Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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      Sie war im Rech­te, und er hol­te es ihr aus der Tie­fe her­auf: er war nach Al­ters­hau­sen ge­kom­men und saß hier am Mai­en­born mit der Ver­gan­gen­heit auf der See­le, nicht bloß Lud­chen Bocks we­gen.

      Er hol­te es her­auf? Nein, es stieg nun her­auf im Son­nen­schein der Ju­gend, beim schö­nen Wet­ter des Er­den­le­bens, wo auch er noch da­bei­war, ganz und gar da­bei­war und ver­misst wor­den wäre wie sein to­tes Kind von der Mut­ter, wenn – er sei­nem Mäd­chen, sei­nem Wei­be, sei­nem Kin­de hät­te aus­blei­ben müs­sen im Son­nen­schein beim Spiel des Ta­ges.

      Nun aber trat ein Merk­wür­di­ges ein. Es blieb für Min­chen Ahrens nur das Süße, Lieb­li­che, La­chen­de über wie – ihm sel­ber! Sie wa­ren eben bei­de dem Rei­che, wo es nicht mehr aufs Er­den­wet­ter an­kam, sel­ber zu nahe. Was soll­te ih­nen da noch ver­schol­le­nes Leid? Von ver­blass­tem Men­schen­glück er­zähl­te Ge­heim­rat Feyer­abend der Kin­der­freun­din der­art, dass sie zu­letzt nur rief:

      »O, da hast du es gott­lob doch gut ge­trof­fen und gut ge­habt, Fritz! Ich woll­te wohl, ich wäre manch­mal da­bei­ge­we­sen, und dei­ne lie­be klei­ne Frau hät­te mich auch schon gern ha­ben sol­len!« –

      Nun ver­misch­ten sich den bei­den die Zei­ten mehr und mehr. Sie sah sich aus ih­rem heu­ti­gen Al­ter her­aus in sei­nem jun­gen Haus­halt als grei­se Kin­derm­uh­me, Kran­ken­wär­te­rin, Spin­ne­rin und Be­ra­te­rin am Fa­mi­li­e­nofen, bis es ihr ein­fiel und sie wie ver­wun­dert frag­te.

      »Ja, aber weißt du wohl, Fritz, als du dich ver­hei­ra­tet hast und nach­her, da bin ich ja auch noch jung ge­we­sen?!«

      Er nahm den Blick der Al­ten bei dem Wort noch in man­che stil­le Rei­seerin­ne­rungs­stun­de zu Hau­se hin­ein; aber rasch sank das lie­be Run­zel­ge­sicht am Mai­en­born nie­der, und das grei­se Haupt wur­de lei­se hin und her ge­wiegt.

      »Ja, ja, ja.«

      Dann sag­te Min­chen Ahrens, sei­ne Hand zum ers­ten Mal von sel­ber fas­send:

      »Nun möch­test du auch wohl von mir was Nä­he­res hö­ren, da du mir von dir, wie ich es gar nicht ver­lan­gen konn­te, so gü­tig und schön, und auch vom Trau­ri­gen Be­scheid ge­ge­ben hast, seit wir uns zu­letzt ge­se­hen ha­ben?«

      Sie horch­te mit der Hand hin­term Ohr am Ber­ge hin­auf:

      »Wie stil­le sich der Jun­ge hält! Sonst hört man ihn laut ge­nug; aber es wird im­mer noch die Scheu vor dir sein. Nu, für jede Es­sens­stun­de hat er sei­ne rich­tig­ge­hen­de Uhr im Lei­be; wenn es zu Mit­ta­ge geht, wird er schon kom­men, ohne dass man ihn zu ru­fen braucht, und bis da­hin reicht es wohl mit der Zeit für das biss­chen von mir, was ich er­lebt habe, seit wir uns zum letz­ten Male sa­hen. Aber Fritz, du bist schuld dran, wenn ich al­ter Kröp­pel mir jetzt so vor­kom­me, als kom­me ich eben aus der Mäd­chen­schu­le und als wäre auch beim Rek­tor Schus­ter die Schu­le aus und Lud­chen fass­te mich wie­der beim Zopf. Weißt du, sei­ne Scheu vor dir habe ich nicht mehr, wenn ich mir nur nicht zu dumm bei all die­sem großen Wun­der von heu­te Mor­gen vor­käme!«

      So wur­de ihm von dem Freun­de, den er, sie­ben­zig Jah­re alt, zu be­su­chen ge­kom­men war, er­zählt, und er hat­te vor kei­nem Lehr­stuhl sei­ner Lehr­jah­re nach­denk­li­cher ge­ses­sen als wie heu­te hier am Mai­en­born zu Al­ters­hau­sen.

