Und was hat­te Rosa denn tun wol­len? Sie schau­er­te in sich zu­sam­men, sie fürch­te­te sich vor sich selbst.

      »Ge­hen Sie zu Bett, lie­bes Kind«, riet Frau Böhk freund­lich, »Sie schla­fen heu­te bei Gre­the, das wird Ih­nen lie­ber sein.«

      »Ja. – Gute Nacht, Frau Böhk.«

      Als Rosa die Tür hin­ter sich schloss, hör­te sie noch, wie Frau Böhk zu der Leb sag­te: »Ich sah’s ja kom­men.« –

      Sechstes Kapitel

      Zum zwei­ten Mal stand Rosa rat­los vor ih­rem Le­ben. Nicht nur das schmerz­li­che Ver­mis­sen, nein, vor al­lem war es die voll­stän­di­ge Lee­re, die ihr jede Kraft raub­te. Sie konn­te in ih­rer Kam­mer oder im Wohn­zim­mer am Fens­ter sit­zen, auf die Wie­se oder auf den Hof hin­aus­schau­en, sie konn­te Frau Böhks Kran­ken­ge­schich­ten oder Herrn Böhks Lie­bes­ge­schich­ten an­hö­ren, konn­te mit Gre­the spa­zie­ren­ge­hen, um zu­zu­hö­ren, wie die Bur­schen und Mäd­chen un­ter den Bir­ken am Bach bis spät in die Nacht hin­ein Lie­bes­lie­der san­gen; es hat­te nur, mein­te sie, nicht den ge­rings­ten Zweck; sie war da­bei ganz un­nütz. Sie hät­te ihr Le­ben ge­wiss un­gern fort­ge­ge­ben, was sie je­doch mit ihm be­gin­nen soll­te, wuss­te sie nicht. Da dach­te sie an ih­ren al­ten Va­ter. »Ag­nes schrieb«, sag­te sie zur Heb­am­me, »Papa sei krank. Seit­dem habe ich kei­ne Nach­richt von ihm. Ich fürch­te, es steht schlecht.«

      »So wis­sen Sie’s schon?« rief Frau Böhk. »Ag­nes schrieb mir über den zwei­ten Schlag­an­fall des al­ten Herrn. Ich durf­te es Ih­nen nicht sa­gen, Sie nähr­ten das Kind.«

      »Oh, Frau Böhk! Sa­gen Sie’s nur; Papa lebt nicht mehr.«

      »Nein, wahr­haf­ti­ger Gott, da­von weiß ich nichts. Recht schlecht stand es um ihn, aber…«

      Rosa schüt­tel­te den Kopf. Es schi­en ihr ganz na­tür­lich, dass, wo­hin sich ihre Lie­be auch wand­te, der Tod ihr ent­ge­gen­trat. Selt­sam je­doch war es, wie mit der Über­zeu­gung, ihr Va­ter lebe nicht mehr, so­fort der Ge­dan­ke in ihr auf­tauch­te: »Wenn Papa auch tot ist, dann wird das Klei­ne dort – nicht mehr al­lein sein.« Die­se dunkle Vor­stel­lung ließ sie ru­hi­ger der Trau­er um ihre To­ten nach­hän­gen.

      Ei­nes Abends lang­te Ag­nes in Ti­glau an. Das schwar­ze Kleid, die schwar­ze Hau­be, die dem al­ten Ge­sicht et­was Frem­des ga­ben, die trä­nen­feuch­ten Au­gen, mit de­nen Ag­nes Rosa an­blick­te, ver­kün­de­ten deut­lich ge­nug, dass Rosa sich nicht ge­täuscht hat­te. »Ich weiß al­les; der arme Papa«, sag­te Rosa, als Ag­nes sie schluch­zend um­arm­te.

      Erst als sich bei­de im Gie­bel­stüb­chen zu Bett leg­ten, er­fuhr Rosa die Ein­zel­hei­ten über den Tod ih­res Va­ters.

      »Nach dem ers­ten Schlag­an­fall«, be­rich­te­te Ag­nes mit kla­gen­der Stim­me, »stand es schon sehr übel um dei­nen Papa. Er konn­te sei­ne Füße nicht ge­brau­chen, und sein Kopf, weißt du, war ganz schwach. Er ver­gaß im­mer wie­der, dass du nicht mehr bei uns bist. ›Wo ist die Rosa?‹ sag­te er ganz är­ger­lich. ›Es ist schon spät. Ag­nes, geh und hol sie.‹ Wenn ich’s nicht tat, zank­te er, wie er’s in ge­sun­den Ta­gen, weiß es Gott, nie tat. ›Wirst du nicht ge­hen?‹ sag­te er, ›wer ist hier der Herr? Wo­für wirst du be­zahlt?‹ End­lich wein­te er und klag­te: ›Weil ich ein Krüp­pel bin, glaubt ihr mich quä­len zu kön­nen.‹ Gott, Gott! Schwer ge­nug war die Zeit. Ich bin um zehn Jah­re äl­ter ge­wor­den. Nun – und ei­nes Mor­gens, wie ich ihn an­ge­klei­det habe und zu sei­nem Ses­sel füh­ren will, ver­dreht er die Au­gen und fällt rück­lings – der Schreck! Der Dok­tor kam, ließ ihm zur Ader – was weiß ich! Ge­nug ha­ben sie den al­ten Mann ge­quält. Aus dem Bett ist er nicht mehr ge­kom­men, aber das War­ten auf dich hör­te auf, denn er glaub­te, du seist da. Se­hen konn­te er nicht mehr recht; so sprach er denn im­mer mit dir. Was hat er dir in den letz­ten Ta­gen nicht al­les er­zählt! Er woll­te dich un­ter­hal­ten: ›Ro­sa – Kin­d‹, sag­te er, ›du lang­weilst dich. Hör, wie ich noch beim Thea­ter war‹, dann ka­men sei­ne gott­lo­sen Thea­ter­ge­schich­ten. Da­bei wur­de ihm das Spre­chen schwer. In sei­ner Brust koch­te es nur so. Heu­te vor acht Ta­gen lag er den Tag über wie in ei­ner Ohn­macht. Der Dok­tor sag­te, es geht zu Ende. Um zehn Uhr reg­te er sich, ver­lang­te zu trin­ken, frag­te: ›Wo ist Rosa?‹ – ›Das ist sie ja‹, sag­te ich; was soll­te ich denn sa­gen? – ›So – so‹, ant­wor­te­te er und er­zähl­te wie­der et­was; ich hab es nicht ver­stan­den, sei­ne Stim­me war so schwach. Wie er mit der Ge­schich­te zu Ende ist, sag­te er: ›Kind, warum lachst du nicht?‹ – ›Sie lacht ja‹, sag­te ich. ›Nein – nein!‹ jam­mer­te er. ›Sie lacht nicht; sie kennt die Ge­schich­te schon!‹ Das wa­ren sei­ne letz­ten Wor­te. Nach­her lag er


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