      »Es ist gra­de, als wäre er von dem Un­glücks­baum da oben mir in die Arme ge­fal­len«, sag­te Min­chen Ahrens. »Ich weiß nicht mehr, wie ich sie mit mei­nem Ge­schrei her­ge­ru­fen habe; aber sie wa­ren bald da und scho­ben mich von ihm und tru­gen ihn zu sei­nen El­tern hin in die Stadt. Der Dok­tor ist auch gleich da­ge­we­sen und der Chir­ur­gus, aber was konn­ten sie tun als nur den Kopf schüt­teln? Und du, Fritz, warst auch noch kein be­rühm­ter Mensch und Arzt! Nach­her bin ich fürs ers­te nicht zu ihm ge­las­sen, und weißt du, da ich ihn jetzt bei sich zu Hau­se in der Pfle­ge wuss­te, hat­te ich auch gar kein Ver­lan­gen da­nach, und mei­ne Pup­pe war mir im­mer doch noch lie­ber als er; denn was gin­get alle ihr Jun­gens uns an, da ich kei­nen Bru­der hat­te. Er aber von euch al­len vom Rek­tor Schus­ter hat­te uns zu oft und zu arg ge­är­gert und ge­quält. Mich be­son­ders, wie ich mein­te. Ja, so lan­ge, bis sie sag­ten, dass er im Ster­ben lie­ge, habe ich nur ge­dacht: Das ge­schieht ihm recht! na, war­te du, wenn du ’raus­kommst und ich fürs ers­te dich mal zwin­gen kann! Aber so ging die Sa­che lei­der Got­tes nicht. Es wur­de lan­ge, lan­ge nie­mand von uns zu ihm ge­las­sen, und wir Kin­der stan­den nur und guck­ten nach dem Fens­ter, wo die Mut­ter Bock ein Bett­la­ken vor­ge­na­gelt hat­te, und sag­ten: Da­hin­ter liegt er! – Der Herr Rek­tor soll in sei­ner Schu­le sehr be­trübt um ihn ge­we­sen sein und ge­seuf­zet ha­ben: es wäre mit sein Bes­ter, wenn nicht sein Al­ler­bes­ter, ge­we­sen, und sie soll­ten alle mit ihm den lie­ben Gott bit­ten, dass sie ihn doch noch mal auf sei­nem Platz auf der Bank zu se­hen krieg­ten. Er soll manch­mal Trä­nen in den Au­gen ge­habt ha­ben, der gute alte Rek­tor, und hat ihn doch so viel hau­en müs­sen! Als gu­tes Bei­spiel hat er ihn nun­mehr auf­ge­stellt und ist tag­täg­lich hin­ge­gan­gen und hat an sei­nem Bett ge­ses­sen, so be­trübt um das Un­glück wie sein Va­ter und sei­ne Mut­ter. Wo­chen­lang hat die­ses ge­dau­ert, bis es auf ein­mal in der Stadt ge­hei­ßen hat, es sei als ein Wun­der an­zu­se­hen, aber Lud­chen Bock kom­me mit dem Le­ben da­von!… Fritz, ich lüge nicht, die fro­he Bot­schaft hat mir gar nichts ge­macht, und ich habe wei­ter nichts ge­dacht als. Nu, denn ist’s ja gut! – Sei­ne Mut­ter hat das Bett­la­ken vom Fens­ter wie­der ab­ge­nom­men, und am Fens­ter habe ich ihn mit sei­nem ver­bun­de­nen Kopf zum ers­ten Mal wie­der­ge­se­hen. An Mord­manns Brun­nen sind wir alle zu­sam­men­ge­we­sen, Jun­gens und Mäd­chens, und alle ha­ben ge­fragt: ›Hast du ihn ge­se­hen?‹ – Wä­rest du, Fritz, hier noch in Al­ters­hau­sen an­we­send ge­we­sen, so hät­te man dich als sei­nen bes­ten Freund ge­wiss zu­erst zu ihm ge­las­sen; aber das konn­te ja nun nicht sein. Es hat noch eine ziem­li­che Zeit ge­dau­ert, ehe ihn der Dok­tor ganz frei und un­ter sei­ne Kum­pa­ne zu­rück­ge­las­sen hat. Die ha­ben auch wohl gra­de so große Scheu ge­habt als wir Mäd­chen, wie er mit sei­nem ver­bun­de­nen Kop­fe auf der Bank vorm Hau­se saß, – du weißt ja, wie er war, und be­son­ders ge­gen uns aus der Mäd­chen­schu­le! Es wird wohl so sein müs­sen, viel an­ders bist auch du in dei­ner da­ma­li­gen Zeit ge­gen uns nicht ge­we­sen, Fritz. – Erst nach und nach rück­ten wir, die Jun­gens zu­erst, zu ihm auf die Bank vor sei­ner Haus­tür, und da er noch lan­ge nicht fes­te auf den Fü­ßen stand, scho­ben wir es dar­auf, dass er sich nun­mehr viel ge­dul­di­ger an­fas­sen ließ als vor sei­nem Fall vom Baum. In die Schu­le kam er fürs ers­te nicht, das woll­te der Dok­tor nicht; aber mit­spie­len durf­te er, und da ist es zu­erst her­aus­ge­kom­men, dass mit ihm nicht al­les in der rich­ti­gen Ord­nung war: er ist so wei­ner­lich ge­we­sen, und er hat sich zu uns Mäd­chen ge­hal­ten! Er blieb bei uns und un­se­ren Pup­pen un­ter der He­cke, und sei­nen Kum­pa­nen sah er nur wie angst­voll nach, wenn sie ihre wil­de Jagd an­fin­gen; sie küm­mer­ten sich auch bald gar nicht mehr um ihn: es sind ih­rer im­mer ge­nug für­ein­an­der ge­we­sen, zu un­se­rer Zeit wie heu­te. Mit dem Sich-um-ihn-Küm­mern ist es erst an­ders ge­wor­den, als der Dok­tor ge­sagt hat­te, dies­mal sei es noch merk­wür­di­ger­wei­se gut ab­ge­lau­fen, er kön­ne nun al­les wie­der mit­ma­chen, und als er da wie­der auf sei­nem Plat­ze beim Rek­tor Schus­ter saß… da wur­de es nach und nach klar, dass nicht al­les gut ab­ge­lau­fen war und dass nicht mehr al­les wie vor­her


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